ASIEN IN EUROPA

Die Pariser Siedlung "Les Olympiades" ist
die größte asiatische Gemeinde Europas

von Tamara Domentat

(Der Tagesspiegel, 21.08.1999)

Der buddhistische Tempel im Herzen von Chinatown ist ein verborgener und etwas skurriler Ort. Wer in die Tiefgarageneinfahrt neben dem Collège Flaubert an der Avenue d'Ivry blickt, entdeckt fünfzig Meter weiter eine Reihe roter Lampions. Sie weisen den Weg in einen fensterlosen Gebetsraum, der mit seinen etwa dreißig Quadratmetern auch als Gemeindezentrum dient. Hier driften Sandelholzschwaden um die Häupter drei goldener Buddha-Statuen und verlieren sich zwischen verblichenen Schriftrollen und Kisten mit Sojaöl. An einem Resopaltisch ist eine Männerrunde in ein Mahjongspiel vertieft. Drei alte Chinesinnen in bestickten Seidenjacken wandern gemächlich an den Zockern vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Die Tempelbesucherinnen schleppen prall gefüllte gelbe Plastiktüten mit dem roten Schriftzug "Tang Frères" zum Altar. Dort hinterlegen sie Vitamine für die Götter: Mangos, Lychees, rot-grüne Rambutanfrüchte, Papayas, Auberginen und Säcke mit Duftreis.

Die kulinarischen Opfergaben stammen aus einer vergleichsweise jungen Sehenswürdigkeit der multikulturellen Seine-Metropole: "Tang Frères". Der größte asiatische Supermarkt Europas befindet sich nur wenige Meter weiter auf einem Hinterhof an der Avenue d'Ivry. In seinem früheren Leben war er eine Lagerhalle der SNCF. Heute zieht "Tang Frères" mit seinen exotischen Direktimporten aus Fernost zahllose Stammkunden und immer mehr Touristen nach Chinatown. An den Wochenenden, wenn Kunden aus ganz Paris und der Provinz anreisen, um sich mit frischen Bambus-Sprossen [gemeint sind Mung-Sprossen, Anm. Dikigoros], hundertjährigen Eiern oder Sojakuchen aus Shanghai einzudecken, stauen sich die Autos bis zum Boulevard Périphérique.

Der Hindernislauf mit dem Einkaufswagen beginnt dann schon beim Reis und den Glasnudeln, deren Vielfalt allein drei Reihen des gigantischen Supermarktes füllt. Lang sind die Schlangen auch vor den gut bestückten Fisch- und Geflügeltheken, ratlos die Gesichter derjenigen, die vor einer Armada verschiedenster Kräuter, Gewürze, getrockneter Algen und Saucen Etiketten mit asiatischen Schriftzügen studieren. Manchmal suchen sie umsonst nach einer Übersetzung. In der Kühltruhe treffen zwei Welten aufeinander: Brioches mit Lotuswurzeln, Crêpes mit schwarzen Pilzen, Jakobsmuscheln mit Ingwersauce. Vor den Obst- und Gemüseständen kollidieren die Einkaufswagen wie Autoscooter auf einem Jahrmarkt. Ähnliche Szenen spielen sich vor den Pu-Erh-Tees ab. Da mutet es strategisch geschickt an, alles was verspricht, die Lebenskraft "Chi" zu stärken, direkt vor der Kasse zu platzieren, seien es Ginsengextrakte oder Pflaumenschnaps aus Japan.

Sind sämtliche Abteilungen des "Bauchs von Chinatown" durchwandert, so ist man reif für ein paar Appetithäppchen schräg gegenüber bei "Tang Gourmet". Eilige Esser stärken sich hier zum Beispiel mit "fan-ko" und "cha sin paotse", gedünsteten Shrimp-Croissants [gemeint ist "Kroepoek", Anm. Dikigoros] und Brioches mit knuspriger Schweinefleischfüllung - Dim Sum à la francaise. Der stets bevölkerte Imbissstand ist nur ein kleiner, weiterer Mosaikstein in der Erfolgsstory der Gebrüder Tang aus Laos. Mit dem Import von Sojasaucen legten sie 1976 den Grundstein für ein veritables Imperium aus Großhandel, Supermarkt- und Restaurantketten. Dank ihrer Geschäftskontakte und ihres politischen Einflusses in Ex-Indochina avancierten die mittlerweile reichsten Chinesen Europas zu hofierten VIPs bei Regierungsempfängen für Staatschefs aus Fernost.

Dass sich der Asphaltdschungel im 13. Arrondissement durch den asiatischen Input in ein pulsierendes, buntes Viertel verwandelte, führt man ebenfalls gern auf die kommerziellen Aktivitäten der arrivierten Musterimmigranten zurück. Am günstigen Feng Shui kann es wohl kaum gelegen haben, wenn das Quartier am südlichen Stadtrand von Paris nicht zu einem sozialen Brennpunkt wurde. Die weithin sichtbaren, gleichförmigen Fassaden klobiger Wohntürme namens Sapporo, Mexico, Athen und Helsinki verbreiten den rauhen Charme einer typischen Großsiedlung aus den siebziger Jahren. Zum Boulevard Masséna hin führen die Gleise eines verwaisten Güterbahnhofs in ein unterirdisches Nirgendwo und treffen auf Zufahrtswege zu Tiefgaragen, mit denen die Betonwüste großflächig untertunnelt ist. Rampen, Rolltreppen und Passagen zwischen verschiedenen Bereichen der Siedlung sorgen oberirdisch für Umwege, die im günstigsten Fall die Ortskenntnis erhöhen.

Am Ende führen jedoch alle Wege auf einen zentralen Innenhof, wo Pavillons in Pagodenform inmitten all der neuen Sachlichkeit fernöstliches Flair verbreiten. Hier, in der Siedlung "Les Olympiades", kreuzen sich die Wege der Reisbauern aus den Dörfern des ehemaligen Indochina und ihrer Enkel, die das Mekong-Delta bestenfalls aus dem Erdkundeunterricht kennen. Seit den späten siebziger Jahren schlägt hier, vor einem 360-Grad-Panorama aus Flachdächern, das Herz des asiatischen Paris.

Die erstaunliche Metamorphose dieses Viertels begann mit dem spektakulären Exodus der "Boat people". Nach dem Einmarsch nordvietnamesischer Truppen in Saigon und roter Khmer in Phnom Penh flohen Hunderttausende Vietnamesen, Kambodschaner, Laoten und Exilchinesen zunächst aufs offene Meer, bis sie durch Hilfsaktionen eine neue Heimat in Europa und den USA fanden. Etwa 20.000 Flüchtlinge landeten in "Les Olympiades". Auf einem Areal, das etwa so groß ist wie die Gärten der Tuilerien, entstand durch einen kontinuierlichen Zustrom von Einwanderern die größte asiatische Gemeinde Europas und das bedeutendste europäische Chinatown. Jeder sechste Bewohner des 13. Arrondissement ist heute asiatischer Herkunft.

Illegales Glücksspiel, Schutzgelderpressungen und frühkapitalistische Arbeitsbedingungen katapultierten die parallele Welt asiatischer Banken, Hotels und Einzelhändler immer wieder in die Negativschlagzeilen. Doch Polizeirazzien und Gewerkschaftsproteste verstärkten nur den Trend zu Diskretion und Abschottung innerhalb der asiatischen Diaspora. Anstatt auf Kontrolle setzt man heute auf friedliche Koexistenz und toleriert weitgehend die ungeschriebenen Gesetze dieser geschlossenen Gesellschaft, die Konflikte gern intern regelt und für Außenstehende nach wie vor geheimnisvoll und undurchsichtig wirkt. Nur zum chinesischen Neujahrsfest setzen sich Chinatown und seine neuen Großmandarine, die Inhaber der zahlreichen "Minority-owned businesses", sehr sichtbar in Szene, wenn Drachentänzer, Trommler und Schönheitsköniginnen auf Pferdewagen durch die Avenuen Choisy und Ivry ziehen.

Seit amerikanische und französische Reiseführer das Quartier als Attraktion erwähnen, finden immer mehr Reisende den Weg in das an Sehenswürdigkeiten eher arme 13. Arrondissement, sei es zu einer kulinarischen Entdeckungsreise oder einem fernöstlich inspirierten Shopping Trip. In dem Viereck zwischen Rue Nationale, Rue Tolbiac, Avenue Choisy und Boulevard Masséna beherrschen Blätterteigtaschen mit Durian- oder Kokosfüllung und barocke Torten mit asiatischen Schriftzeichen die Auslagen der Patisserien. In den Boutiquen hängen bedruckte Seidenblusen und taillierte Kleider im Geisha-Look, in den Schaufenstern der Imbissstuben gegrillte Tauben. Reformhäuser führen Akupressurgeräte und chinesische Kräutermischungen. Die Videotheken sind auf Liebesdramen, Samurai-Epen und Actionfilme mit raffinierten Kampfsport-Choreographien abonniert.

Dort, wo die Betonsilos besonders lange Schatten werfen, windet sich der Cash Flow durch das Einkaufszentrum "Les Olympiades", eine mehrgeschossige Kommerzmeile mit Bars, Restaurants, einer Bowlingbahn und spartanisch möblierten Vereinsräumen für Alphabetisierungsmaßnahmen. Hier pauken betagte "Boat people", die ihre Existenz in der neuen Heimat oft mit jahrzehntelanger Fronarbeit an Industrie-Nähmaschinen bezahlten, erstmals französische Vokabeln. [Das unterscheidet sie von anderer Immigranten, die gar nicht daran denken, die Sprache ihres neuen Heimatlandes zu erlernen, Anm. Dikigoros] Gegenüber, im Schnäppchenmarkt "Paris Store" wird wieder das Bruttosozialprodukt angekurbelt. In langen Reihen stapeln sich Plastikschalen und Schnellkochtöpfe neben abgeflachten Woks aus Gusseisen, Dämpfkörbchen, Teegeschirr aus hauchdünnem Porzellan, Jadefiguren und Sitzmöbeln aus Rattan. Im Einkaufszentrum "Les Olympiades" findet man auch einige der meistempfohlenen Restaurants von Chinatown. Entsprechend ihrer multinationalen Klientel bieten viele Lokale einen Mix regionaltypischer Spezialitäten aus Vietnam, Thailand, Kambodscha, Japan und den chinesischen Provinzen an. Als Geheimtip für gesundheitsbewußte Esser gelten vor allem die vietnamesischen Restaurants mit ihrer gemüse- und gewürzbetonten Küche, die im allgemeinen weniger fett ist als die chinesische und vielfach vom Aroma der braunen Fischsauce "Nuoc mam" lebt.

Mit einem großen "PHO"-Schriftzug an der Fensterscheibe werben zahlreiche schlichte Restaurants für das vietnamesische Nationalgericht, das in mächtigen Suppenschüsseln serviert wird. Volle Tische und fast ausnahmslos asiatische Gesichter dürfen als Indiz für die Qualität und authentische Zubereitung des pikanten Eintopfs betrachtet werden. In der Bouillon treiben Glasnudeln und hauchdünne Rindfleischstreifen, daneben steht ein Korb mit frischer Minze, Zitronenverbene, Soja-Sprossen, Zitrone, Chilischoten und Zwiebeln.

Im vergleichsweise feudal wirkenden Asia Palace nähert man sich kulinarisch wie gastronomisch französischen Verhältnissen an. Für ein repräsentatives Business Lunch am Nebentisch tranchiert der Kellner die oberen Fleischschichten einer Pekingente in etwa gleichgroße Rechtecke. Weder ein Tsing-Tao-Bier noch ein Kännchen Jasmintee begleitet die Ente auf ihrer letzten Reise, sondern ein Weißwein aus dem Loiretal. Und man wäre nicht in Frankreich, gäbe es keine festen Drei-Gang-Menüs sowie kalte Küchen zwischen 15 und 19 Uhr. Erst die auf Obst, Eis und "Nougat chinois" geschrumpfte Dessertkarte signalisiert das Ende des franko-asiatischen Melting Pots.

Längst hat der für Chinatown recht typische panasiatische Mix seine Kreise bis in die Haute Cuisine gezogen. Immer häufiger finden sich Ideen aus den Küchen von Chinatown auf den Tellern der Nobelrestaurants Buddha Bar, Blue Elephant, Asian oder Man Ray wieder - unter dem modischen Etikett "World Cuisine" und oft zu astronomischen Preisen. Weil sie arm an Kalorien, aber reich an Vitaminen, Aroma und Dekor ist, schien die südostasiatische Küche prädestiniert für eine Esskultur, die Ernährungswissenschaftler und Gourmets gleichermaßen begeistert. In den etwa hundert asiatischen Restaurants von Chinatown bleibt das gesunde Vergnügen jedoch bezahlbar. Fotokopierte Einträge aus dem Michelin oder Gault-Millau an den Innenseiten der Restaurantfenster bürgen für kreative Wertarbeit am Wok und weisen den Weg zu den Adressen, die sich nach Ansicht der namhaften Tester bewährt haben.

Als der von Gault und Millau zum "Koch des Jahres 1999" geadelte Guy Martin gefragt wurde, wo er selbst an seinen wenigen freien Abenden am liebsten essen gehe, empfahl er das "Chez Tang" im Einkaufszentrum "Les Olympiades". Zum einen, so begründete der Meisterkoch seine Wahl, kommen alle Zutaten frisch von einer hölzernen Frachtpalette des gleichnamigen Supermarktes. Zum anderen werden sie dort in delikate Gerichte verwandelt. Und an den Wochenenden, wenn asiatische Schlagersängerinnen auf Hochzeiten trällern und Geschäftsleute Karaoke-Wettkämpfe veranstalten, fühlt sich Guy Martin mitten in Paris einen Kontinent weit entfernt.


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