Mussolini: Die Legende vom gutartigen Faschisten

von Aram Mattioli (Süddeutsche, 30.03.2007)

Die Rotmaler: Wie sich die italienische Rechte seit dem Jahr
2001 die Erinnerung an Mussolinis Diktatur verschönert

Über Jahrzehnte beruhte die Legitimationsgrundlage der 1946 gegründeten Republik Italien auf der Überzeugung, dass die Italiener die Diktatur Benito Mussolinis aus eigener Kraft überwunden und das von den Deutschen besetzte Land mit der Waffe in der Hand befreit hätten. So war und ist die 1948 in Kraft gesetzte Verfassung ganz dem Geist des republikanischen Antifaschismus verpflichtet. Alljährlich setzen die Spitzen des Staates seither am italienischen Nationalfeiertag, dem "25 aprile", die Heldengeschichte des bewaffneten Widerstands in Szene. Im beginnenden Kalten Krieg war dieser Gründungsmythos das "Retourbillett" (Jens Petersen), mit dem Italien seine Rückkehr in den Kreis der Demokratien begründete. Doch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bekam der Resistenza-Mythos unübersehbare Risse. Der Korruptionsskandal, der die alte "partitocrazia" 1992/93 in sich zusammenbrechen ließ und mit ihm die bisherige politische Klasse von einem Tag auf den anderen wegspülte, nahm ihm einen weiteren Teil seines Glanzes.

Neue Forschungsergebnisse zeigten, dass sich im inneritalienischen Bürgerkrieg der Jahre 1943 bis 1945 auch die Antifaschisten Verbrechen hatten zuschulden lassen, im "Dreieck des Todes" zwischen Bologna, Reggio Emilia und Ravenna etwa, in dem sich über das Kriegsende hinaus wilde Abrechnungen gegen Faschisten ereigneten. Die Gunst der historischen Stunde nutzend, ritt die erstarkende Rechte immer schärfere Attacken gegen die durch die Resistenza geprägte politische Kultur des Landes.

Nachdem das von Silvio Berlusconi angeführte Bündnis aus Forza Italia, Alleanza Nazionale und Lega Nord, die sogenannte "Casa delle Libertà", die Wahlen von 2001 gewonnen hatte, ging es dazu über, die jüngste Vergangenheit des Landes neu zu kartographieren. Am Kabinettstisch nahmen nicht nur Politiker Platz, die ihre Karriere im neofaschistischen Movimento sociale italiano begonnen hatten, sondern mit Mirko Tremaglia, dem Minister für die Auslandsitaliener, erstmals auch ein bekennender Altfaschist, der als junger Mann noch mit der Waffe in der Hand für Mussolinis Kollaborationsregime gekämpft hatte.

Kochschürze mit Führer

Das Regime, so die Sprachregelung im Mitte-rechts-Lager, sei erst durch die antisemitischen "Rassengesetze" von 1938 und den Kriegseintritt an Hitlers Seite entgleist. Berlusconi bezeichnete das faschistische Regime 2003 als "gutartig" und begründete dies gegen alle Fakten mit dem Argument, dass der "Duce" und seine Schergen nie gemordet und die Antifaschisten bloß auf Inseln wie Ponza und Ventotene in die Ferien geschickt hätten. Als bei der Opposition ein Sturm der Empörung losbrach, weil die italienischen Faschisten bis 1945 insgesamt gegen eine Million Menschen ermordet haben, verteidigte sich der Regierungschef damit, dass er, als "italienischer Patriot", Mussolini lediglich vor einem unangemessenen Vergleich mit dem irakischen Massenmörder Saddam Hussein habe in Schutz nehmen wollen.

Diese Verharmlosungen besaßen System. Während eines Pressegesprächs gab der "Cavaliere" im Dezember 2005 erneut zu Protokoll, dass der Faschismus nie "kriminell" gewesen sei: "Es gab die fürchterlichen Rassengesetze, weil man den Krieg zusammen mit Hitler gewinnen wollte. Der Faschismus in Italien besitzt einigen Makel, aber nichts dem Nazismus oder Kommunismus Vergleichbares." Von einem Journalisten auf Paolo Di Canio, den Kapitän von Lazio Rom angesprochen, der die rechtsextremen Anhänger seines Vereins in einem Spiel gegen Juventus Turin zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mit dem "römischen Gruß" entzückt hatte, stritt Berlusconi ab, dass dieser Geste eine Bedeutung zukomme. Er lobte den Stürmer vielmehr als "guten Kerl". Diese Äußerungen waren umso unverständlicher, als es sich bei Di Canio um einen notorischen Mussolini-Verehrer handelt, der als Tätowierung das Wort "Dux" auf seinem rechten Unterarm trägt.

In jedem anderen westeuropäischen Land hätten Silvio Berlusconi diese Einschätzungen Amt und Würden gekostet. Dass er sich in Italien an der Macht halten konnte, erklärt sich unter anderem damit, dass sich in einem gar nicht so kleinen Teil der Öffentlichkeit ein allzu nachsichtiges "Duce"-Bild abgelagert hat, das sich als immun gegen die von der Forschung erarbeiteten Erkenntnisse zeigt. Mussolini ist unter anderem deshalb populär, weil er Italien angeblich Respekt in der Welt verschafft habe. Jedenfalls kann man an vielen italienischen Kiosken bis heute Mussolini-Kalender und an einigen Adriastränden auch Postkarten und Kochschürzen mit "Duce"-Porträts erstehen. Selbst Spitzenpolitiker und Intellektuelle meinen hin und wieder, an die angeblichen Verdienste des faschistischen Diktators erinnern zu müssen. So gab der frühere Staatspräsident Francesco Cossiga in einem Interview zu bedenken, dass das geeinte Italien seit 1861 nur vier wirkliche Staatsmänner hervorgebracht habe: den Staatsgründer Camillo Cavour, den liberalen Reformer Giovanni Giolitti in der Epoche des Ersten Weltkrieges, den DC-Politiker Alcide De Gasperi, der Italien nach dem Zweiten Weltkrieg als demokratische Republik wiederbegründete, und abgesehen vom Zerstörerischen in seinem Charakter und seinem Größenwahn, auch Benito Mussolini, weil dieser das Land in seiner Regierungszeit modernisiert habe.

Die einschlägige Badeanstalt

In der revisionistischen Geschichtspolitik der "Casa delle Libertà" war die Behauptung zentral, dass nicht der Nationalsozialismus und schon gar nicht der italienische Faschismus, sondern der Kommunismus das "unmenschlichste Unternehmen der Geschichte" gewesen sei. Als Antikommunist ohne Komplexe, wie er sich selbst gerne zu bezeichnen pflegt, hielt es Silvio Berlusconi für eine "moralische Pflicht" zunächst und vor allem die Erinnerung an die Verbrechen der kommunistischen Regime wachzuhalten. Am 27. Januar 2006, dem Gedenktag für die Opfer der Schoah, bezeichnete er den Massenmord am europäischen Judentum zwar als "Wahnsinn". Doch neben dem Nazismus habe es auch einen kommunistischen Totalitarismus gegeben, der weit mehr Opfer zu verantworten habe als Hitler-Deutschland. Eine moderne demokratische Nation könne sich lediglich dann wirklich antitotalitär nennen, wenn sie sich zur selben Zeit antifaschistischen und antikommunistischen Werten verpflichtet wisse, wurde Berlusconis Revisionismus in einer Internetzeitung von Forza Italia publikumswirksam umschrieben.

Wie ernst es dem Premier mit seinem antitotalitären Bekenntnis war, zeigte sich während des Wahlkampfes 2006. Um ein paar zusätzlicher Stimmen wegen schloss der Führer der "Casa delle Libertà" Bündnisse mit Parteien am neofaschistischen Rand des politischen Spektrums: mit der Alternativa Sociale von Alessandra Mussolini ("Besser Faschistin als schwul!") und der Fiamma tricolore von Luca Romagnoli. Seit seinem Einstieg in die Politik legte Silvio Berlusconi, der mit Forza Italia das Erbe der Democrazia Cristiana antreten wollte, keine Berührungsängste gegenüber der extremen Rechten an den Tag.

Undenkbar wäre im heutigen Deutschland, dass sich der Obersalzberg ähnlich wie Predappio, Mussolinis in der Romagna gelegene Geburtsstadt, zu einem Wallfahrtsort der extremen Rechten Europas entwickeln könnte. Nicht mehr möglich ist es in der Bundesrepublik Deutschland, dass Städte ehemalige NS-Politiker ehren, wie dies in dem von der "Casa delle Libertà" regierten Italien möglich war. So erhielt das Schwimmbad von Aquila den Namen von Adelchi Serena, der 1940/41 den Partito nazionale fascista als Generalsekretär geleitet hatte. In dem in der Nähe von Catania auf Sizilien gelegenen Dorf Tremestieri Etneo wurde eine Straße sogar nach Benito Mussolini benannt, während man an der Wand einer Volksschule von Palmanovo das aus der Diktatur stammende Motto "Glauben, gehorchen, kämpfen" restaurierte.

In Berlusconis schöner neuer Welt äußerte sich der Geschichtsrevisionismus in einer erstaunlich kohärenten Symbolpolitik. Während seiner Amtszeit zeigte der Premier dem Nationalfeiertag des "25 aprile" immer öfter die kalte Schulter. 2005, anlässlich des 60. Jahrestages der "Befreiung", ließ er sich an der zentralen Feier in Mailand, immerhin einem offiziellen Staatsakt, an dem Präsident Carlo Azeglio Ciampi mitwirkte, entschuldigen. Manche Minister und Politiker der Alleanza Nazionale suchen am "25 aprile", der bei ihnen als "rotes Fest" geächtet ist, seit jeher lieber die Gräber von faschistischen Milizionären der Repubblica Sociale Italiana auf.

Das selektive Gedächtnis

Nach dem Wahlsieg von 2001 wurde innerhalb der neuen Mitte-rechts-Mehrheit laut darüber nachgedacht, den Nationalfeiertag des 25. April in ein "Fest der Freiheit" gegen jede Form des Totalitarismus umzuwandeln. Den 25. April seines traditionellen Sinns zu entleeren, hätte mit Sicherheit Massenproteste ausgelöst, weil der Antifaschismus in den Mitte-links-Kreisen die Identitäten nach wie vor stark prägt. Deshalb entschied sich das rechte Regierungslager schließlich für einen anderen Weg. Durch die Kreation neuer Gedenktage sollte die Erinnerungslandschaft grundlegend umgestaltet und das Band zwischen Resistenza und Verfassung gelockert, wenn nicht gar gekappt werden.

Tatsächlich beschlossen die von der "Casa delle Libertà" beherrschten Kammern des italienischen Parlamentes, zwei neue Gedenktage einzuführen: den 10. Februar und den 9. November. Am 10. Februar 2005 wurde in Italien erstmals offiziell der 8000 Landsleute, die 1943 und 1945 von Tito-Partisanen ermordet wurden, und des Massenexodus von Italienern aus Istrien, Fiume und Dalmatien gedacht. Der Pariser Friedensvertrag hatte diese Gebiete 1947 Jugoslawien zugesprochen, worauf es bis 1954 rund 300 000 Italiener vorzogen, ihre alte Heimat zu verlassen. Mit dem fast oppositionslos beschlossenen "Giorno del Ricordo" fanden zum ersten Mal Ereignisse Eingang in Italiens offizielle Gedenkkultur, die während des Kalten Krieges den Neofaschisten als politische Munition gegen die Kommunisten, aber auch als nationalistische Kritik an den ersten Nachkriegsregierungen, die angeblich Teile des italienischen Staatsgebietes ausverkauft hätten, gedient hatten.

Tatsächlich ist der "25 aprile" seit 2001 zu einem Gedenkanlass unter vielen anderen herabgesunken.* In Berlusconis Amtszeit wurde Mussolinis Diktatur in Teilaspekten rehabilitiert und mit einigem Erfolg die These propagiert, nicht das nationalsozialistische Deutschland und schon gar nicht Mussolinis Italien, sondern die kommunistischen Diktaturen seien das "absolute Böse" gewesen. Die Geschichtspolitik der "Casa delle Libertà" spaltete das Land und entfernte die Bürger auch vom neuesten Stand des Wissens. So spielten die schweren Kriegsverbrechen, die das faschistische Italien in Libyen, Äthiopien, Jugoslawien, Griechenland und wohl auch in Russland beging, keine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Bezeichnenderweise verhallte der seit 2002 mehrfach vorgetragene Appell des Historikers Angelo Del Boca, einen Gedenktag für die 500.000 Toten der italienischen Kolonialherrschaft einzurichten, bis zum Wahlsieg von Romano Prodi ungehört.


*Anm. Dikigoros: Das hat er mit dem portugiesischen Staatsgedenktag gemeinsam, der an den 25. April 1974 erinnern soll, an dem eine kleine Clique verbrecherischer Subaltern-Offiziere gegen die Zivilregierung putschte und eine kommunistische Militärdiktatur errichtete, die das Land Jahrzehnte zurück warf.


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