JUGENDRICHTERIN KIRSTEN HEISIG

Das Ende der Geduld - Heisigs Buch als Vermächtnis

von Ulrich Kraetzer (Hamburger Abendblatt, 26. Juli 2010)

mit einer Nachbemerkung von N. Dikigoros

Berlin. Dieses Buch wird Diskussionen auslösen, und sie finden ohne die Autorin statt. Anfang Juli wurde die Leiche der Jugendrichterin Kirsten Heisig in einem Wald im Berliner Norden gefunden. Die Justizbehörden gehen von Suizid aus. Mit ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ wird Heisig jedoch über ihren Tod hinaus die Debatte um die Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland prägen.

Auf 206 Seiten beschreibt die einstige Jugendrichterin des Berliner Problembezirks Neukölln alltägliche und weniger alltägliche Fälle ihrer Berufspraxis. Fälle von unglaublicher Gewalt, von der völligen Verrohung der Sitten und der Empfindungen junger Menschen.

Und sie stellt Fragen, führt den beteiligten Institutionen ihr Scheitern vor Augen, ihre Machtlosigkeit und ihre Bequemlichkeit.

Warum zum Beispiel sehen Schulen und Schulämter, Jugendämter und Heimleiter zu, wenn Kinder über Jahre hinweg nicht im Klassenzimmer sind, sondern auf der Straße Handtaschen klauen, andere verprügeln oder gar vergewaltigen? Warum dauert es oft Monate oder sogar Jahre, bis ein 14- oder 15-Jähriger nach einer Straftat trotz eindeutiger Beweislage endlich vor dem Richter steht?

Warum zeigt sich der Staat bei jugendlichen Gewalttätern so oft machtlos, warum lässt er zu, dass viel zu viele Kinder sich und ihren Opfern die Chance auf eine würdige Teilhabe an unserer Gesellschaft verbauen? Das ist die Kernfrage des Vermächtnisses der Jugendrichterin Heisig.

Die Autorin erzählt von Schulen, Jugendämtern und Sozialeinrichtungen, die sich von den Lügen überforderter oder unwilliger Eltern an der Nase herum führen lassen. Sie fragt, warum sich die Zuständigen nicht austauschen und gegenseitig informieren. Darf der Datenschutz wirklich wichtiger sein als der Kinderschutz?

Sie berichtet von dem Mitarbeiter eines Kinderheimes, der es offenbar normal findet, dass seine Schützlinge immer wieder abhauen, um im Auftrag krimineller Großfamilien Drogen zu verkaufen. Darf es hier mit der obligatorischen Vermisstenanzeige wirklich getan sein?

In dem Buch kriegen viele ihr Fett weg: Freie Träger der Jugendhilfe zum Beispiel, denen es eher darum geht, möglichst viele „Fälle“ zu akquirieren und die ihr Geld deshalb lieber in Hochglanzprospekte mit schön formulierten Projektbeschreibungen investieren, als damit den Jugendlichen zu helfen. Oder die Führungsebene der Berliner Polizei, der es offenbar nicht passte, dass sie über Verfahrensverbesserungen direkt mit den Beamten aus dem örtlichen Abschnitt sprach statt mit den Funktionären im Präsidium.

Und: Heisig wettert gegen alle, die nichts tun, weil sich bei ihnen „sozialromantische Verblendung“ mit blanker Angst vor den Tätern paare.

Heisig kann sich die Kritik erlauben, denn ihr Arbeitsbereich beschränkte sich nicht auf ihren Gerichtssaal. Sie diskutierte mit „ihren Kunden“ im Jugendzentrum, organisierte Elternabende mit arabischen Kulturvereinen, traf sich mit Quartiersmanagern und Sozialarbeitern, hörte Schulleitern und Lehrern ebenso zu wie Integrationsexperten anderer europäischer Städte.

So wurde sie zur Expertin für Integrationsfragen, für Rechts- und Linksextremismus, für das Bildungssystem, die Suchtproblematik vieler Jugendlicher, Schleuserbanden und Drogenkriminalität.

Heisigs Sachkenntnis spürt man. Sie will die Hintergründe der teils unfassbaren Taten ergründen und so zu den richtigen Lösungen kommen. Populistische und am Kern der Probleme vorbei gehende Debatten streift sie – wie wohltuend – nur am Rande.

Höhere Strafen etwa würden nichts bringen, schreibt Heisig, die bestehenden Gesetze müssten nur klug angewandt werden. Das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen, sei ebenfalls nicht zielführend – kriminelle Clans würden dann nicht mehr 13-Jährige, sondern noch jüngere Kinder als Drogenkuriere missbrauchen.

Und die gern diskutierten Abschiebungen krimineller Migranten? Für Heisig ein „totes Gleis“, denn gerade die Mitglieder der zu Recht berüchtigten Familien-Clans seien oft staatenlos, Abschiebungen also gar nicht machbar, weil kein Land sie aufnehmen würde.

Heisig stellt nicht nur unbequeme Fragen, sie zeigt auch, dass man etwas tun kann. Mit ihrem „Neuköllner Modell“ hat sie es durch eine geschickte Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes zum Beispiel geschafft, dass Jugendliche bei kleineren Straftaten mit eindeutiger Beweislage nicht mehr nach mehreren Monaten oder gar Jahren vor dem Richter stehen, sondern schon nach wenigen Wochen.

Ginge es nach Kirsten Heisig, könnte man solche Verbesserungen in vielen Bereichen einrichten – zum Beispiel, wenn sich Schulen, Ämter, Polizei und Justiz besser austauschen würden.

Seit Montag nun ist „Das Ende der Geduld“ im Buchhandel. Richter, Staatsanwälte, Politiker, Behördenchefs, einfache Polizeibeamten oder Sozialarbeiter werden sich fragen müssen, warum sie einige der Vorschläge Kirsten Heisigs nicht längst umgesetzt haben. Die Debatte darüber, so schreibt Heisig selbst, könnte kontrovers, wahrscheinlich auch schmerzhaft sein. Heisigs Schlusssatz: „Deutschland wird sie aushalten und mich auch.“


Nachbemerkung
Frau Heisig hat sich nicht selber umgebracht. Dikigoros hat sie kurz persönlich kennen gelernt, bei einer jener "Fach"-Veranstaltungen, wie sie seit dem Regierungs-Umzug zunehmend in Berlin veranstaltet und von Juristen besucht werden, die noch irgendetwas von der Steuer absetzen müssen. Der "Fortbildungs"-Effekt war so hoch wie die Gespräche am Rande belangreich, mit anderen Worten... Aber zur Sache: Bei einem Glas Orangensaft klagte Dikigoros der Richterin sein Leid über den bisweilen frustierenden Beruf des Anwalt; und Frau Heisig klagte dem Anwalt ihr Leid über den bisweilen frustrierenden Beruf der Richterin, wobei sie einiges von dem zum Besten gab, was auch Gegenstand ihres Buches ist. (Insgeheim dachten beide wohl: "Die/der würde es nicht einen Tag in meinem Beruf aushalten, der so viel frustrierender ist als ihrer/seiner...") Kam ein Kollege mit Sektglas vorbei, der einen Teil der Unterhaltung mitbekommen hatte, und pflaumte sie an: "Wenn man Sie so jammern hört, könnte man ja meinen, am besten nähmen Sie einen Strick und machten Ihrem schrecklichen Dasein ein Ende!" Dikigoros wollte gerade anheben, ihm auseinander zu setzen, daß er dies auf keinen Fall mit einem Strick tun würde, sondern allenfalls mittels eines überpaceten 400-m-Laufs, da kam ihm Frau Heisig zuvor, indem sie kategorisch erklärte: "Das letzte, was ich täte, wäre Selbstmord zu begehen. Das könnte einigen so passen... aber die werden mich aushalten müssen!" (Letzteres offenbar ihre Lieblingswendung :-) Und Dikigoros hält das für durch und durch glaubhaft; Frau Heisig machte nicht den Eindruck einer Verzweifelten, die nicht mehr weiter weiß - ihren Frust hatte sie sich doch gerade erst weitgehend von der Seele geschrieben. Er ist jedenfalls überzeugt, daß Frau Heisig ermordet wurde, wahrscheinlich von Leuten, denen dieses Buch - dessen Inhalt ja in Auszügen längst bekannt war - mißfallen hat. Und er findet, daß es der Berliner Justiz zur Schande gereicht, daß sie die Akte Heisig mit der feigen Ausrede "Selbstmord" so einfach schließt.


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