Streit um neuen Gedenkstein in Jedwabne

Die jüdische Gemeinde Polens kritisiert die Inschrift

Die jüdische Gemeinde Polens hat gegen den neuen Gedenkstein, der in Jedwabne zum 60. Jahrestag des Pogroms aufgestellt werden soll, Einspruch erhoben. In der Inschrift werden die Täter - polnische Nachbarn - nicht genannt.

flü. Warschau, 8. Juni 2001

Zum 60. Jahrestag des Pogroms von Jedwabne soll in dem nordostpolnischen Dorf ein neuer Gedenkstein errichtet werden, der den jüngsten Erkenntnissen der Geschichtsforschung Rechnung trägt. Seit den frühen sechziger Jahren hatte die Inschrift verkündet, die Gestapo und die Hitler- Polizei hätten am 10. Juni 1941 1.600 Personen bei lebendigem Leib verbrannt. Diese Geschichtsfälschung des kommunistischen «Verbandes der Kämpfer für Freiheit und Demokratie», der den Gedenkstein 1962 aufgestellt hatte, liess sich nicht mehr halten, nachdem das Büchlein «Nachbarn» zum grössten intellektuellen Aufruhr in Polen seit dem Ende des Krieges geführt hatte. Der in die USA emigrierte polnische Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross kommt darin zum Schluss, dass nicht die Nationalsozialisten, sondern die polnische, katholische Dorfbevölkerung für den Tod von bis zu 1.600 Juden verantwortlich sei.

Nur die halbe Wahrheit

Die Rolle der deutschen Besatzer dabei ist umstritten. Gross schreibt, die Polen hätten ohne Druck von aussen gehandelt - allenfalls seien sie durch die Predigten des Dorfpriesters zu der Schandtat angestachelt worden; seine Gegner werfen ihm vor, er habe wesentliche Akten des NS-Dokumentationszentrums Ludwigsburg nicht in Betracht gezogen. Aus diesen soll die Teilnahme eines Nazi-Einsatzkommandos am Pogrom von Jedwabne hervorgehen. Unbestritten ist jedoch die Teilnahme von Polen am Pogrom. Der alte Gedenkstein wurde daher Mitte März entfernt. Seither versuchte der staatliche «Rat für das Gedenken des Kampfes und des Märtyrertums» mit allen betroffenen Kreisen, einen neuen Text zu entwerfen. Konsultiert wurde nicht nur der Rabbiner von Warschau und Lodz, sondern auch die Bevölkerung im Ort.

Der entworfene Kompromissvorschlag erinnert an die ermordeten Männer, Frauen und Kinder und endet mit einer «Warnung an die Nachgeborenen, damit sich die vom deutschen Nazismus entfachte Sünde des Hasses nie mehr gegen die Bewohner dieser Gegend richtet». Rabbi Michael Schudrich verwarf die Inschrift unmittelbar nach deren Vorstellung als nicht akzeptabel. Die jüdische Gemeinde sei zwar konsultiert worden; sie habe diesem Wortlaut aber nie zugestimmt, liess der Rabbiner von Warschau und Lodz vernehmen. Erneut werde der Eindruck erweckt, die Nazis seien die alleinigen Verantwortlichen. «Ich verstehe, dass die Wahrheit unangenehm ist, aber die Täter waren nun einmal die Nachbarn», meinte der bekannte jüdische Intellektuelle Konstanty Gebert und warnte davor, erneut nur die halbe Wahrheit zu nennen. Inzwischen haben sich auch jüdische Kreise aus den USA und die Familien jüdischer Überlebender aus Jedwabne in den Streit eingemischt. Selbst Staatspräsident Kwasniewski meinte kürzlich, er würde eine neue Inschrift begrüssen.

Weniger Opfer des Pogroms

Die inzwischen abgeschlossenen Exhumierungen in Jedwabne haben ergeben, dass wohl weit weniger Juden in Jedwabne umgekommen sind, als bisher angenommen wurde. Witold Kulesza, der Leiter der Ermittlungsabteilung des Instituts des nationalen Gedenkens, sprach von 150 bis 250 Opfern, unter ihnen Frauen und sogar Kleinkinder. Allerdings war die Exhumierung aufGrund religiöser Bedenken der jüdischen Gemeinde nicht zu Ende geführt worden. Auf dem alten Gedenkstein war von 1600 Opfern die Rede gewesen; auch Jan Tomasz Gross nennt in seinem Buch diese Zahl. Bei seinen Forschungen hatte er sich vor allem auf die Untersuchungen der Provinzstaatsanwaltschaft Lomza im Jahr 1949 gestützt. Damals waren Dutzende von Zeugen ausJedwabne einvernommen worden. Von 21 polnischen Angeklagten hatten in dem möglichst geheim gehaltenen Prozess 11 Haftstrafen von 8 bis15 Jahren für die Teilnahme an dem Pogrom erhalten, einer war zum Tode verurteilt worden.

Diese Zeugenaussagen bedürften einer erneuten Überprüfung, meinte Kulesza. Viele Skelette waren nämlich nicht dort gefunden worden, wo die Zeugen vor über 50 Jahren die Verscharrung der ermordeten Juden beobachtet haben wollen. So fand sich insbesondere die 1939 unter sowjetischer Besatzung errichtete Leninstatue nicht beim jüdischen Friedhof, sondern in der Scheune, in der die meisten Opfer bei lebendigem Leib verbrannt worden waren. Gefunden wurde andererseits Munition, was auf die Beteiligung eines NS- Einsatzkommandos schliessen lässt. Vieles deutet darauf hin, dass damit jene erschossen wurden, die versucht hatten, aus der brennenden Scheune zu fliehen.

 

9. Juni 2001

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