"ER WAR EINER VON UNS!"

von Constanze Stelzenmüller (DIE ZEIT 35/2000)

Ein baskischer Terrorist ist umgekommen. Seine Heimatstadt trägt ihn wie einen Märtyrer zu Grabe.

Markina. Am Sonntag vor dem Begräbnis von Francisco Rementería gehört Markina der Eta. Die ganze Stadt ist heute Kulisse für eine separatistische Totenmesse. Das blumengeschmückte Kästchen mit der Asche des Verstorbenen ist unter dem ausladenden Säulenvordach des Rathauses aufgebahrt. Darunter und in der engen Gasse drängeln sich Familie, Freunde und Anhänger; viele tragen im Arm die ikurriña, die grün-weiß-rote baskische Flagge, mit einer Trauerschleife in der Mitte. Den Journalisten von der "spanischen Presse" wird bedeutet, man könne "nicht für ihre Sicherheit garantieren", worauf diese den Ort sofort verlassen. Ausländer dagegen dürfen bleiben - auf persönliche Order von Arnaldo Otegi, Sprecher von Herri Batasuna, dem politischen Arm der Radikalen. Mitxel, ein Freund des Verstorbenen, erklärt: "Immer wenn wir ,Gora Euskadi' - es lebe das Baskenland - rufen, schreiben die Spanier, wir riefen ,Gora Eta' - es lebe die Eta." Minuten später recken Hunderte die linke Faust und skandieren ein Dutzend Mal: "Go-ra E-ta mi-li-tar-ra!"

Der verehrte Tote, Francisco Rementería, genannt "Patxi", war mit seinen 39 Jahren ein Veteran des bewaffneten Kampfes, einer der meistgesuchten Terroristen der Separatistenorganisation. 16 Attentate und vier Morde wirft die spanische Justiz ihm vor. Gewaltsam starb dann auch er selber: Am Abend des 7. August explodierte in Bilbao ein Renault mit gefälschten Nummernschildern, in dem Rementería zusammen mit weiteren Aktivisten Waffen und 30 Kilogramm Sprengstoff transportierte. So wuchtig war die Detonation, dass die Polizei erst nach mehrtägigen DNA-Analysen zum Schluss kam, dass nicht drei, sondern vier Personen in dem Wagen gesessen hatten. Da waren bis auf eine Woche 19 Jahre vergangen, seit der 20-jährige Patxi aus Markina seine erste Bombe an einem Elektrizitätswerk im benachbarten Fischerdorf Ondarrua befestigt hatte.

Ein echter eusko gudariak, ein baskischer Soldat eben, sagt José Maria, ein bulliger Rotblonder, Zeremonienmeister und ebenfalls alter Bekannter des Toten. Doch das Menschliche darf auch nicht fehlen: "Er war ein freundlicher Mann, alle mochten ihn." Es folgt der Blitzkatechismus für Nichtbasken: "Wir werden seit 500 Jahren von Spanien unterdrückt, unsere Gebiete in Navarra und Frankreich wurden uns genommen, man verwehrt uns das Selbstbestimmungsrecht, das man inzwischen selbst den Palästinensern zugesteht, und ..." - Und was ist mit der großen Mehrheit jener Basken, die keinen eigenen Staat wollen? "Ein Baske, der spanisch fühlt, kann sich ja frei bewegen." Das ist das Credo der Bewegung: Ein Baske ist ein Baske ist ein Baske, und der will mit anderen Basken unter sich sein. Ansonsten muss er weg. Freiwillig - oder anders.

Das nationalpopulistische Hochamt wird auf der Festwiese zelebriert. Auf einer Stellwand: die Stationen und Reliquien eines Märtyrerlebens. Patxi als scheu grinsender Teenager; mit einer Freundin; im kapverdischen "Exil", wohin ihn die französische Polizei deportieren ließ; der Mitgliedsausweis vom Fußballclub. Zwischen Volkstänzen singen die berühmtesten Sänger der Gegend vor ergriffenem Publikum improvisierte Lobesreime auf den Toten. Vom Tonband klingt die helle Stimme der in Frankreich inhaftierten Eta-Aktivistin Carmen Guisasola, sie liest ein Gedicht für Patxi. Einige kämpfen mit Tränen. José María und Otegi beschwören den gerechten Kampf gegen den spanischen Staat. Zwischendurch flitzt ein Kapuzenträger über die Bühne und hält ein Plakat mit dem Wahrzeichen der Eta empor, eine Axt (Gewalt), von einer Schlange (Schlauheit) umwunden: Jubel, frenetisches Klatschen. Zum Schluss marschiert der Tross - tausend Menschen mindestens - singend und flaggenschwingend um das Städtchen. Von den Bergen ringsum hallt es wider: GO-RA E-TA MI-LI-TAR-RA!

Nicht allen Bürgern Markinas gefällt diese Inszenierung. Schon gar nicht den Inhabern der öffentlichen Gewalt. Gewiss, dieses mittelalterliche 4800-Seelen-Städtchen im ländlichen Herzen des Baskenlandes fühlt seit jeher national, die "spanischen" Parteien hatten hier nie etwas zu melden. Dennoch hat Herri Batasuna nur vier Gemeinderäte, die restlichen sieben sowie den Bürgermeister Angel Kareaga stellen die gemäßigten baskischen Nationalisten. Die Mehrheit also - und die wollte weder Aufbahrung noch öffentliche Feierlichkeiten. "Aber", wie Kareaga später, als der Krach um Markina schon auf den Titelseiten der nationalen Presse prangte, bekannte: "Ich bin kein Held."

Am Ende sind alle Opfer. Besonders die Täter

Anlass des Streits war das apodiktische Ansinnen der vier radikalen Stadträte, die Gemeinde möge den Plenarsaal für die Aufbahrung der Urne zur Verfügung stellen. Anderenfalls ... Der Bürgermeister verweigerte sich der heroischen Option und gab den Raum frei. Immerhin: Die Forderung, die Stadt möge auch die Bestattungskosten tragen und den Verblichenen posthum zum Ehrenbürger machen, wies er zurück.

Die Quittung für dieses kleine, verzagte Aufbäumen folgte in der Nacht vor der Kundgebung. Kapuzentragende Jugendliche zerschlugen bei zwei Bankfilialen und der Post die Scheiben und warfen Brandsätze hinein. In San Sebastián und anderen Hochburgen der von der Eta-Jugendsektion Jarrai organisierten Straßengewalt ist das eine fast allnächtliche Begebenheit, die von Passanten mit wütender Ohnmacht registriert wird. Aber Markina, wo man schon mal die Handtasche im offenen Auto liegen lässt, hat das noch nicht erlebt.

Anderenfalls?

Wie ernst war die Drohung gegenüber dem Bürgermeister? Die Führung der baskischen Nationalistenpartei PNV, die sich im Übrigen strikt von Kareaga distanzierte, formuliert angesichts der öffentlichen Empörung diplomatisch: "Möglich, dass der Bürgermeister und seine Parteikollegen in der Überzeugung gehandelt haben, dies werde das Klima in der Gemeinde entspannen ... wir sind uns des Drucks und der Drohungen bewusst, die sie erlitten haben." Welcher Art diese Pressionen waren, wird nie bekannt. Der Bürgermeister taucht ab, die Stadträte lassen sich verleugnen.

In letzter Minute verbietet das oberste Gericht des Baskenlandes - angerufen von der PNV-Minderheitsregierung - die Aufbahrung im Plenarsaal von Markina. Wegen "Kompetenzüberschreitung". Am Sonntag, als die Trauernden zum Festakt schreiten, sind die Türen des Bürgerhauses - wie viele andere im Ort - verrammelt, innen wartet Polizei. Die Luft knistert. Draußen aber ist kein Ordnungshüter zu sehen. Auch nicht, als Otegi spricht, gegen den die Staatsanwaltschaft von Bilbao Haftbefehl wegen "Verherrlichung des Terrorismus" beantragt hat. Nur am blassen Abendhimmel kreist ein-, zwei-, dreimal ein Hubschrauber - und entschwindet.

Als es dunkelt, sammeln Busse auf dem Festplatz die Organisatoren und ihre Flaggen ein, andere bringen um die hundert, zumeist ältere Leute in die Nachbarorte zurück. Auch die gepiercte Jugend im Stadtguerilla-Einheitslook verzieht sich nach und nach. Doch die meisten haben nur ein paar Minuten zu gehen, um die Tür auf- und das Licht anzumachen. Sie sind hier zu Hause. In Markina.

"Wer nicht Baske ist", sagt María Rosa am Montagmorgen, "versteht unsere Gefühle nicht." Auch die Inhaberin der feinen Konditorei Tate an der Festwiese, blondiert und peitschenschlank, war bei der Kundgebung. Aber was ist mit den Verbrechen, deren Rementería und sein Kommando angeklagt sind? Der brutalen Hinrichtung des jungen Stadtrats Miguel Angel Blanco 1997, nach der Millionen Spanier in den Straßen demonstrierten: Basta ya, es reicht? Dem Polizisten, der 19 beim Abendspaziergang vor den Augen seines kleinen Sohnes niedergestreckt wurde? María Rosa hebt die Brauen: "Mir tut auch der Unternehmerführer Korta leid, den die Eta kürzlich erschoss, weil er nicht zahlen wollte. Aber Patxi war einer von hier, und deshalb geht uns das noch näher. Ist doch normal, oder?"

"Normal" ist ein relativer Begriff. Doch nach 41 Jahren als Geiseln des Terrors sind die Basken zu Meistern der Relativierung geworden. Von Verbrechen, Schuld und Verantwortung wagen nur wenige zu sprechen. Die anderen - an der Spitze die politische und religiöse Führerschaft der Nationalisten - reden von "Konflikt", "Gewalt", und "Dialog mit allen". Und am Ende sind irgendwie alle Opfer. Besonders die Täter.

Nicht dass es in Markina üblich wäre, in so schicksalhaften Kategorien zu denken. Wozu auch? In diesem friedlichen Städtchen hat man sich immer miteinander arrangiert. Selbst zu Zeiten des Generalísimo Franco war der äußerste Akt des Widerstands, zu dem man sich hinreißen ließ, der gelegentliche Besuch einer baskischen Messe in einer Scheune. Schließlich hat hier jeder sein Auskommen gefunden, oft schon im caserío, dem elterlichen Hof, oder in den weiten Gewandfalten der Kirche. Oder bei der Mörserfabrik La Esperanza, Lieferantin an alle Kriegsschauplätze der Dritten Welt, wo auch der Vater des kleinen Patxi beschäftigt war. Bis ein Arbeitsunfall - eine Sprengstoff-Fehlzündung - sein Leben beendete.

Sogar die harte Zeit vor 20 Jahren, als die baskische Werft- und Schwerindustrie in die Knie ging und auch La Esperanza dichtmachte, ließ sich überwinden. Man half sich unter Familien und Freunden. All das ist längst vergessen. Markina strahlt, das Bürgermeisteramt ist frisch renoviert, die Kirche auch, und auf dem Gelände der Fabrik haben High-Tech-Werkstätten aufgemacht. Arbeitslosigkeit? Nicht hier.

Es geht ihnen überhaupt gut, den Basken. Womöglich ist das ihr Problem. Denn die jüngste Generation der Eta ist mit dem Wohlstand aufgewachsen. Sie hat die moralischen Ambivalenzen ihrer Eltern, die mit den Separatisten sympathisieren, mit der Muttermilch aufgesogen. Sie vermag nicht zu unterscheiden zwischen der Repression einer Diktatur, die sie nur vom Hörensagen kennt, und der Härte der gegenwärtigen Madrider Polizeistrategie. Und - das graust die älteren, geläuterten Renegaten der Eta am meisten - die Nachrücker sind weit rücksichtslosere Killer. Zum perfekt gesetzten Genickschuss in einer spätabendlich gefüllten Bar gehört schon besondere Technik. Oder vielleicht nur ein totaler Mangel an Gefühl.

Die Sonne hängt bereits tief über Markina, als die Bürger am Montag zur Kirche Mariä Himmelfahrt hinaufströmen, um Francisco Rementerías Asche das letzte Geleit zu geben. Der mächtige Bau ist voll bis auf die letzte Bank, sogar auf der Orgelempore drängeln sich die Menschen. Und nicht einer, nein, neun Priester zelebrieren unter Weihrauchschwaden feierlich das Totenamt. Alles ohne ein Wort Spanisch, selbstverständlich, und getragen vom gewaltigen Gesang der Gemeinde.

Darunter sind Mitxel und José María. Nicht dabei ist der Karmeliterpater, der vor 30 Jahren diese beiden, Carmen und auch die Halbwaise Patxi heimlich in der Theorie und, wer weiß, auch der Praxis des radikalen Separatismus instruierte. Er ist inzwischen verheiratet und lebt in den Vereinigten Staaten. Für Mitxel und Carmen endete dieses Politseminar im Gefängnis, für Patxi Rementería im Tod.

Unter den Trauergästen sind solche, die am Sonntag auf der Wiese standen, und solche, die zur selben Zeit die Jalousien heruntergelassen und die Tür verriegelt hatten. Ein frommer Katholik ist darunter, der nun bitter bereut, dass er auf den Balkon getreten ist - und unter den Marschierern einige seiner liebsten Nachbarn erkannt hat. Und der sich ärgert, dass die nun als Erste die Heilige Kommunion nehmen.

Einige denken: Neun Priester? Manches Opfer der Eta ist einsamer zu Grabe getragen worden. Andere registrieren aufmerksam, dass der Onkel des Toten, Pfarrer in Ondarrua, die Messe zelebriert, aber es nicht über sich bringt, die Predigt zu halten. Sie vermerken, dass der Pfarrer von Markina, der für ihn einspringt, immer wieder von Vergebung spricht, wenn er "Schuld" meint. Sie wissen, dass auch er Angst hat. Und einer schämt sich, dass keiner von ihnen die Kraft hat zu sagen: "Wir begraben heute einen Mörder. Möge Gott ihm verzeihen."

Als der Gottesdienst vorüber ist, gehen einige zum Hauptportal hinaus und verabschieden sich von der trauernden Familie. Andere verschwinden schnell durch den Hintereingang. In Markina muss man weiter miteinander leben. Auch mit der Eta.


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