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Mutter kommt nicht mehr

Frank Keil-Behrens

Dass die Eltern verschwinden mögen, damit man mal Ruhe vor ihnen hat, ist ein beliebter und verständlicher Wunsch des heranwachsenden Menschen, der sich auf ein eigenes Leben freut. Doch tritt dies ein, ist man nicht unbedingt glücklich.

Wenn etwas die Vorstellungskraft Heranwachsender sprengt, dann ist es die Idee, ihre Eltern hätten Sex und das auch noch miteinander. Es will schlicht nicht zusammen passen, dass die beiden Personen, die einem unter viel Verzicht auf dem Weg vom Säugling über das Kleinkindalter hin zum Jugenddasein begleitet haben, parallel etwas praktizieren, dass sich dieser aufeinander aufbauenden Abfolge enthebt.

Entsprechend ist der heranwachsende Wouter zwischen Neugierde und Abscheu hin und her geschüttelt, als er Zeuge einer beginnenden erotischen Szene seiner Eltern wird. Er liegt - passend - im Bett, während sie im Hause unter ihm sich erst gedämpft unterhalten und dann ausgelassen kichern. Und auch wenn er sich Mühe gibt, nicht zu hören, was da im Schatten einer warmen Sommernacht gemurmelt und geflüstert wird, so kommt er doch nicht darum umhin, seiner Neugierde freien Lauf zu lassen. Ein Blick aus dem Fenster - heimlich, er will keinesfalls entdeckt werden und er will auch nicht, das seine Ambivalenz eine Richtung erhält - genügt: Engumschlungen schlendern Vater und Mutter in Richtung des Strandes und pflegen sich dabei anhaltend zu küssen. Noch dazu dürfte die Mutter in diesem Moment weder mit einem Slip noch mit einem BH bekleidet sein - wie Wouter am nächsten Morgen feststellen wird, liegen doch diese beide Kleidungsteile scheinbar achtlos im Wohnzimmer herum.

Denn die Eltern sind nicht wieder gekommen. Nicht zurück vom Strand und nicht zurück vom Meer, ist doch in dieser Nacht ganz in der Nähe auch ein Ruderboot verschwunden. Sie kommen auch nicht am Nachmittag zurück, nicht am Abend und auch nicht am nächsten Tag; so sehr Wouter auch wartet, während sein älterer Bruder Stijn bereits weiß, wie man derartigen Situationen entgegen treten sollte: in dem man sich auf das Schlimmste gefasst macht.

So dauert es denn nicht lange, bis die örtliche Polizei ihnen einen Plastikbeutel überreicht - mit Teilen der Kleidung des Vaters, der bald darauf auch angeschwemmt wird. Was ist geschehen in jener Nacht? Und warum? Und was hat es mit den Anrufen auf sich, wo sich ein Namenloser nach dem Vater erkundigt, der mit Bildern handelte? Wie auch sein Landsmann Maarten `t Hart verortet Robert Haasnoot seine Geschichten und Romane mit Vorliebe im evangelikalen Kosmos der ländlichen Niederlande. Die Erwachsenenwelt erhält so einmal mehr eine besondere Färbung. Sie ist nicht allein pädagogisch-profan für Erziehung und Bildung zuständig, sie ist direkter mit Himmel und Hölle verbunden; verknüpft mit Lust und Bestrafung und eng angesiedelt am Guten und Bösen, aus dem die Welt besteht, in die der junge Mensch hinein drängt. Und so ist es denn auch das kirchliche Personal, das die Leerstelle der Eltern zu besetzen sucht: der Pfarrer, der bei der Beerdigung des Vaters warnend-dunkle Worte spricht; die streng gläubige Tante, die sich um die beiden Jungen kümmern wird und ihren Idealen gemäss mit Argusaugen betrachtet, was geschieht. Denn während Wouter als ohnehin hypersensibler und entsprechend von Migräne geplagter Feingeist mühsam um Orientierung ringt, bezieht Stijn bald das elterliche Schlafzimmer. Und es dauert auch nicht lange, bis ein Mädchen mit ins Hause einzieht und eine Art neues Familienleben beginnt, während Wouter bei seinen delierenden Spaziergängen am Meer seiner Mutter begegnet und sich das Rätsel eines Bildes klärt.

Das alles erzählt Haasnoot ergreifend unaufgeregt, mit Blick auf alltägliche Details und kleinste Wahrnehmungsschritte. Bald steigt man ein in ein ganz besonderes Pubertätsdrama, das nicht mit plakativen Konflikten nervt. Statt dessen entwirft sich Satz für Satz eine intensive und daher brüchige, aber um Zusammenhalt bemühte Welt zweier Jungen, die am Anfang eines neuen Lebens stehen, während das alte sich noch nicht endgültig zurück gezogen hat und als Erinnertes gegenwärtig bleiben wird. Nicht unbedingt klüger im akademischen Sinne ist der erwachsene Leser geworden, aber in jedem Fall aufgeweckter, sensibilisierter und erhellter - und dies dank eines schmalem, aber (deshalb?) gewichtigen Romans, der - man verzeihe die Hilflosigkeit der Worte - einfach schön geschrieben ist. Und ganz nebenbei - wie, wird nicht verraten - erzählt „Steinkind“ noch dazu von der heilsamen Kraft der Kunst, die helfen kann das Leben zu bewältigen, nimmt man die in ihr liegenden Mittel, sich das Geschehene noch einmal mehr zu spiegeln, auf dass es als etwas Fremdes und damit Handhabbares uns hilfreich gegenüber steht.

Robert Haasnoot: Steinkind. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Berlin Verlag, Berlin 2005.



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