Studien Boris Körkel: Literaturwissenschaft



Rainer Maria Rilke – Briefe über Cézanne
Künstlerische Wahrheit als produzierte Wirklichkeit
Boris Körkel, Sommer 1999

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Diese Arbeit liegt mittlerweile auch als Privatdruck vor, der zum Selbstkostenpreis über Lulu.com bezogen werden kann:

Rainer Maria Rilke - Briefe über Cézanne
Künstlerische Wahrheit als produzierte Wirklichkeit
Sigmaringendorf 2006


"Wenn einer so unmittelbar denken könnte wie Cézanne malte."
Martin Heidegger*

Einleitung

Rainer Maria Rilkes Brieffolge "Briefe über Cézanne", die Götz Adriani zufolge "zum Schönsten gehört, was je über den Künstler zu Papier gebracht wurde"*, kann grundsätzlich v. a. unter drei Fragestellungen betrachtet werden: Erstens kann die Aufmerksamkeit auf Rilkes Interpretation des cézanneschen Werks gerichtet werden, zweitens auf den Einfluss dieser Erfahrung auf Rilkes dichterisches Werk und drittens auf mögliche Analogien zwischen den Werken beider. In der vorliegenden Arbeit sollen im Grunde alle drei Perspektiven miteinander verbunden werden, wobei der Blickwinkel durchgehend ein literaturwissenschaftlicher und kein kunsthistorischer ist. Deswegen bleiben Fragen nach der Richtigkeit oder Angemessenheit von Rilkes Interpretationen der Gemälde weitgehend ausgeblendet. Es geht hier vor allem um jene Einsichten, die Rilke in den Briefen als Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Werk ausgibt. Rilke fühlt in der Ausstellung mitten unter den Gemälden stehend,

"ihre Gegenwart sich zusammentun zu einer kolossalen Wirklichkeit. Als ob diese Farbe einem die Unentschlossenheit abnähmen ein für allemal."*

Die Interpretation der Kunstwerke ist durchgehend von "privaten Gesichtspunkten" bestimmt; Rilkes Versuch, über Cézanne zu schreiben ist somit niemals objektive Interpretation, sondern immer Zeugnis vom Einfluss des Werks auf den Dichter. Dieser Einfluss ist nicht anders als durch eine Analogie zwischen den Werken beider zu erklären:

"Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte oder doch irgendwie nahe an sie herangekommen war [...]."*

Wegen dieser Übereinstimmung muss eine umfassende Untersuchung der "Briefe über Cézanne" alle drei oben genannten Perspektiven berücksichtigen. Rilke erkennt in den Bildern des Malers eine besondere künstlerische Wahrheit, deren Grund er in Cézannes Arbeitsprozess gelegen sieht. In dessen Beschreibung gelangt Rilke zu der Einsicht, dass in ihm die Produktion einer autonomen Wirklichkeit des Kunstwerks gelinge, in welcher die Wirklichkeit in ihre malerischen Äquivalente übersetzt ist. Diese Einsicht kann Rilke auf sein eigenes dichterisches Schaffen beziehen, so dass die "Briefe über Cézanne" insgesamt – nach Form und Inhalt – ein Ort der Selbstreflexion am anderen Medium sind.

In der vorliegenden Arbeit werden die "Briefe über Cézanne" nach formalen Gesichtspunkten als "genetische" Texte untersucht, insofern sie einen Erfahrungsraum dichterischen Erkenntniszugewinns konstituieren. Nach inhaltlichen Gesichtspunkten wird Rilkes Theorem von der produktiven Einbildungskraft mit seinen Implikationen von "neuem Sehen" und Sachlichkeit sowie unter dem Aspekt seiner Voraussetzungen in Sprachskepsis und Naturverständnis untersucht. Inhalt und Form stimmen insofern überein, dass die künstlerischen wie die dichterischen Ausdrucksmittel für sich erkenntniskonstitutiv sind und in beiden Fällen eine Absage an das erteilt wird, was vor dem Werk als Intention vorhanden sei.

Rilkes Verhältnis zur bildenden Kunst ist wiederholt Gegenstand der Rilke-Forschung gewesen; eine erschöpfende Darstellung der Literatur kann kaum noch gelingen. Die Literatur über Rilkes Rodin-Aufsatz hat in jüngster Zeit vor allem durch die Monographie von Michaela Kopp und durch die Darstellung von Georg Braungart neue Antriebe erfahren*. Als grundlegende Untersuchung zu Rilkes Cézanne-Erlebnis können noch immer Hermann Meyers Aufsatz von 1954 sowie ein Kapitel der Studie von Kenneth A. J. Batterby, "Rilke and France" gelten; an neueren Untersuchungen sind die Aufsätze von Jacques le Rider und Hella Montavon-Bockemühl zu nennen; Letztere betont v. a., dass Rilke in den Werken des Malers Zusammenklänge mit seinem eigenen Werk erfahren habe. Heide Eilert sowie Karl E. Webb haben in ihren Aufsätzen die kontinuierliche Wendung von Rilkes kunstkritischen Schriften erarbeitet; Eilert betont außerdem einen Zusammenhang mit seinen sprachskeptischen Positionen. Einen umfassenden Überblick zu Rilkes Verhältnis zur bildenden Kunst gibt Boehm in der Einführung zum Insel-Almanach von 1987; derselbe hat zum Verständnis der Malerei Cézannes und zur Theorie des Kunsttheoretikers Konrad Fiedler unersetzliche Beiträge geleistet. Dominique Jehl hat sich mit Rilkes Verhältnis zur französischen Malerei nach Cézanne befasst, was in dieser Arbeit weitgehend ausgeklammert bleiben muss. Weit über die "Briefe über Cézanne" hinaus gehen die Gedanken von Richard Exner über Rilkes "Sprache der Fische"; hier wird dessen Bemühen um das Unsagbare in großer Anschaulichkeit geschildert. Ebenfalls aufschlussreich zum Verständnis von Rilkes mittlerer Schaffensperiode ist Ulrich Fülleborns Aufsatz "Rilke, 1906 bis 1910: Ein Durchbruch zur Moderne". Zuletzt ist noch die Arbeit von Konstantin Imm zu nennen, in welcher eine Intextanalyse und der Nachweis für die Narrativität der "Briefe" erbracht wird sowie die umfangreiche Darstellung v. a. der Intentionen und Erkenntnisvoraussetzungen der "Briefe über Cézanne", welche Ralph Köhnen gelungen ist*.

Hauptteil

Dichterische Selbstvergewisserung in Briefen

Biographischer Rahmen

Am Morgen des 31. Mai 1907 kehrt Rilke von einer langen Reise nach Paris zurück*, wo er mit Unterbrechungen seit August 1902 gelebt hatte. Damals war er mit dem Auftrag, eine Monographie über den französischen Bildhauer Auguste Rodin zu schreiben, nach Paris gekommen. Zu Rodin hat sich recht bald ein enges Verhältnis entwickelt, ab Herbst 1905 ist Rilke dessen Sekretär, doch im Frühjahr des folgenden Jahres kommt es zum Zerwürfnis, woraufhin Rilke die Stadt verlässt*.

Im Oktober 1907 werden im Salon d�Automne 49 Gemälde und sieben Aquarelle des im Jahr zuvor verstorbenen Malers Paul Cézanne gezeigt; Rilke besucht die Ausstellung beinahe täglich und berichtet seiner Frau Clara in Briefen von den neu gewonnenen "Erfahrungen an Cézanne"*. Wie die Begegnung mit Rodin hat auch das Erlebnis der Bilder des Malers auf Rilkes Entwicklung als Dichter eine nachhaltige Wirkung. Rilke resümiert 1924 in einem Brief:

"als das stärkste Vorbild stand, seit 1906, das Werk eines Malers vor mir, Paul Cézannes, dem ich dann, nach dem Tode des Meisters, auf allen Spuren nachging."*

Aus diesem Zitat geht hervor, dass die Begegnung mit Cézannes Werk im Herbstsalon nur den fulminanten Höhepunkt einer bereits länger währenden Kenntnisnahme darstellt*. Der größte Teil der "Briefe über Cézanne" ist, wie im Folgenden gezeigt wird, in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Ausstellungserlebnis entstanden.

Die "Briefe über Cézanne" als dichterisches Werk

Bei den "Briefen über Cézanne" handelt es sich nicht um ein von Rilke autorisiertes Werk. Er habe aber, wie Clara in einer kurzen Vorrede zur Ausgabe von 1952 versichert, stets gewünscht, diese Briefe, die für ihn selbst eine wichtige Arbeit dargestellt hätten, in einer Ausgabe vereinigt zu sehen*. Die Sammlung des Insel-Verlags, "Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne"*, kumuliert "Briefstellen"* aus 31 Briefen Rilkes an seine Frau unter einem Titel, der sie dem umfassenden Thema �Cézanne� zuweist. Unterstrichen wird dies durch die Beigabe von 17 Bildtafeln von Werken des Malers Cézanne – demgegenüber bleiben etwa van Goghs Gemälde oder Bilder aus dem Louvre unberücksichtigt, obgleich auch sie Gegenstand einzelner Briefe sind. Verständnis und Interpretation sind durch derartige editorische Maßgaben von vornherein in bestimmte Bahnen geleitet. Hier sollen die Editionsprinzipien nicht im Einzelnen erörtert werden; durch Hinzuziehen der zugrundeliegenden Edition der Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907, die 1930, also drei Jahre nach Rilkes Tod, erschienen ist, kann jedoch ein Beitrag zu einem differenzierteren Verständnis der Briefe im Zusammenhang des gesamten Ehebriefwechsels geleistet werden. Hier lag das selbe Textmaterial neben anderen Briefen und noch ohne inhaltliche Restriktionen zusammengestellt erstmals vor*.

Aufnahme in die Edition von 1952 haben Abschnitte aus Briefen gefunden, von welchen der erste auf den 3. Juni und der letzte auf den 4. November 1907 datieren. Ein Zusammenhang besteht allein schon, weil alle Briefe mit Ausnahme der beiden letzten in Paris und dort zunächst im Hôtel du Quai Voltaire, dann in der rue Cassette, verfasst sind. Ein Blick auf die übrige Korrespondenz an Clara aus dem gleichen Zeitraum, die nur in der Edition von 1930 enthalten ist, macht deutlich, dass die Edition der "Briefe über Cézanne" nur eine thematisch bedingte Auswahl und keine geschlossene Briefreihe darstellt, da aus der gleichen Zeitspanne weitere 29 Briefe an Clara bekannt sind; zudem sind in beiden Editionen Textabschnitte, die nicht als zugehörig empfunden wurden, nicht berücksichtigt, wobei die editorischen Prinzipien der Briefsammlung von 1930 die spätere Edition mitbestimmt haben; sie werden aus dem Vorwort der Herausgeber ersichtlich:

"So kommt es, daß man nur bei den Briefen an ihm Nahestehende innerhalb des Briefes trennen kann und darf: in das, was zum Werk gehört, und das, was innerhalb der menschlichen Beziehungen immer schön, ins Licht des Tages gestellt, aber zur Entweihung wird. [...] Aus dem übrigen Material wurde ausgewählt, was zum Werk in engster Fassung des Begriffes gehört. Weggelassen wurde alles, was unmittelbar die Beziehung zwischen Briefschreiber und Empfänger ausdrückt."*

Aus welchem Zeitraum am meisten Briefe aufgenommen wurden, verdeutlicht eine Synopse beider Editionen.* Die Briefe aus dem Zeitraum zwischen dem 29. September und dem 25. Oktober 1907 sind als Kern der "Briefe über Cézanne" anzusehen, da von den hier beinahe täglich entstandenen Briefen mit Ausnahme eines einzigen alle in die spätere Edition übernommen werden konnten*. Außerdem sind sie sowohl an der Textoberfläche durch zahllose Textverknüpfungsmittel wie Rekurrenz, anaphorischen oder kataphorischen Verweis verbunden, als auch nach inhaltlichen und außersprachlichen Gesichtspunkten weitgehend kohärent. Zu einer Art wiederkehrenden Leitmotivs wird etwa ab dem Brief vom 2. Oktober der Regen, welcher, wie Rilke am 6. Oktober schreibt, als Muster gelten kann; das Motiv ist auch im Malte-Roman im gleichen inhaltlichen Kontext enthalten, wenn es dem Protagonisten "in die Augen" regnet.*

Aus dem Zeitraum vor dem 29. September fanden nur fünf Briefe Aufnahme in die Briefreihe, während die beiden letzten Briefe inhaltlich dazu gehören und nur insofern eine Sonderrolle spielen, als sie nicht mehr in Paris, sondern in Prag verfasst wurden.

Im engeren Sinne sind erst die Briefe ab dem 6. Oktober 1907 wirklich "Briefe über Cézanne", da von da an Rilkes Erlebnis des Salon d�Automne und damit die Reflexionen über die Bilder Cézannes beginnt*. Die Schließung des Salons ist dagegen kein wesentlicher Eckpunkt der Brieffolge, da die Beschäftigung mit dem cézanneschen Werk danach andauert.

Besonders die Briefe der zwei Wochen vom 6. bis zum 20. Oktober sind wohl als geschlossene Einheit konzipiert und durch jeweils einen Gang durch das alte Adelsviertel des Faubourg Saint-Germain eingerahmt*. Die editorische Entscheidung der Herausgeber, auch jene vorangehenden und späteren Briefe zu den "Briefen über Cézanne" zu rechnen, ist vor allem aus inhaltlichen Gründen zu befürworten, wie sich aus der folgenden Untersuchung erweisen wird.

Form als Genesis

Rilkes letztwillige Verfügung enthält eine Klausel, die oftmals zur Einordnung des Briefwerks in den Gesamtzusammenhang seines dichterischen Werks herangezogen wird:

"Da ich, von gewissen Jahren ab, einen Teil der Ergiebigkeit meiner Natur gelegentlich in Briefe zu leiten pflegte, steht der Veröffentlichung meiner [...] Korrespondenz [...] nichts im Wege."*

Indem Rilke Briefe als Sammelbecken eines Teils der "Ergiebigkeit seiner Natur" ausweist, beinhaltet diese etwas vage Formulierung eine Aussage über die Grundqualität von seinen Briefen, die vielfache Deutungen zulässt. In Rilkes gesamtem Briefwerk können verschiedene Ausprägungen der nichtfiktiven Briefe unterschieden werden; insgesamt ist hauptsächlich zu unterscheiden einerseits zwischen solchen mit eher dialogischem und solchen mit eher monologischem Charakter sowie zwischen solchen, bei denen eine mitteilende Funktion und anderen, bei denen eher eine kognitive bzw. gedankenkonstitutive Funktion überwiegt. Rilkes "Briefe über Cézanne" sind – das sei als These vorangestellt – eher monologisch und eher gedankenkonstitutiv und haben Ähnlichkeit mit den Gattungen �Tagebuch� sowie �Essay�. Für sie gilt nämlich, um zum Diktum der letztwilligen Verfügung zurückzukehren, dass sich Rilkes "Natur" erst und gerade im Schreiben der Briefe verwirklichen und weiterentwickeln konnte und nicht vorgängig als Resultat vorhanden gewesen ist, das im Brief nur noch einer sprachlichen Einkleidung bedürft hätte.

Briefe stellen für Rilke Tag für Tag einen Ort der Gedankenentfaltung und –weiterführung dar, so dass der jeweilige Gedanke, wie Rilke am 15. Oktober feststellt, mehr als "provisorische, persönliche Einsicht, denn als Tatsache" zu gelten hat*.

Ein derartiges prozessuales Verständnis von Briefen als dem Denken im Vollzug des Schreibens förderliche Textform, steht im Gegensatz zu der weit verbreiteten Ansicht vom defizitären Charakter der Briefform, die im Folgenden exemplifiziert werden soll. Luise Rinser hat 1975 die funktionale Grundqualität des Briefs als "Monolog, der ein Dialog sein will", gekennzeichnet*. Eine derartige Auffassung von Briefen als Mittel des schriftlichen Gesprächsersatzes hat Teil an der langen Tradition der Privilegierung des gesprochenen vor dem geschriebenen Wort, in deren Folge bedeutsame Charakteristika von Schriftlichkeit und folglich auch von Briefen verkannt blieben. In prägnanter Weise hat diese Auffassung bereits 1775 Christoph Martin Wieland formuliert:

"Mündlich zu sagen, wäre etwas anderes. Wenn es anginge! Da kann man sich in einer Viertelstunde besser gegeneinander expliciren, als durch Briefe in vier Monaten."*

Solche Aussagen können für Rilkes Briefe nicht gelten. Ein Brief hat bei ihm nicht allein propositionalen Charakter und ist nicht bloß defizitärer Ersatz für verhinderte mündliche Kommunikation*, sondern er befriedigt über ein solches dialogisches Verständnis und über bloße Mitteilung hinausgehend das monologische Interesse des Briefschreibers an reflektierender Verschriftlichung seines eigenen Ichs.

Die Unterscheidung zwischen "monologischer" und "dialogischer" Form des Briefs geschieht hier in Anschluss an Hillard*. Zu einer weiteren Differenzierung gelangt Belke, der (sensu Bühler) zwischen Briefen unterscheidet, bei denen jeweils entweder die partnerbezogene (appellativer Brief), die sachbezogene (Mitteilungsbrief) oder die autorenbezogene (Bekenntnisbrief) Funktion überwiegt*. In der vorliegenden Arbeit wird im Sinne der jüngeren kognitivistischen Schreibforschung*, die zum besseren Verständnis der "Briefe über Cézanne" beitragen kann, nur zwischen der Mitteilungsfunktion (bzw. Darstellungsfunktion) und der kognitiven (erkenntniskonstituierenden) Funktion von Sprache (sensu Humboldt, Wittgenstein, Carnap) unterschieden, wobei unter "Mitteilungsfunktion" nicht allein Bühlers "Symbolfunktion"*, sondern jede Art kommunikativer Funktion von Sprache verstanden wird. Für die literaturwissenschaftliche Briefforschung erkannte Bürgel in seiner Studie über das "Wesen des Alltagsbriefs" als Erster eine kognitive Funktion des Briefschreibens, wenn er unter psychologisch-anthropologischem Blickwinkel die Funktion der "seelischen Entlastung" des Briefs für den Briefschreiber feststellt. Diese hänge v. a. mit dem für den Brief typischen verlangsamten und vermittelten Gesprächscharakter zusammen*. Zu ähnlichen Einsichten gelangt die Schreibforschung, die ein Charakteristikum des Schreibens in der "Überwindung der Flüchtigkeit der unmittelbaren, situativ eingebundenen Sprachhandlung" sieht*. In diesem Sinne kann in Rilkes "Briefen über Cézanne" ein Überwiegen der kognitiven Funktion vor der Mitteilungsfunktion konstatiert werden. Rilkes Briefe sind vergleichbar mit der Gattung �Tagebuch�, da sie eine literarische Form der Selbsterkenntnis darstellen, die zur ästhetischen Objektivierung und damit produktiven Bewältigung komplexer Zusammenhänge beiträgt. Zugleich sind sie Mittel der Selbststilisierung und -findung des Autors, denn das Ich, das sich im Brief literarisiert, muss zunächst einen fiktionalen Selbstausdruck finden, in welchem dem Autor im Brief sein eigenes Ich literarisch objektiviert gegenüber steht*. Häufig sind gerade Autorenbriefe als "ästhetische Produkte", in denen der Autor oft über das eigene Schreiben reflektiert und die Köhnen zufolge eine "Metaposition zu den fiktionalen Texten" einnehmen*, schon in Erwartung späterer Sammlung, Auswertung oder Veröffentlichung geschrieben, was, wie oben gezeigt wurde, wahrscheinlich für die "Briefe über Cézanne" gilt und diese zu einem dichterischen Werk, einem Art "work in progress" macht, das ein Thema weiträumig umkreist*.

Dem Überwiegen der kognitiven Funktion vor der Mitteilungsfunktion entsprechend sind die Briefstellen in der Edition weitgehend ohne Anrede, Grußformeln, Unterschrift sowie Eingangs- und Schlussformeln abgedruckt. Darin spiegelt sich zwar nicht der ursprüngliche Stil der Briefe, doch schon durch diese editorische Entscheidung, wie durch den Verzicht auf Wiedergabe von privaten und situativ gebundenen Passagen, wird deutlich, wie sehr die "Briefe über Cézanne" ihres privaten Charakters enthoben werden können, ohne Sinn einzubüßen, weil sie der Konzeption nach im Grunde keine privat-situativen Briefe sind.

Mit der Gattung �Essay� haben sie den sprunghaft-unsystematischen, intuitiv-assoziatorischen sowie okkasionellen Charakter der getroffenen Aussagen gemeinsam, mit dem aber wie im essayistischen Verfahren zugleich ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit einhergeht*. Rilkes Beteuerung im Brief vom 15. Oktober, dass alle Aussagen mehr als persönliche Einsichten, denn als Tatsachen zu gelten haben, oder der Formulierung im Brief vom 18. Oktober, er müsse "vorsichtig sein mit dem Versuch, über Cézanne zu schreiben"*, in der Rilke das Schreiben als subjektive Erfahrungstätigkeit ausgibt, steht die allgemeine Tendenz der Briefe zur Objektivierung der getroffenen Aussagen gegenüber, die mit der Lösung von der konkret privaten Situationsgebundenheit erzielt wird. Diese "Adressatenvergessenheit" wird u. a. aus der Tendenz zur Ersetzung von Anredeformen durch das Indefinitpronomen �man� ersichtlich; das Personalpronomen �Du� wird bisweilen nicht als Bezeichnung für die angesprochene Person, sondern in kollektiver Bedeutung verwendet. Mit solchen indefiniten Formen, deren Bedeutung von der Vorstellung des eigenen Ichs bis zu derjenigen der gesamten Menschheit reicht, bezieht sich Rilke auf nicht näher bestimmte Personen und Leser*. Außerdem nimmt er explizit Bezug auf den hohen Stellenwert der neuen Einsichten,- zum Teil unter Verwendung eines Vokabulars mit religiöser Konnotation. Unter semantischen Gesichtspunkten können in den Briefen verschiedene Isotopieebenen, vor allem des Religiösen, der Ewigkeit und der Wiederkehr, konstatiert werden, die die getroffenen Aussagen in ein besonderes, quasi-sakrales Licht rücken.* Bezeichnend ist die Metaphorik des Briefs vom 16. September:

"Ich bin in allem auf das Abwarten eingestellt, auf das Nicht-Vorsorgen, das der Vogel bei Kierkegaard vor uns voraus hat; die tägliche Arbeit, blindlings getan, willig, unter lauter Geduld und mit dem: Obstacle qui excite l�ardeur als Wahlspruch, ist die einzige Art Vorsorge, die nicht in Gottes Rechte eingreift: der uns Tag nach Tag hinhält, Nacht um Nacht, damit wir diese Blätter beschrieben, ohne eine Lücke zu lassen und ohne uns um die zu kümmern, die er noch in Händen hat."*

Unter Rückgriff auf eine lange Tradition wird der Prozess des Schreibens hier selbst zur Lebensmetapher*: das Leben gleiche einem leeren Blatt, welches in geduldiger Arbeit beschrieben wird. Rilke bringt hier Kierkegaards Predigt über "Die Sorge der Armut" in Erinnerung, wodurch seine schriftstellerische Tätigkeit und schreibende Selbstreflexion in Gleichsetzung mit dem Leben im religiösen Existenzmodus, in dem das Wesen des Einzelnen sich selbst und Gott ganz gegenwärtig ist, zum "täglichen Brot" des Daseins erhöht wird.*

Die "Briefe über Cézanne" sind also als Mittel der Erkenntniskonstitution und damit der Selbstvergewisserung des dichterischen Ichs zu verstehen und zeichnen sich durch Übereinstimmung von Form und Inhalt aus, da auch ihr Thema die Neuerarbeitung eines dichterischen Standpunkts ist, welche sich am Vorbild der bildenden Kunst besonders des Malers Paul Cézanne vollzieht. In ihr sieht Rilke, wie unten zu zeigen sein wird, einen Ansatz zur produktiven Wirklichkeits- und Erkenntnissuche, an den er selbst in seiner Arbeit nahe herangekommen war*. Die Form der Briefe ist eine "forma formans" und keine "forma formata"*;" "sie sind kein abgerundetes Werk, sondern ein Denkversuch. Die "Briefe über Cézanne" erfüllen nicht die Forderungen an eine kunsttheoretische Abhandlung oder die Eigenschaften eines philosophischen Systems; Rilkes Verhältnis zum Gegenstand ist nicht analytisch, sondern dialektisch und versuchend; die Gedanken sind zugleich Erzeugnis und Gegenstand der Briefe. An die Stelle eines eindeutigen Textsinns tritt im Sinne von Roland Barthes ein Oszillieren von Bedeutungen, ein Rauschen von Sinn.*

Außerdem zeichnen sie sich als Ehebriefe aber auch durch situative Gebundenheit aus. Im Brief vom 24. Juni betont Rilke den dialogischen und privaten Wert der Selbstreflexion in Briefen, stellt aber zugleich die Grenzen der Mitteilbarkeit fest, Grenzen die auch deswegen benannt werden, um überschritten zu werden:

"Zwei Freiheiten der Mitteilung gibt es trotzdem, und es scheinen mir die äußerst möglichen zu sein: die angesichts des vollbrachten Dinges und jene innerhalb des eigentlichen täglichen Lebens, indem man sich zeigt, was man durch die Arbeit geworden ist und sich dadurch gegenseitig hält und hilft und [...] bewundert."*

Rilke mahnt, "das Äußerste nicht vor dem Eingang ins Kunstwerk auszusprechen, zu teilen, mitzuteilen", also behutsam abzuwarten, wie es sich in der "Transparenz des Künstlerischen" im Werk erst realisiert. Die dialogische Funktion der Briefe liege in gegenseitiger Unterstützung, doch alles was zur Genese des Werks führe, sofern der Brief noch "vor dem Werk liegt", solle verschwiegen bleiben. Insofern sind diese Briefe nicht bloßer Werkstattbericht eines Dichters, sondern der Konstitutionsort verschriftlichter Selbstreflexion und funktionieren analog zu dem, was im Brief vom 21. Oktober für die Kunst Cézannes als "Malen unter den Farben" erkannt wird*. Die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung wird für Rilke "unter den Wörtern" zu einer Instanz des Erkenntnisprozesses. Form und Inhalt der "Briefe über Cézanne" dienen demzufolge, wie eine eingehende Analyse der ersten Briefe der Brieffolge bestätigen wird, der dichterische Selbstvergewisserung. Der Dualismus von Form und Inhalt ist in den Briefen aufgehoben.

Dichterische Produktion im Spannungsfeld von �sehen� und �arbeiten�

Der erste Brief der Edition führt mitten in das die gesamte Brieffolge beherrschende Thema; der formale Bau der ersten Sätze, ein nicht leicht aufzulösendes syntaktisches Geflecht, korrespondiert mit der Schwierigkeit des Gegenstands. Die doppelte Dichotomie der beiden Tätigkeitsbegriffe �sehen� und �arbeiten� (sowie als dritter �denken�) und der Pronominaladverbien �hier� und �anderswo� sind einander gegenübergestellt und in chiastischer Verschränkung zueinander in Bezug gesetzt:

"... wie sehr ist anderswo sehen und arbeiten verschieden; Du siehst und denkst: später -. Hier ist es fast dasselbe."*

Die Aufnahme dieses Briefs in die Edition ist, obgleich er in keinem unmittelbaren Bezug zu Cézanne steht, dadurch gerechtfertigt, dass er die Hauptfrage des gesamten Briefwechsels aufwirft, und insofern als deren Ausgangspunkt gesehen werden muss*. Die Frage nach dem Verhältnis von sehen und arbeiten, Wahrnehmung und künstlerischer Tätigkeit ist die Leitfrage der Briefreihe.

Zum genauen Verständnis müssen die Begriffe �sehen� und �arbeiten� genau betrachtet werden, zu welchen in irgendeiner, allein aufgrund des ersten Briefs kaum zufriedenstellend zu bestimmender Weise das Denken in Bezug gesetzt werden muss. Mit dem Begriff des Arbeitens ist der dichterische bzw. auch allgemein-künstlerische Schaffensprozess gemeint, ohne dass im ersten Brief schon auf den Inhalt oder Gegenstand des Arbeitens referiert würde. Erst im Brief vom 24. Juni bezieht sich Rilke explizit auf seine persönliche Schaffenssituation*; im Brief vom 28. Juni nimmt er Bezug auf die Veröffentlichung des zweiten Teils des Rodin-Buchs, am 13. September auf das "Buch der Bilder", später mehrfach auf den Malte-Roman und auf Gedichte wie "Corrida" und "Eine Gazelle"*.

In einer großen Zahl von Rilkes poetologischen, kunsttheoretischen oder selbstreflexiven Texten und Briefen kommt dem Begriff der Arbeit eine zentrale Rolle zu; besondere Bedeutung hat er aus der Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin erhalten. Als Initiationserlebnis kann die im Brief vom 5. September 1902 geschilderte erste Begegnungen mit dem Meister gelten:

"Er schwieg eine Weile und sagte dann, wunderbar ernst sagte er das: ... il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience. Man soll nicht daran denken, etwas machen zu wollen, man soll nur suchen, das eigene Ausdrucksmittel auszubauen und alles zu sagen. Man soll arbeiten und Geduld haben. Nicht rechts, nicht links schauen."*

Rodins Arbeitsethos machte auf Rilke einen solchen Eindruck, dass er für ihn zum Leitbild wurde. Seitdem ist Paris in Rilkes Augen die Stadt des Arbeitens, was in einem Brief an Manon zu Solms-Laubach vom 3. August 1907 den prägnanten Ausdruck findet: "Ich bin in der Arbeit wie der Kern in der Frucht." Schon im Spätjahr 1905 schreibt er Lou Andreas-Salomé über die "Atmosphäre der Arbeit und des Arbeitenkönnens" um Rodin*. Dass die Forderung, immer in der Arbeit zu bleiben, für Rilke keineswegs leicht zu erfüllen ist, stellt einen Grundkonflikt seiner Existenz dar, der 1908 im "Requiem für eine Freundin" wiederkehrt:

"Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft
zwischen dem Leben und der großen Arbeit."*

In den "Briefen über Cézanne" kommt besonders im Brief vom 4. Oktober 1907 eine mahnende und verzweifelte Litanei der Erfahrung des Nicht-arbeiten-Könnens zum Ausdruck: "man ist ja immer so weit vom Immer-arbeiten-können."*

In der ganzen Briefreihe finden Substantiv- und Verbformen des Lexemverbands �Arbeit/arbeit-� und die jeweiligen abgeleiteten Formen über dreißig Mal und zum Teil in bedeutsamen Passagen Verwendung. Ein Anklang an das von Rodin gepredigte Arbeits-Ethos, ist somit schon durch die Übereinstimmung im Vokabular gegeben. Vom Schreiben als spezifischer Form dichterischer Arbeit ist im ersten Brief explizit nicht die Rede.

Thematisiert wird keine konkrete Schaffenssituation, sondern es geht um elementare Probleme, welche die allgemeinen Voraussetzungen und Bedingungen jeder künstlerischen Tätigkeit betreffen. Der dichterische Schaffensprozess wird durch die Verknüpfung von �arbeiten� und �sehen� schon im ersten Brief wenigstens potentiell in Bezug zur bildenden Kunst gesetzt, und dadurch wird auch der dichterische Erkenntnisprozess als in erster Linie visuelle Rezeptionsleistung ausgegeben. Thema ist also das Problem der Bedingungen und Möglichkeiten des dichterischen und allgemein künstlerischen Prozesses, sofern die Frage aufgeworfen wird, welcher Bezug zwischen künstlerischer Wahrnehmung und künstlerischer Tätigkeit besteht. Damit eng verbunden ist das abstrakte Problem, inwieweit rezeptive Welterfahrung und sprachliche Artikulation mit dem Denken als der Fähigkeit, sich über die bloße Sinnfälligkeit von Augenblicks- und Einzelwahrnehmungen zu einer geistigen Vergegenwärtigung von Erfahrungen zu erheben, zusammenhängen, und wie sich das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit in der dichterischen Tätigkeit darstellt – zugleich rücken auch die spezifischen Möglichkeiten des malerischen Schaffens ins Blickfeld. Auf einer metaphorischen Ebene, auf der �sehen� eine Metapher der höheren Erleuchtung oder der inneren Vernunftnatur ist, die, wie Hans Blumenberg einmal betonte, mit der Vorstellung von Arbeit eigentlich unverträglich ist, werden spontanes Empfinden und mühsames Gestalten somit miteinander verschränkt. �Sehen� meint insofern nicht bloße Umwandlung optischer Reize in neuronale Information, sondern eine zu lernende Fähigkeit, um deren Aneignung es in der ganzen Briefreihe geht.* Antworten auf die so aufgeworfenen komplexen semasiologischen und onomasiologischen Fragen, nämlich wie stehen die Wörter, die ein Dichter gebraucht, bzw. die Sätze, die er bildet, mittels einer Bedeutung im Verhältnis zur Wirklichkeit, und - von der anderen Seite her betrachtet - wie kann die Wirklichkeit in Begriffen, deren Konstitution durch sprachliche Zeichen geschieht, adäquat bezeichnet werden, gibt der erste Brief nicht oder nur bedingt. Rilke stellt nur die spontan gewonnene Erfahrung dar, dass "hier" sehen und arbeiten fast dasselbe seien.

Eine derartige, zunächst merkwürdig erscheinende und anscheinend das Problem unzulässig vereinfachende Feststellung erklärt sich aus der gedankenkonstitutiven Form der Briefe, bei denen Form und Inhalt, also Erfahrung und Schreiben, nicht voneinander zu trennen sind. Die Briefe müssen insgesamt als der Versuch gelten, Wissen*, das erst beim Schreiben selbst erfahrbar wird, textuell zu konstituieren, darzustellen und damit zu vergegenständlichen. Erst wenn ich (über) etwas schreibe, "mache ich es mir wirklich zu eigen" und kann den Gedanken, der stofflich vor mir liegt, prüfen und entfalten.* In Rilkes eigenen Worten heißt das: das Äußerste aussprechen, "was kein anderer verstehen würde und dürfte."* Insofern fallen in Rilkes Briefen sehen und arbeiten zusammen.

Im Folgenden kann eine Analyse des ersten Briefs zeigen, in welcher Weise das vorliegende Textmaterial als sprachliches Realisat der gedankenkonstitutiven Tätigkeit diesen Überlegungen entspricht. Eine ausführliche Analyse des Gebrauchs des Wortes �sehen� in den Briefen soll erst weiter unten geschehen.*

Konstitution eines Erfahrungsraumes

    Neben der Dichotomie �sehen� und �arbeiten�, kommt im ersten Brief der Dichotomie �anderswo� und �hier� zentrale Bedeutung zu:

    "... wie sehr ist anderswo sehen und arbeiten verschieden [...] -. Hier ist es fast dasselbe." *

    Die weitgehend inhaltsleere Pro-Form �anderswo� verweist auf das präzisere Lokaladverb �hier�, das einen raum-zeitlichen Zustand bezeichnet, der vom Zustand im �anderswo� in grundsätzlicher Weise verschieden sei. Somit wird der im stativischen �hier�, welches nur eine vage Raum-Zeit-Deixis aufbaut, gemachten Erfahrung ein besonderer Wert zugesprochen; der Erfahrungsraum des �hier� hebt sich erkenntnismäßig über die im Unklaren verbleibenden und nicht, wie vom Leser möglicherweise erwartet, durch ein präzisierendes Bezugselement im sprachlichen Kontext erhellten Verhältnisse im �anderswo�. Während �anderswo�, das gewöhnlich durch kataphorischen Verweis näher bestimmt wird, am Beginn der Brieffolge isoliert für sich steht und somit vage sowie ohne klare Referenz bleibt, und auch im weiteren Verlauf der Briefe kein Beitrag mehr zu seiner Erhellung geleistet wird, wird der Inhalt des �hier� im Zuge der sprachlichen Bemühungen der Brieffolge erarbeitet - und zwar weniger im Sinne einer Klärung der räumlichen Gegebenheiten, sondern vielmehr im Sinne der sprachlichen Konstitution eines neu zu gewinnenden Erfahrungsraumes.

    Der erste Brief enthält eine Vielzahl von auf die Gegenwart und den Standort des Dichters verweisenden Deiktika, die hinsichtlich der lokalen Zustände unbestimmt bleiben*, da der Leser die zwei vorangehenden Briefe, die in der Sammlung "Briefe über Cézanne" nicht abgedruckt sind, nicht kennt und deshalb die Raumvorstellung, die im Text der vorangehenden Briefe aufgebaut wird, höchstens anhand der Absenderadresse im Briefkopf nachvollziehen kann*. Die lokale Bedeutung des �hier� tritt auch aus anderem Grunde hinter eine ontologisch unbestimmtere Bedeutung zurück. Statt einer weiteren Beschreibung des Raums, also der Großstadt Paris, kommt es zu einer inhaltsfreien Verselbständigung und Anthropomorphisierung des �hier�, wobei der in der zweiten Person Singular Bezeichnete in eine passive, dem Eindruck ausgelieferte, Rolle gerät:

    "Das hier aber nimmt Dich und geht weiter mit Dir und geht mit Dir zu allem und mitten durch alles durch" *.

    Die Gegenwart des �hier� scheint für Rilke nach der Rückkehr in die Großstadt so intensiv, dass durch sie die Gesamtheit des Wirklichen, auch die Vergangenheit, neu erfahrbar wird und eine völlige Neuordnung der Dinge möglich erscheint; euphorisch weist er schon hier, also noch nicht durch das Vorbild des französischen Malers beeinflusst, auf die noch vor ihm stehende erkenntnismäßige Leistung der "Briefe über Cézanne" voraus:

    "Alles was war ordnet sich anders [...]."

    Im gesamten ersten Brief wird nur der Zustand des Erfahrens und nicht die Gegenstände der Erfahrung angesprochen. Besonders deutlich ist dies in der tautologischen Formulierung vom Gegenwärtigen, das "mit aller Inständigkeit gegenwärtig" ist. Insgesamt werden nicht eine bestimmte Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit überhaupt, die Art und Weise der Erfahr- und Darstellbarkeit des Wirklichen, "das" Sehen und "das" Arbeiten thematisiert und eine Raum-Vorstellung des "hier" und des "anderswo", der Nähe und Ferne konstituiert. Jede Raumwahrnehmung erfolgt aus der Perspektive eines Ich heraus und alles, was in dieser Welt geschieht, wird entweder als anwesend oder fern verstanden*. Rilke beschäftigt sich also im ersten Brief nicht mit den Objekten der Anschauung, sondern er stellt in Erwartung eines zu vollziehenden Lernprozesses die seit Kant die europäische Philosophie beherrschende Frage, wie wir zu Erkenntnis über Objekte gelangen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht Sehen als Voraussetzung des Erkennens von Wirklichkeit, eine Frage, die als grundlegend für Rilkes dichterische Selbstvergewisserung anzusehen ist.

    Wirklichkeit in der Kunst

    �Wirklichkeit�

    "Nur die zehn Tage nach Ruths Geburt, glaub ich, hab ich ohne Verlust gelebt: die Wirklichkeit so unbeschreiblich findend, bis ins Kleinste hinein, wie sie ja wahrscheinlich immer ist."*

    In den "Briefen über Cézanne" zählt �Wirklichkeit� zu den Schlüsselbegriffen, um die der Text unaufhörlich kreist. Rilke gebraucht das Wort �Wirklichkeit� stets im Sinne von durch eigenes Erleben erfahrener Wirklichkeit; sie ist nicht Subjekt-unabhängig, sondern immer eine vom Einzelnen gedeutete Welt*. Insofern steht Rilke in Nachfolge von Kant, seit dessen erkenntniskritischen Schriften, "das, was man Außenwelt nennt" als "das ewig wechselnde und ununterbrochen von neuem sich erzeugende Resultat eines geistigen Vorganges" gilt*. So umreißt jedenfalls der Kunsthistoriker Konrad Fiedler 1881 in seiner Schrift "Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit" mit Blick auf die bildende Kunst - besonders des Naturalismus - die epistemologische Wende seit Kant.

    Konform dazu kann Wirklichkeit für Rilke in subjektiver Erfahrung gesteigert werden, wie es angesichts der Geburt seiner Tochter gewesen sei, als er zum ersten Mal "ohne Verlust gelebt" habe. Vor allem im Kunstwerk erkennt Rilke die Möglichkeit zu derart "gesteigerter" Wirklichkeitserfahrung*, welche durch intensivierte eigene Erfahrung und Befreiung von überkommenen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Urteilsmodellen ermöglicht wird. Es werde damit Unmittelbarkeit und somit erhöhte Gewissheit bezüglich der Wirklichkeit erlangt. Die Quelle für derartige Gewissheit ist für Rilke neben dem Denken v. a. eine Gewissheit gebende Sinnlichkeit, die, wie Konrad Fiedler in der selben Schrift in Anlehnung an Kant und Wilhelm von Humboldt formuliert, im steten Prozess des Erfahrbarmachens des Wirklichen als gleichberechtigte Erkenntnisquelle anzusehen ist. Man sei - dies ganz im Sinne von Humboldt - zu der Ansicht gekommen, dass "keinerlei Denktätigkeit Erkenntnis geben könne ohne sinnliche Anschauung" und dass "in jeder sinnlichen Anschauung schon eine geistige Tätigkeit enthalten sei."* Im Kräftefeld von �sehen�, �denken� und �arbeiten� geht es bei Rilke um eben dieses Verhältnis von geistiger und sinnlicher Anschauung und somit um die produktive Fähigkeit, Anschauung gerade in schöpferischer Tätigkeit zu erlangen. Im Folgenden soll dargestellt werden, inwiefern Rilke in Weiterführung und zum Teil Überwindung seiner vorangehenden Auffassungen die Tätigkeit des Künstlers als eine solche Möglichkeit erkennt, sich der Wirklichkeit in künstlerischer Tätigkeit zu bemächtigen.

    Kunst als Produktion von Wirklichkeit

    Indem der Künstler den sinnlichen Stoff gestaltet, "produziert"* er im Werk eine in ihrem sinnlichen Vorhandensein klare und bestimmte, dauernde "Harmonie parallel zur Natur"*. Der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler hat eine Theorie der Kunst als Konstruktion von Wirklichkeit formuliert und als Erster ausgesprochen, was für uns in der Betrachtung der Bilder v. a. der sog. "vier patres des 20. Jahrhunderts" bestätigt scheint: Der Künstler stellt neue Wirklichkeit her, deren Eigenständigkeit er allein aus den Ausdrucksmitteln selbst bezieht.*

    "Denn nichts anderes ist die Kunst, als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt."*

    Partielle Übereinstimmungen mit Rilkes kunsttheoretischen Überlegungen seit dem Rodin-Essay wurden in der Forschung wiederholt betont, obgleich Rilke die Schriften von Fiedler wohl nicht gekannt hat*. Rilke erkennt im Brief vom 22. Oktober die produzierte Wirklichkeit im Gleichgewicht des cézanneschen Kunstwerks und stellt fest, dass

    "es ist, als wüßte jede Stelle von allen; So sehr nimmt sie teil; so sehr geht auf ihr Anpassung und Ablehnung vor sich; so sehr sorgt jede in ihrer Weise für das Gleichgewicht und stellt es her wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält."* (vgl. Abb. 3)

    Weitgehend offen bleibt nun allerdings, ob für Rilke diese hergestellte Wirklichkeit nur eine privilegierte Sichtweise auf die Erscheinungen der Wirklichkeit oder tatsächlich – wie Erich Heller annimmt – der Blick auf die platonische Idee und nicht mehr auf die zweitrangige Erscheinung ist*. Die folgenden Darlegungen lassen plausibel erscheinen, dass Rilkes Postulat eines "neuen Sehens" sowie seine Deutungen von Rodins Plastiken und Skulpturen wichtige Vorstufen zum Verständnis einer im Kunstwerk nur produzierten, aber gerade dadurch gesteigerten Wirklichkeiten, einer festigenden Gestaltung des Eidetischen, sind. In dieser wäre die allen Erscheinungen zugrundeliegende Idee unmittelbar enthalten, das Bild durch Abstrahierung des Zufälligen und Unwesentlichen auf ein Korrelat des Dings an sich, des Seienden, reduziert.

    Postulat eines neuen Sehens als Kritik an Sprache und Begriffen

    Als Voraussetzung der Wirklichkeits-adäquaten künstlerischen Tätigkeit gilt für Rilke die Forderung nach einem neuen Sehen. Wie weiter oben dargelegt wurde, rückt schon im ersten Brief das Thema �sehen� in den Mittelpunkt des Interesses. In zahllosen Stellen der Briefe befasst sich Rilke mit den Modalitäten visueller Wahrnehmung, wobei das Wort �sehen� außer als Bezeichnung der Sinneserfahrung auch – und manchmal beides zugleich - als Metapher der Erkenntnis überhaupt verwendet wird*. Schon daran wird ersichtlich, dass Rilke dem Sehen einen hohen Stellenwert im Erkenntnisprozess und per se eine besondere Nähe zur Wirklichkeit/Wahrheit beimisst.

    Rilkes Reflexionen über das Sehen sind recht komplex und umkreisen das Thema in vielfältiger Weise. Er vertritt nicht die naive Vorstellung von der visuellen Wahrnehmung als einfacher Abbildung einer an sich vorhandenen Wirklichkeit, sondern ist sich dessen bewusst, dass unsere Wahrnehmung u. a. von Konventionen des Sehens bedingt ist. Sie hängt, dem Verständnis der modernen Psychologie zufolge, nicht allein mit unserem biologischen Sehapparat zusammen, sondern ist als dreistufiger Vorgang zu verstehen, in dem Empfinden, Organisieren und Identifizieren/Einordnen eine Rolle spielen.* Rilke, der mit Nietzsches Schriften vertraut war, ist sich darüber im Klaren, wie sehr das Sehen von unseren Urteilen abhängt, die für Nietzsche durch unsere Begriffe korrumpiert sind*. Er begreift sehen deswegen nicht als angeborene, sondern als zu lernende bzw. neu zu lernende Fähigkeit.

    Das Postulat eines neuen, wissenden, also erkenntnisvermittelnden Sehens durchzieht die gesamte Brieffolge; zu nennen ist z. B. Rilkes Behauptung vom 3. Oktober, Clara könne in den Reproduktionen einer van-Gogh-Mappe etwas "sehen, was ich [Rilke] noch nicht sehen kann", die schon selbstsicherere Feststellung am 13. Oktober, er würde, wenn er jetzt bei Clara in Norddeutschland wäre,

    "auch den Prunk von Moor und Heide, das schwebend helle Grün der Wiesenstücke und die Birken neu und anders sehen",

    oder der Zweifel am 1. November:

    "... wird man einmal eines Tages hier [in Prag] sein und auch dieses sehen können, sehen und sagen, von Vorhandensein zu Vorhandensein?"*

    Es geht Rilke um ein vorurteilsfreies und absichtsloses Sehen und erst dadurch ermöglichtes "sachliches Sagen"*. Diesem glaubt er sich durch die Erfahrung an Cézanne näher, an seiner Möglichkeit muss er letztlich aber doch zweifeln, wie Cézanne ja auch immer mit seinem Werk haderte*. Besondere Schwierigkeiten erfährt Rilke nach dem Verlassen von Paris in Prag, der Stadt seiner Kindheit, wo für ihn sachliches Sehen überhaupt noch nicht möglich ist, da alles eine "immense Bedeutung" annahm, "da man klein war". Die Kindheitsstadt kommt Rilke selbst nach den in Paris neu gewonnenen Einsichten, vor denen sich das mit Erinnerungen behaftete Prag noch verschließt, "unbegreiflich", als "Verwirrung" und "gespenstisch" vor.*

    In engem Zusammenhang mit dem Postulat eines neuen Sehens nimmt Rilke in den "Briefen über Cézanne" eine sprachkritische Position ein, die durchaus zu der um 1900 verbreiteten Sprachskepsis in Bezug zu setzen ist, welche bei Rilke - ganz wie bei Hofmannsthal durchaus sehr beredt – zum Ausdruck kommt*. Wahre Kunst, als direktes Realisat visueller Wahrnehmungsereignisse verstanden, wird gegen sprachliche Erfahrbarmachung der Welt ausgespielt – am deutlichsten vielleicht im Verdikt über van Goghs Bilder im Zusammenhang mit seinen, durchaus als schriftstellerisches Werk hohen Ranges einzustufenden, Briefen:

    "Daß man Van Goghs Briefe so gut lesen kann, daß sie so viel enthalten, spricht im Grunde gegen ihn, wie es ja auch gegen den Maler spricht (Cézanne danebengehalten), daß er das und das wollte, wußte, erfuhr [...]. Ein schreibender Maler [= Bernard], einer also, der keiner war, hat auch Cézanne durch seine Briefe veranlaßt, malerische Angelegenheiten antwortend auszusprechen; aber wie sehr ist es, wenn man die paar Briefe des Alten sieht, bei einem unbeholfenen ihm selber äußerst widerwärtigen Ansatz zur Aussprache geblieben. Fast nichts konnte er sagen. Die Sätze, in denen er es versuchte, werden lang, verwickeln sich, sträuben sich, bekommen Knoten, und er läßt sie schließlich liegen, außer sich vor Wut. Hingegen gelingt es ihm ganz klar zu schreiben: >Ich glaube, das Beste ist die Arbeit.<"*

    Rilke macht van Gogh, den er in den Briefen vor dem Cézanne-Erlebnis noch inständig bewundert, den Vorwurf, ein "schreibender Maler" zu sein, dem es in seiner Kunst nicht gelingt, sich von der Herrschaft der Begriffe vollständig zu emanzipieren und sachlich zu sein. Wirkliche Einsicht, die, wie Rilke am Ende des selben Briefs schreibt, "nur innerhalb der Arbeit ist", bleibt jedem als bloßes Gerede abgewerteten Sprechen verschlossen ("Alles Gerede ist Mißverständnis"*) und erscheint zunächst als Domäne der Malerei. Denn wie - sensu Fiedler und Humboldt - "der in sprachlicher Form sich darstellende Gedanke [...] nur in der sprachlichen Form vorhanden sein" kann, kann auch das, was im Kunstwerk dargestellt bzw. ausgedrückt ist, nur im Kunstwerk vorhanden sein und nicht in der "Aussprache" äquivalent erfahrbar gemacht werden.

    Rilke geht über die gewöhnliche Einsicht in die paragone-Problematik hinaus, die, z. B. Lessing im "Laokoon" als Wesensfremdheit von Kunst und Literatur erkannte. Beide unterscheiden sich darin, dass die Eine ein nebeneinander im Raum, die Andere ein nacheinander in der Zeit ausdrückt*. Lessing sieht die Schwierigkeiten nicht in der grundsätzlichen Unmöglichkeit, "Körper, so wie sie im Raume existieren, auszudrücken"; dies sei wegen der Willkürlichkeit, also Arbitrarität, sprachlicher Zeichen gut möglich und im Homer fänden sich davon genügend Exempel. Die Schwierigkeit liege vielmehr darin, dass die Literatur das, "was das Auge mit einmal übersiehet" nur "langsam nach und nach" aufzählen kann. Zusammenfassend stellt Lessing fest:

    "ich spreche nicht der Rede überhaupt das Vermögen ab, ein körperliches Ganzes nach seinen Teilen zu schildern; sie kann es, weil ihre Zeichen, ob sie schon aufeinander folgen, dennoch willkürliche Zeichen sind; sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet [...]."*

    Für Rilke ist die Skepsis hingegen nicht im konsekutiven Charakter von Sprache und auch nicht allein in der Problematik und im Zweifel an der Möglichkeit der Übersetzung von bildender Kunst ins sprachliche Medium begründet, sondern in einem grundsätzlichen Bedenken gegenüber der propositionalen Ausdrucksfähigkeit von Sprache. Sie scheint Nietzsches Fundamentalkritik an der Herrschaft des Begriffes verpflichtet, wenn Rilke wie dieser in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" in den Begriffen der bürgerlichen Bildungssprache ein unzulässiges "Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" und "Uebersehen des Individuellen und Wirklichen" der Dinge zugunsten von Erkenntnis verhindernden Begriffen beklagt*. Rilke versucht sich zu erinnern,

    "wie befremdet und unsicher man die ersten Sachen sah, als sie mit dem neugehörten Namen zusammen vor einem waren"*,

    wobei er jene Unsicherheit als Entsprechung zur grundsätzlichen Fremdheit der Natur positiv wertet. In einer solchen idealen Zeit seien Name und Ding, Ausdruck und Referent, noch eins gewesen, was nicht anders zu denken ist, als dass die Worte damals noch Namen der Dinge und nicht Bezeichnungen für Klassen von Gegenständen waren. Folglich konnten die individuellen Merkmale des Dings im Namen aufgefunden werden. Insofern betrifft Rilkes Sprachkritik hauptsächlich die mit sprachlichen Konventionen einhergehenden Klassifizierungen und Festlegungen, den damit einhergehenden Verbrauch und die zunehmende Gewöhnlichkeit der Begriffe und Vorstellungen sowie die damit verbundene Maskierung, Verstellung, Lüge, was - wie Nietzsche schreibt – zum Aufgehen im Banalen und zur Beschränkung auf "Dinge, welche sich schreiben "lassen", führt*. Die Sprache kann in ihrer Einengung durch Festlegungen nicht mehr als adäquater Ausdruck aller Realitäten gelten*. Schon 1897 hat Rilke in einem Gedicht Kritik an der Banalität des allzu festgelegten Sprachgebrauchs artikuliert:

    "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
    Sie sprechen alles so deutlich aus: [...]
    Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
    Die Dinge singen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Dinge um.*"

    Rilke distanziert sich hier von einer Kultur der eindeutigen Begrifflichkeiten, die v. a. durch das Vordringen wissenschaftlichen Denkens mit seinen definitorischen Festlegungen von Wortextensionen befördert wurde*, und warnt davor, das Eigentümliche der Dinge mit anthropozentrischer Deutung, Verbindlichkeit und Eindeutigkeit zu verdecken. Die Wirklichkeit und besonders die Natur seien "starr und stumm" und dem menschlichen Denken wegen ihrer Komplexität und der Singularität ihrer Einzelerscheinungen wesentlich fremd. In diesem Kontext und abhängig von einem solchen Naturverständnis liegt der Grund für Rilkes Skepsis an den Begriffen und für die Forderung nach neuem Sehen. Die Natur ist für ihn eine dem Menschen fremde und gestaltlose Kraft. In der Einleitung zur Worpswede-Monographie wird ein Naturverständnis skizziert, das sowohl für Rilke, als auch überhaupt für jene Epoche signifikant ist (s. auch Abb. 7):

    "Wer aber die Geschichte der Landschaft zu schreiben hätte, fände sich zunächst hilflos preisgegeben dem Fremden, dem Unverwandten, dem Unfaßbaren. Wir sind gewohnt, mit Gestalten zu rechnen, - und die Landschaft hat keine Gestalt, wir sind gewohnt, aus Bewegungen auf Willensakte zu schließen, und die Landschaft "will" nicht, wenn sie sich bewegt. [...] Die Landschaft [...] steht ohne Hände da und hat kein Gesicht, - oder aber sie ist ganz Gesicht [...]. Denn gestehen wir es nur: die Landschaft ist ein Fremdes für uns und man ist furchtbar allein unter Bäumen [...]."*

    Analog zu dieser Feststellung der Gestaltlosigkeit der Natur soll weiter unten der Gestaltbegriff zum Verständnis der Aussagen über das innere Gleichgewicht der Kunstwerke Cézannes herangezogen werden. Hier geht es zunächst nur um Rilkes These von einer dem Menschen fremden und unzugänglichen Natur, an welcher er auch in den "Briefen über Cézanne" festhält. Im Brief vom 13. Oktober beschreibt er rückblickend seinen Zustand des noch nicht adäquat Sehen-Könnens, als er noch bestrebt gewesen sei, das dem Menschen Fremde zu deuten:

    "[...] damals war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten sich meine Hände wiederfanden; ich saß noch nicht vor ihr; ich ließ mich hinreißen von der Seele, welche von ihr ausging; sie kam über mich mit ihrer Weite [...] Ich schritt einher und sah, sah nicht die Natur, sondern die Geschichte, die sie mir eingab."* (vgl. Abb. 8)

    Rilke weist hier seine früheren, dem Jugendstil nahestehenden Arbeiten, wie "einen Teil des Stundenbuchs"*, als mehr vom dichterischen Subjekt denn vom Gegenstand bedingt zurück. Seine frühe Werkhaltung ist gekennzeichnet durch empfangendes Schauen, gefühligen Genuss und Enthusiasmus der bevorzugenden, parteiischen Liebesrichtung. Erst mit dem Worpswede-Essay gelingt ihm eine Überwindung des einfühlenden Sehens und Sagens, die auf weltanschaulicher Ebene der Überzeugung von der Spaltung von Mensch und Natur entspricht. Der Sehende geht nun nicht mehr in seinen Objekten auf, sondern sieht sich dem Fremden einer gestaltlosen Natur gegenüber*. Entsprechend definiert Rilke in der Einleitung zu Worpswede die Rolle der Künstler als Vermittler zwischen Mensch und Natur,

    "die die verlorene Natur nicht lassen wollen, ihr nachgehen und nun versuchen, bewußt und mit Aufwendung eines gesammelten Willens, ihr wieder so nahe zu kommen, wie sie es ihr, ohne es recht zu wissen, in der Kindheit waren."

    Der Wert der Kunst sei,

    "daß sie das Medium ist, in welchem Mensch und Landschaft, Gestalt und Welt sich begegnen und finden."* (vgl. Abb. 6)

    Rilkes Skepsis gegenüber Begriffen und konventionellen Anschauungen schärft sich noch an den Erfahrungen des malerischen Mediums, in welchem Dinge in einer Weise ausgedrückt werden können, an der es der Sprache mangelt. Parallelen zu Hofmannsthals im gleichen Jahr entwickelten Konzept vom "Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte" werden deutlich*. In Weiterführung dieses Ansatzes erkennt Hofmannsthal in den "Briefen des Zurückgekehrten" von 1907 in den Farben, welche sich anders als Worte nicht in mehr oder weniger klar umrissenen Benennungen erschöpfen, eine Sprache, "in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergibt" und zugleich eine Nische zur Identitätsfindung des Einzelnen gefunden werden kann.* In Folge der Begegnung mit Cézannes Malerei erarbeitet Rilke ein ähnliches Konzept von der positiv gewerteten Vagheit ikonischer Zeichen, die als bloße Farbflecken erst in einem bildimmanenten Farbsystem überhaupt Bedeutung erlangen, so dass ein Gegenstand nicht mehr bloß nach Konvention, Vorstellung und Begriffen, also nach Intentionen, abgebildet, sondern "in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint"*. Derartige Produktion von künstlerischer Wirklichkeit ist nicht, wie es noch im Worpswede-Essay heißt, "bewußt und mit Aufwendung eines gesammelten Willens", sondern in möglichst absichtsloser Arbeit des Künstlers zu erzielen:

    "Der Maler dürfte nicht zum Bewußtsein seiner Einsichten kommen (wie der Künstler überhaupt): ohne den Umweg durch seine Reflexion zu nehmen, müssen seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie in dem Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag."*

    Auf diesen aus der Tätigkeit des Künstlers konstituierten "Übertritt" wird unten einzugehen sein. Hier ist erst einmal zu klären, weshalb Rilke über seine Anschauungen der Einleitung zu Worpswede hinausgehend, auch vom bildenden Künstler völlige Zurücknahme seines eigenen Selbst fordert. Das Postulat der Intentionslosigkeit ist zugleich wichtigste Voraussetzung des erstrebten sachlichen Sehens. Ansätze dazu sind allerdings schon im Worpswede-Aufsatz zu erkennen, wo Rilke die Aufgabe eines verstehenden und erklärenden Betrachtens als Voraussetzung wirklichen Verständnisses der Natur kennzeichnet, welches nur im Erfassen ihrer Eigenständigkeit liegen könne:

    "Denn man begann die Natur erst zu begreifen, als man sie nicht mehr begriff [...]."*

    Gemeint ist hier eine vollständige Befreiung von Begriffen und Sehgewohnheiten. Entsprechend formuliert Rilke in den "Briefen über Cézanne" das Gebot:

    "Man muß jeden Augenblick die Hand auf die Erde legen können wie der erste Mensch."*

    Der Verdacht gegen die Herrschaft der Begriffe geht so weit, dass Rilke selbst in gewöhnlichen Sonntagsphotographien noch ihre Vorherrschaft feststellt, obgleich diese ontologisch unverdächtig erscheinen müssten, da ihnen ein unmittelbares, also offenbar weitgehend Subjekt-unabhängiges chemisches Verfahren der Abbildung zugrundeliegt. Auch Photographien bilden jedoch keine Wahrheit, allenfalls Stereotypen der Wirklichkeit ab, da sie, wie Rilke im Brief vom 18. Oktober erkennt, in einem Verhältnis von Auslegung, Urteil und Überlegenheit zum Objekt hergestellt werden und dem "bourgeoisen" "Gerücht von geistiger Auffassung", welche jedes Kunstwerk zu transportieren habe, entsprechen; einem Gerücht, das sich, wohl was Wahl des Motivs, Stil der Abbildung* oder sogar Ausstattung der photographierten Personen mit allegorisch zu deutenden Attributen betrifft, mit so viel Erfolg durchgesetzt habe,

    "daß dergleichen sogar schon in photographischen Sonntagsaufnahmen von Verlobten und Familien zu bemerken ist."*

    Gegenüber derart konventionellen und intentionalen Darstellungs- und Sichtweisen geht ein wahrer Künstler arm, unparteilich und absichtslos "auf das Namenlose zu"*, dem man mit Begriffen nicht beikommen kann, oder wendet sich diesem "namenlos und neu"*, also frei von urteilenden Begriffen, zu. Nicht allein die dem Menschen fremde Natur, sondern ebenso die unabsehbare Vielfalt der Objekte aus der menschlichen Welt, wie etwa das alte Adelsviertel, gilt es neu zu sehen:

    "[...] das muß abgedankt werden, abgetan, abgelegt. Selbst einer, der solche Paläste zu sagen hätte, müßte ihnen arm und ahnungslos gegenüber stehen, nicht als einer, den sie noch verführen können."*

    Das postulierte neue Sehen in den "Briefen über Cézanne", zeichnet sich durch Ablehnung jeglicher Auslegung und statt dessen durch tatsächliches "Wissen" aus, was Rilke insbesondere von Cézanne erfüllt sieht:

    ">Hier [...], dieses hat er gewußt, und nun sagt er es (eine Stelle an einem Apfel); nebenan ist es noch frei, weil er das noch nicht gewußt hat. Er machte nur, was er wußte, nichts anderes.<"* (vgl. Abb. 5)

    Der inkonsistente Gebrauch des Wortes �wissen� erschwert die Interpretation der Briefe. Insgesamt typisch für Rilkes Briefe ist, dass das gleiche Wort mit zahlreichen Bedeutungen verwendet wird, ohne dass eine klare begriffliche Scheidung stattfindet. Während Rilke van Gogh vorwirft, er habe "zu viel gewusst", zeichnet Cézanne sich gerade dadurch positiv aus, "dass er gewusst hat", was er malte. Bei letzterem ist ein absichtsloses �Wissen� jenseits der Begriffe gemeint, während van Gogh ein intentionales �Wissen� zum Vorwurf gemacht wird, das sprachlich vor sich gehe und dem Malen des Bildes vorausgeht.

    Die cézannesche Leistung der "unbestechlich[en] [...] Sachlichkeit seines Anschauens"* sei nur im künstlerischen Schaffensprozess zu erreichen, den Rilke immer wieder als "anonyme Arbeit"* und als existentielle Verpflichtung kennzeichnet, die mit Metaphern der Armut beschrieben wird* und als Selbstentgrenzung durch passive Hingabe und mediales Aufgehen im Gegenstand erscheint. Das Dasein des Künstlers wird zu einem "Zustand der Gnade", der Opferbereitschaft und zu prophetischer, ja messianischer Größe überhöht*, zu deren Erreichen ungewöhnliche Anstrengungen, Selbstaufgabe und Leidensbereitschaft erforderlich seien. Derartiger Nimbus der Einsamkeit und der Opferbereitschaft der großen Meister ist als stereotypes Künstlerbild aus zahllosen Künstleranekdoten und –legenden bekannt*. In den "Briefen über Cézanne" sind nur knappe Hinweise auf die Vita des "Wunderlings" Cézanne enthalten. Diese übernimmt Rilke von Èmile Bernard, dessen "Souvenirs sur Cézanne" in zwei Nummern des "Mercure de France" parallel zur Ausstellung erscheinen*. Im Brief vom 9. Oktober wird Cézannes Leben und Arbeitsweise in Anschluss an den "Berichterstatter aller dieser Tatsachen" insgesamt in den Zügen eines Martyriums geschildert:

    "[...] jedesmal auf dem Weg zu seinem Atelier verlacht, verspottet, mißhandelt, - den Sonntag aber feiernd, die Messe und Vesper hörend wie als Kind [...]"*.

    Rilke kolportiert auch die Anekdote, Cézanne habe so sehr in seiner Arbeit gelebt, dass er, als seine Mutter bestattet wurde, nicht da war, weil er sich ">sur le motif<" befand*. Ebenso schildert er van Goghs Künstlertum in Anschluss an dessen Briefe an seinen Bruder Theo in nahezu hagiographischen Tönen als Forderung und existentielle Verpflichtung*.

    Rilke versucht derartigen Leitbildern zu folgen, wenn er für sich um Erlernen neuen Sehens bemüht ist. Das Motiv der Einsamkeit durchzieht auch in Hinblick auf seine Person die "Briefe über Cézanne", so im Brief vom 2. Oktober:

    "... Gestern sah ich zum erstenmal jemanden seit vielen, vielen Wochen [...]."*

     

    Problem der Nichtintentionalität

    Das Lernziel eines neuen Sehens ist, sofern überhaupt möglich, nur mit großer Geduld und außergewöhnlichen rezeptiven Fähigkeiten zu erreichen. Auf der einen Seite geht es Rilke um völlige Zurücknahme der Intentionen und aller subjektiven und kollektiven Anschauungen, andererseits aber auch um eine zielgerichtete Hinterfragung eben dieser Anschauungen. Ersteres findet den prägnantesten Ausdruck im Bild des Hundes:

    "Wie ein Hund hat er davorgesessen und einfach geschaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht."*

    Das Schauen des Hundes bezeichnet die unmittelbare oder als unmittelbar angenommene aspektfreie Sinneserfahrung, wie die Vokabel �schauen� in den Briefen im Gegensatz zu �sehen� meist für unmittelbare, nichtintentionale, entsubjektivierte Erfahrung einsteht, der eine große Wahrheitsnähe zugesprochen wird, und die deshalb mehrmals im Kontext mit �wissen� oder �erfahren� Verwendung findet.* Rilkes Gebrauch weicht damit ab von der gewöhnlichen Unterscheidung zwischen �schauen� und �sehen�, die z. B. nach Grimms Deutschem Wörterbuch, welches Rilke in Paris sehr gewissenhaft studiert hat*, "dieselbe wie die zwischen lat. spectare, tueri und videre [...] oder – bei einer andern sinneswahrnehmung – zwischen horchen und hören" ist, so dass Ersteres im Gegensatz zu Rilkes Gebrauch gerade "einen bewuszten willensact, die selbstthätige richtung des blickes auf etwas hin", Letzteres "die passive affection des sinnes" bezeichnet.* Rilkes abweichender Gebrauch lässt sich möglicherweise aus dem Hinweis im Grimm�schen Wörterbuch erklären, dass dieser Unterschied in der "heutigen [=1893] Sprache nicht streng innegehalten" werde. Die Untersuchung sämtlicher Belegstellen in den "Briefen über Cézanne" lässt jedoch eher auf einen reflektierten Gebrauch schließen. Rilke hat vielleicht �schauen� als metaphorische Bezeichnung für "ein inneres, geistiges, nicht sinnliches wahrnehmen" aufgefasst und �schauen� somit für der Erkenntnis näher stehende Perzeption verwendet – wiewohl Erkenntnis bei Rilke mehr sinnlich denn geistig gedacht ist*.

    Neben dem Postulat des nichtintentionalen Schauens erkennt Rilke auch die Notwendigkeit einer als Bewusstseinsakt zu vollziehenden Befreiung von Sehkonventionen, die deren Hinterfragung voraussetzt. Man muss sich verunsichern, um dem neuen Sehen Raum zu geben*. In Anlehnung an Husserl kann ein solches Verfahren als phänomenologische Reduktion bezeichnet werden. Diese ist eine Methode, über die Bedeutungen zu reflektieren, die der Geist in eine Sache legt, wenn er sie betrachtet*, wobei vorausgesetzt ist, dass das Sehen ohne Deutung nie auskommen kann, da es immer intentional ist* und nach Wittgenstein jedes Sehen ein Sehen als etwas ist*. Wittgenstein stellt zur Illustration der Unmöglichkeit eines aspektfreien Sehens die Frage:

    "Könnte es Menschen geben, denen die Fähigkeit etwas als etwas zu sehen, abginge – und wie wäre das? Was für Folgen hätte es?"*

    Rilkes Projekt eines neuen Sehens kann nicht derartige "Aspektblindheit" anstreben, sondern lediglich einen Aspektwechsel, bzw. sogar nur - will man Sehen als Zustand und Deuten als Denken bzw. Handeln auffassen - eine Vergewisserung über den konventionell überkommenen Deutungshintergrund sein. Wittgenstein zufolge ist ein Aspektwechsel zugleich Resultat bewusster und unbewusster Vorgänge, "halb Seherlebnis, halb ein Denken".* Von der Richtigkeit der konventionellen Sichtweisen hat der Einzelne sich ja nicht selbst überzeugt, sondern er partizipiert an einem ihm etwa durch Sprache objektiviert und sinnhaft erscheinenden "Weltbild", das Teil einer gesellschaftlich konstruierten "Wirklichkeit der Alltagswelt" ist. Gerade Sprache funktioniert für den Einzelnen als mächtiges "Koordinatensystem" seines Lebens in der Gesellschaft*. Für Rilke muss es also notwendig sein, die herkömmliche Wahrnehmung der Welt zu hinterfragen und eine neue Sichtweise, die ermöglicht, dass der Gegenstand völlig, d. h. sachlich, erfahren wird, anzustreben. Erst nach diesem bewusstseinsmäßigen Hinterfragen kann es möglich sein, von den schon vorexistenten Bedeutungen abzusehen und, wie Rilke über Cézannes Vorgehensweise schreibt, "in einem Jenseits von Farbe" dem Ding eine neue Bedeutung und "eine neue Existenz" zu geben*, die von der konventionellen Sichtweise frei ist. Auch diese ist natürlich nicht aspektfrei, sondern ebenso ein Blick auf das Phänomen, also auf die Erscheinung, und nicht auf das Ding an sich. Die Frage nach der wirklichen Existenz der betrachteten Sache ist davon nicht betroffen – das Sein der Erscheinung macht nur aus, dass sie erscheint, und ein Sein-hinter-der-Erscheinung müsste mit Nietzsche als Wahn der Hinterweltler angesehen werden*. Rilke scheint hinsichtlich dessen etwas unentschlossen; ein Blick auf die Textbelege für "wirklich/Wirklichkeit" gibt allerdings – wie oben dargestellt wurde - Hinweise darauf, dass es für ihn nicht eine Wirklichkeit an sich, sondern zahlreiche Wirklichkeiten gibt, unter denen eine sich als Wirklichkeit par excellence darstellt.*

    Dass Rilke erkannt hat, wie neues Sehen nicht allein durch Ausschalten des eigenen Bewusstseins, sondern auch durch einen im Bewusstsein zu vollziehenden Prozess erlernt werden muss, wird im Malte-Roman ersichtlich, den Rilke an zentraler Stelle der "Briefe über Cézanne" als Scheitern des Protagonisten vor eben dieser Aufgabe begreift:

    "Und mit einem Mal (und zum ersten) begreife ich das Schicksal des Malte Laurids. Ist es nicht das, daß diese Prüfung ihn überstieg, daß er sie am Wirklichen nicht bestand, obwohl er in der Idee von ihrer Notwendigkeit überzeugt war, so sehr, daß er sie so lange instinktiv aufsuchte, bis sie sich an ihn hängte und ihn nicht mehr verließ? Das Buch von Malte Laurids, wenn es einmal geschrieben wird, wird nichts als das Buch dieser Einsicht sein, erwiesen an einem, für den sie zu ungeheuer war."*

    Vor allem die späteren Briefe haben Züge eines Bekenntnisses, das eine völlige Hinwendung an jene Prüfung bedeutet, die Malte Laurids überstieg:

    "Du erinnerst sicher ... aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids die Stelle, die von Baudelaire handelt und von seinem Gedicht: >Das Aas<. Ich mußte daran denken, daß ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst mußte es da sein in seiner Unmittelbarkeit. Erst mußte das künstlerische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, "gilt"."*

    Was Rilke hier als "Unmittelbarkeit" ausgibt, kann nur das Resultat der vollzogenen Wandlung und Überwindung sein. In den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" geht es um die, nach Ulrich Fülleborn, "bewußte Infragestellung von allem je Gedachten"*; in dem angesprochenen Abschnitt um die Kritik an der Herrschaft der Begriffe von "wahr", "schön", "gut", zu welcher Baudelaires epochaler Gedichtzyklus "Les Fleurs du mal" (1857) den Weg geebnet hatte. Für Baudelaire wird die Welt zum Reservoir von Zeichen, zum "Wald von Symbolen" ("une fôret de symboles"), den es zu zerlegen gilt, und der neu und unkonventionell wieder verknüpft werden muss. Durch solche Aspektwechsel entstehende ungewöhnliche Bezüge und Entsprechungen ("correspondances"*) haben Erkenntniswert und spiegeln den geheimen Zusammenhang aller Erscheinungen in der Natur, die von Moralität und Wahrhaftigkeit abgekoppelt wird. Allein das Rätselhafte, Geheimnisvolle, Künstliche, Amoralische besitzt für Baudelaire noch Schönheit und Bedeutung. Mit dieser Neudefinition von Schönheit übte der Franzose auf Rilke großen Einfluss aus; auch die bizarren Reize der modernen Großstadt, die Baudelaire als Ort der potenzierten Häßlichkeit und der Auslöschung von Individualität abstößt und gleichzeitig als Quelle neuer Reize und Sensationen fasziniert, werden somit poesiefähig gemacht.

    Malte, so interpretiert Rilke seine Figur, gelingt es nur zweimal, die "Prüfung" am Wirklichen zu bestehen und das Leben zu bejahen: in der Rechtfertigung von Baudelaires Gedicht "Une Charogne" und in der Schilderung des Todes des Kammerherrn*. Gleichwohl wird in den "Briefen über Cézanne" kein Beitrag zu einer Ästhetik des Häßlichen geleistet. Rilkes neues Sehen hat mit dem Naturalismus z. B. eines Flaubert, Courbet, Zola oder Proudhon, die einen urteilsfreien Blick auf das milieu sociale der Großstadt anstrebten und sich "ein beständiges Streben [...] nach genauer Beobachtung der Natur und engem Anschluß an das Leben" in seiner "ganzen Nacktheit" auf die Fahnen geschrieben hatten, wenig gemeinsam.* Das milieu sociale ist – abgesehen von einigen Reflexen über die Großstadt, die z. T. wörtlich Aufnahme in den Malte-Roman gefunden haben - nicht Gegenstand von Rilkes "Briefen über Cézanne"; Rilke teilt nicht die durchaus naive Auffassung der Naturalisten, durch bloße Neutralisierung der künstlerischen Individualität könne in der Kunst eine absolute Entsprechung zur Wirklichkeit hergestellt werden.* Wenn zu den Verdiensten der Naturalisten gerechnet werden kann, dass sie, wie Konrad Fiedler schreibt, die Kunst auf die Erde zurückgeführt und somit die Vorherrschaft von Geist oder Phantasie in ihre Schranken gewiesen haben,* so folgt Rilke ihrem Vorbild, indem er sich auf die sichtbaren Objekte konzentriert und die überkommenen Vorstellungen zu überwinden, die Produkte der Phantasie auszuklammern bemüht ist.

    Wie den Naturalisten geht es Rilke offenbar zunächst darum, seinen Blick zu schärfen und seine schriftstellerische Geschicklichkeit zu vervollkommnen*, wenn er im Brief vom 13. September Heidekraut, welches ihm seine Frau zuvor geschickt hat, mit neuen Augen und bis in die kleinsten Einzelheiten sehen und beschreiben will. Für den kaum sagbaren Duft der Heide findet er folgende Worte:

    "Aber wie herrlich ist er doch, dieser Duft. Nie scheint mir, läßt sich die Erde so einatmen in einem einzigen Geruch, die reife Erde; in einem Geruch, der nicht geringer ist als der Geruch des Meeres, bitter, wo er an den Geschmack grenzt, und mehr als honigsüß dort, wo man meint, daß er an die ersten Töne stoßen müsse. Tiefe in sich enthaltend, Dunkelheit, Grab beinah, und doch auch wieder Wind, Teer und Terpentin und Ceylontee. Ernst und dürftig wie der Geruch eines Bettelmönchs und doch auch wieder wie kostbares Räucherwerk harzig und herzhaft."

    In dieser Beschreibung versucht Rilke tatsächlich wie ein Naturwissenschaftler, die Phänomene in ihrer Zusammensetzung bis ins Kleinste, ja fast bis auf die molekularen Elemente des feinen Duftes ("Wind, Teer und Terpentin und Ceylontee") zu analysieren und diese alle in ihrer Widersprüchlichkeit einzeln gelten zu lassen. Dadurch kommt er dem Duft in seinem objektiven Gegebensein nahe und verleiht ihm in der Aussprache Dinglichkeit; bei diesem Versuch muss er an die Grenzen des sprachlich Ausdrückbaren stoßen und sich, da für das Beobachtete Vokabeln fehlen, in den Bereich sekundären und somit nicht mehr Subjekt-unabhängigen, sondern der Verknüpfung verschiedener Vorstellungen entspringenden Empfindens flüchten. Am Duft der Heide kann sehr gut die Unzulänglichkeit der Begriffe gezeigt werden; Rilke beschränkt sich nicht einfach auf die "Dinge, welche sich schreiben lassen"*, sondern versucht sich im Sagen des Nicht- oder Kaum-Sagbaren an der Überwindung der Schranke, indem er mit neuartigen und unverbrauchten synästhetischen Metaphern oder bildlichen Vergleichen ("daß er an die ersten Töne stößen müsse") eigentlich dem Duft fremde Eigenschaften auf diesen überträgt. Dadurch erzielt er durchaus eine erstaunlich differenzierte Beschreibung, die jedoch kein Subjekt-unabhängiges Objekt mehr zum Gegenstand hat, sondern über das bloße Evozieren des Gegebenen weit hinausgeht und in der Bemühung um das Unsagbare, so Richard Exner, "sprachliche Landgewinne und Entdeckungen" macht, indem Substantive und Adjektive miteinander in Beziehung gebracht werden, die ihrer eigentlichen Bedeutung nach sich keineswegs als Kontexte implizieren. Die Synästhesie ist auch das gemäß Baudelaires Konzeption vom Zusammenklang aller Erscheinungen in einer Natur, die sich dem Menschen nicht mehr direkt offenbart, adäquate Stilmittel*.

    Das Problem und die Grenzen nichtintentionalen Anschauens und Sagens liegen darin, dass es Ergebnis von Assoziationen der Ähnlichkeit oder Berührung ist und erst durch die Verknüpfung der gegebenen Dinge mit der Vorstellungswelt des Autors die Erzeugung von in Sprache konstituierten Dingen gelingen kann, die dann kein bloßes Abbild des Gegenstandes, sondern eher ein sprachliches Äquivalent zu ihm sind. Gerade das Ausdrucksmittel der Synästhesie beruht, wie Klaus Baumgärtner zeigen konnte, auf der Nutzung sprachlicher Universalien, d. h. sprachimmanenter Strukturen, die sich von den eigentlichen usuellen Bedeutungen abstrahieren lassen, und auf deren Anwendung auf den Bereich einer anderen Sinneswahrnehmung*. Um jedes einzelne Detail bemüht, da er weiß, dass das Wirkliche unbeschreiblich ist "bis ins Kleinste hinein"*, verlässt Rilke den Boden der konventionellen Sprache und schöpft für die Beschreibung des optischen Eindrucks des gleichen Zweiges Heidekraut neue, die Grenze des Sagbaren auch in der Wortform selbst schon berührende, jedoch analog der sprachlichen Universalien und seiner privaten Vorstellungen gebildete Worte:

    "... niemals hat mich Heidekraut so gerührt [...]. Sieh die Farbigkeit des Grüns, in dem ein wenig Gold ist, und das sandelholzwarme Braun der Stämmchen und die Bruchstelle mit ihrem neuen, frischen, inneren Kaumgrün."*

    Derartige Beschreibung ist nicht bloß Transskript von gesehenen Dingen, sondern das Ergebnis der Arbeit eines geübten Beobachters, der in Sprache das Bild eines Objekts, mit dem er sich eindringlich auseinandergesetzt hat, herstellt. Bei seiner neuen Sehweise, bei der es darum geht, Dinge nicht oder neu interpretiert anzuschauen, muss Rilke ausgiebig am Objekt arbeiten, um dessen Eigenheiten, die jenseits der herkömmlichen Begriffe und Vorstellungen liegen, voll zu erfassen. Wenn er seine Beobachtungen winzigster Fragmente und Nuancierungen in "Kaum-Wörter"* wie "Kaumgrün" oder in auf ungewöhnlichen Analogiebeziehungen beruhende Wortbildungen wie "sandelholzwarm" übersetzt, so entspricht das Nietzsches sprachkritischer Forderung, die üblichen klassifizierenden Begriffe, die "durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" und aus dem "Übersehen des Individuellen und Wirklichen" entstehen, über Bord zu werfen und noch einmal von vorne anzufangen*. Den Naturalismus mit seiner Berufung auf den festen Grund wissenschaftlicher Erkenntnis hat Rilke damit weit hinter sich gelassen; ein Vergleich mit den Errungenschaften anderer visueller Pioniere ist aber möglich und soll einigen Aufschluss über die Schwierigkeiten von Rilkes Unterfangen geben. Auch Leonardo da Vinci ging es in gewissenhafter und detailgenauer Einzeluntersuchung darum, aus bloßem Sehen einen Erkenntniszugewinn zu erzielen, da er durch genaue Beobachtung und Nachzeichnung der Anatomie ein neues Verständnis vom menschlichen Körper gewinnen wollte. Doch obwohl er nach dem Urteil des Kunsthistorikers Ernst H. Gombrich der größte aller visuellen Entdecker war*, blieb auch er trotz der Bemühung um rein sachliches Sehen in seinen Beobachtungen so sehr in den Meinungen der bis dahin geltenden Medizin des antiken Arztes Galen verfangen, dass er in seinen Zeichnungen nachweisbar Fehler gemacht hat, die sich aus Galens Begriffen herleiten lassen*. Rilke muss mit den selben Schwierigkeiten klarkommen, wenn es ihm um ähnliches sachliches, zwar nicht naturwissenschaftliches Sehen, angesichts des Heidekrauts um beinahe mikroskopisches Betrachten und dadurch – wie Leonardo - um Überwindung der überkommenen Anschauungen geht; anders als dieser ist er sogar am Sagen des Nicht-Sagbaren interessiert.

    Weil Rilke davon überzeugt ist, dass es mit dem bloßen Evozieren des Sagbaren nicht getan ist, läßt er Malte, der erkannt hat,

    "daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat",

    obwohl man Jahrtausende Zeit gehabt hat, "zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen"*, und der Angst davor hat, dass auch er "nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist,"* ausrufen:

    "Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich – ausführlich."*

    Friedrich Gundolf hat Rilkes Absichten treffend als eine "neue Mikroskopie der Seelenwahrnehmung" bezeichnet*, welche nicht nur den Malte-Roman auszeichnet, wie dies dort z. B. in der eindringlichen Schilderung der bloßgelegten Mauer eines abgerissenen Hauses der Fall ist*, sondern um die Rilke auch in den "Briefen über Cézanne", und auch schon vor dem Besuch des Herbstsalons, bemüht ist.

    Als Metapher für Rilkes eigenen Zustand des noch in den korrumpierenden Begriffen befangen und somit noch nicht zu sachlichem Betrachten fähig Seins kann das Bild des Granatapfels im Brief vom 29. September gelesen werden. Dessen bloßes "Ornament des Blütenstempels"* ist prägnanter Ausdruck für jenen leeren Reichtum, an dessen Stelle die von Rilke ersehnte Armut eines neuen Sehens zu treten hat. Auch die Beschreibung des Granatapfels selbst ist auffallend ornamentreich und läßt an die "leere Hülse" denken, von der Rilke im Brief vom 16. September schreibt, dass sie ihn sehr traurig gemacht habe*.

    Rilke weiß, wie er am 13. September formuliert, dass neues Sehen erst dann möglich sein wird, wenn man über das bloße Hineinsehen und Deuten und mit sich Verbinden hinausgehend dazu gelangt, etwas selbst "zu "machen"*, und stellt fest, als er viel später, auf die Dichotomie von sehen und arbeiten wieder Bezug nimmt, dass "Einsicht [...] nur innerhalb der Arbeit" zu gewinnen ist*. Dieses Theorem einer produktiven Einbildungskraft kann Rilke erst an der Auseinandersetzung mit Cézanne weiterentwickeln, der es als Maler nicht mit Sprache, sondern mit einer anfangs noch bedeutungsfreien Substanz, der Farbe, zu tun hat. Es handelt sich dabei um eine Fortführung der am Vorbild des Bildhauers Auguste Rodin entwickelten Einsichten.

    Rodin als autonomer Künstler

    Im Grunde ist der Rodin-Essay von 1902/03, dem Rilke in der zweiten Auflage im Juli 1907 einen Vortrag beigefügt hat, der Ausgangspunkt der "Briefe über Cézanne". Im Brief vom 28. Juni teilt Rilke mit, dass er den zweiten Teil seines Rodin-Buchs noch zu schreiben habe, für welchen er den vorhandenen Vortrag "kaum oder gar nicht verändert" gelten lassen wolle. Die Feststellung, dass diese Einsichten für ihn durch "gewisse Verschiebungen des Standpunktes" eigentlich keine Gültigkeit mehr besitzen, ist als innere Abschiednahme von Rodin und zugleich als Ausblick auf etwas Neues zu werten, das über die im Rodin-Buch manifestierten Einsichten hinausgeht. Rilkes vage Andeutungen geben zu erkennen, dass sein Ungenügen am Rodin-Aufsatz keine Unzufriedenheit mit seinem Vortrag, sondern ein gewandeltes Verständnis des Rodinschen Werks ist:

    "Verstehen kann ich ihn noch ganz, scheint mir, wenngleich ich auch anfange zu verstehen, daß vieles darin Erkannte vielleicht zu den Ansprüchen gehört, die Rodin uns stellen gelehrt hat, nicht zu denen, die sein Werk von Fall zu Fall erfüllt."*

    In Rodin hat Rilke einen Künstler gesehen, der von konventionellen Anschauungen und Erwartungen unbeeindruckt sowie "unbeeinflußt von der Zeit" und vom "Zuruf und dem Urteil der Menge" ist,* und dem er deswegen "tiefe Übereinstimmung mit der Natur" und prophetische Größe attestiert*. Rilkes Monographie ist zugleich Apotheose* von Rodin, der "mit den Mitteln seiner Kunst" Offenbarungen des Lebens empfange und in solcher Weise in seinen Arbeiten aufgehe, dass er im zweiten Teil des Rodin-Buchs mit diesen einfach gleichgesetzt wird*, und persönliches Bekenntnis zu dessen Leben und Werk; Rodin wird in ihr zu einer Vater- und Leitfigur für Rilkes eigenes Schaffenwollen erhoben. An Lou Andreas-Salomé schreibt Rilke am 1. August 1903 über das Buch:

    "Das kleine Buch von dem Werke Rodins [...] ist lauter persönliches Erlebnis, ein Zeugnis jener ersten Zeit in Paris, da ich im Schutze eines übergroßen Eindrucks mich ein wenig geborgen fühlte [...]"*

    Rilke schloss sich 1902 dankbar dem Beispiel Rodins an und machte ihn sich zum "Modellkünstler" schlechthin, der sein Leben ganz der Kunst verschrieb; die in den "Briefen über Cézanne" postulierte Opferbereitschaft hat Rilke also auch schon in Rodin erkannt.*

    In Rodins Skulpturen, das soll hier exemplarisch an der Plastik "Le Masque de l�Homme au nez cassé" veranschaulicht werden (vgl. Abb. 9), sieht Rilke eine besondere Entsprechung zur Wirklichkeit*. In diesem "Kopf eines alternden, häßlichen Mannes" mit gequältem Ausdruck des Gesichts, für den, wie wir von Rilke nicht erfahren, ein Mann vom Pariser Pferdemarkt am Boulevard Saint-Marcel als Modell gedient hatte, entdeckt Rilke Leben als zentrales Thema von Rodins Kunst. Dieses Leben ist in der Skulptur durch Bewegung ausgedrückt: als Rodin das Gesicht durchforschte, das ruhig aber lebendig vor ihm saß, zeigte sich, "daß es voll von Bewegung war, voll von Unruhe und Wellenschlag", die sich in der Plastik im Lauf der Linien, in der Neigung der Flächen, in den Schatten und in den Wirkungen des Lichts äußert. Alle bewegten Flächen bilden untereinander insgesamt einen Ausgleich, wodurch das Werk als in sich geschlossen erscheine. Es richtet sich nicht an die Welt, sondern "scheint seine Gerechtigkeit in sich zu tragen"*. Somit ist die Bronze-Plastik "sakrosankt, getrennt vom Zufall und von der Zeit"*, eine autonome Kunsteinheit:

    "Was die Dinge auszeichnet, dieses Ganz-mit-sich-Beschäftigtsein, das war es, was einer Plastik ihre Ruhe gab."*

    In Rilkes Einsicht in die Geschlossenheit des Kunstwerks, die für das Verständnis von Cézannes Werk von entscheidender Bedeutung sein soll, liegt eine Absage an den traditionellen Form-Inhalt-Dualismus und an das Mimesis-Postulat des Kunstwerks. Rilke hat das Kunstwerk als Erzeugung einer originären, von autonomen Bildzeichen geprägten Einheit erkannt:

    "man hat sich sehr rasch an diesen Eindruck gewöhnt, man hat [...] einsehen und glauben gelernt, daß ein künstlerisches Ganzes nicht notwendig mit dem gewöhnlichen Ding-Ganzen zusammenfallen muß, daß, unabhängig davon, innerhalb des Bildes neue Einheiten entstehen, neue Zusammenschlüsse, Verhältnisse und Gleichgewichte."*

    Das Selbe gelte für die Skulptur, wo selbst das Fragment die Autonomie des Kunstwerks für sich beanspruchen könne.

    Rodins Plastik steht als autonomes Bildzeichen nicht in einem abbildenden Verhältnis zur Wirklichkeit. Dennoch glaubt Rilke in ihr eine tiefe Übereinstimmung mit der Natur, also mit der Wirklichkeit, zu erkennen, die weiter geht als das, was den Auffassungen des programmatischen Realismus entspricht, wie sie v. a. von dem Künstler Courbet und dem Sozialphilosophen Proudhon formuliert worden waren. Der programmatische Realismus forderte, dass die Kunst unter dem Gesetz der Wahrheit stehen solle, unter dem das Schöne und das Häßliche gleichberechtigte Erscheinungen sind. Die Wahrheit sei aber nicht einfach zu reproduzieren oder zu imitieren, sondern zu interpretieren, wobei allein schon die Auswahl aus der Fülle der Naturerscheinungen die Interpretation bedinge. Kunst habe aktuell zu sein und sich primär mit dem milieu social, dem gesellschaftlichen Zustand, auseinanderzusetzen.* Diese Forderungen werden von Rodins Frühwerk wie dem "Homme au nez cassé" gewiss erfüllt, doch Rilke denkt bei der Interpretation der Plastik nicht an die soziale Wirklichkeit des Dargestellten. Er stellt zwar in der Häßlichkeit des Mannes mit der gebrochenen Nase eine besondere Art von Schönheit fest und ist ergriffen "von der vielstimmigen Qual dieses Angesichtes", doch betrachtet er die Bildwerke als autonome Dinge mit Augenmerk auf den "Verlauf der Linien", die "Neigung der Flächen, die Schatten" und "das Licht an der Stirne" – und nicht auf ihren Bezug zur Welt*.

    Rodins Plastiken stellen keinen singulären Augenblick dar, sondern sind – wie die "Bürger von Calais" - an dem einen großen Augenblick interessiert, der Lessing zufolge nötig ist, um temporäre Abläufe im statischen Medium der Plastik auszudrücken und der den wesentlichen Unterschied zwischen der bildenden Kunst und der durch Nacheinander gekennzeichneten Dichtung ausmacht:

    "Die Malerei [und auch Bildhauerei; B. K.] kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird."*

    Darüber hinausgehend erkennt Rilke in Rodins Plastiken die gewaltige Zusammenfassung "von hundert und hundert Lebensmomenten"*, aus welcher nicht allein das Vorangehende und Folgende einer Handlung oder Bewegung, sondern überhaupt das "Wesen" eines Menschen ersichtlich werde:

    "Aus allen Weiten ihres Wesens sind diese Menschen zusammengeholt, alle Klimaten ihres Temperaments entfalten sich auf den Hemisphären ihres Haupts."*

    Die "überlebensgroßen" Gebärden von Rodins Plastiken sind für Rilke Zeichen, die auf das Leben selbst weisen; in ihnen sei "die Fülle von Leben" versammelt*. Rilke spricht den Gebärden eigenes Leben und eigene Bedeutung zu und meint nicht lediglich eine ausdrucksvolle Hand- oder Körperbewegung, sondern im Sinne der Angaben in Grimms Deutschem Wörterbuch die Gesamthaltung, den "gestus" (von "se gerere") eines Menschen*. Eine ähnliche Auffassung von Gebärden vertritt Hofmannsthal, der deren Überlegenheit über die Sprache betont: "Eine reine Gebärde ist wie ein reiner Gedanke."* Für Rilke besteht die Überlegenheit der Gebärde wohl darin, dass sie das Seiende nicht auf einen einzigen Begriff reduziert, sondern eine endlose Vielfalt von Bedeutungen bezeichnet:

    "Sie hat tausende. Wie Schatten gehen die Gedanken über sie und hinter jedem steigt sie neu und rätselhaft auf in ihrer Klarheit und Namenlosigkeit."*

    Rilke hat an Rodins Skulpturen sein Kunstverständnis zu der Erkenntnis einer "künstlerischen Wahrheit" geschult, die der Wahrheit im gewöhnlichen Sinne nicht entsprechen muss, in der aber die natürliche Form erkannt werden kann. In Rodin sah er weder einen Nachahmer der Natur, noch sah er die Quelle für seine Plastiken in künstlerischer Phantasie und Willkür. Vielmehr hat Rilke erkannt, dass sich bei Rodin "während der Arbeit das Stoffliche immer mehr in Sachliches und Namenloses: in die Sprache der Hände" übertrage* und dass in seinen Kunstwerken eine über die von Nietzsche angeprangerte Herrschaft unzulänglicher Begriffe hinausweisende Bedeutung gestiftet wird. Dadurch entfernt sich die Kunst nicht vom Wirklichen, sondern sie kommt so erst zu ihm hin, indem sie den stofflichen Vorwurf völlig ins "Sachliche" transponiert, das ohne zusätzliche Sinngebung einfach für sich steht und reine gestaltete Materialität ist*. Rilke entwickelt hier eine Theorie der absichtslosen Arbeit, die auch noch in den "Briefen über Cézanne" eine zentrale Rolle spielt. Die Vorgehensweise des Künstlers beschränke sich im Aufnehmen und Registrieren ("Er beobachtet und notiert"*) sowie im Formen des im künstlerischen Subjekt, das sich als Medium den Eindrücken absichtslos ausliefert, Sedimentierten. Dieses könne nur dann emportauchen, wenn es im Kunstwerk geformt wird. Insofern ist Rodins Kunst zumindest für Rilke als Verfasser des Rodin-Essays im Sinne des berühmten Diktums von Paul Klee wirklichkeitskonstitutiv und im Einverständnis mit der Natur: "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."* All das rechnet Rilke in den "Briefen über Cézanne" nur noch zu den Ansprüchen, die Rodin geweckt, aber nicht erfüllt hat*; Rilke beklagt das Vorhandensein von Intention in Rodins Zeichnungen: "ihre Deutung und Deutbarkeit störte mich [...]"*.

    Der Rodin-Aufsatz kann als Übergang zwischen Rilkes neuromantischem Frühwerk und der Sachlichkeit seiner mittleren Schaffensphase angesehen werden, da Rilke – wie Ralph Köhnen feststellt – "die ganze Symbolschwere und das Lebenspathos der frühen Lyrik in der Ausdrucks- und Signifikationskraft der Rodinschen Skulpturen wiederentdeckt" und zugleich "diesen Ausdruck an Formreflexionen bindet, die dann 1907 wesentlich stärkeres Gewicht bekommen."* Das Hauptargument des als "Zweiter Teil" des Rodin-Buchs 1907 verfassten Vortrags liegt auf der Klärung des Verhältnisses von Kunst-Dingen zu Dingen* und in der Erörterung der Frage, wodurch überhaupt Dinge mit uns verwandt sind*. In Erweiterung des Theorems der schöpferischen "Arbeit der Hände" wird nun auch der aktive Anteil des Künstlers stärker betont; sein Beruf sei es, die Bedingungen, unter denen Schönheit entsteht, kennenzulernen und in aufmerksamer Verfolgung dieser Absicht die "Fähigkeit" zu erwerben, "sie herzustellen"*. Hierin ist keine Neubewertung der künstlerischen Tätigkeit, sondern ein tieferes Verständnis für dessen als Handwerk ausgegebene Arbeit zu sehen. Während Rilke diese im ersten Teil noch als reine absichtslose Medialität kennzeichnet*, scheint er nun das aktiv gestaltende Moment produktiven Künstlertums deutlicher erkannt zu haben.

    Absage an Vorstellung, Phantasie und dilettantisches Künstlertum

    Der Sinn des Diktums von der Kunst als "Sprache der Hände" ist vor dem Hintergrund einer traditionellen Kunstauffassung besser zu verstehen, die den Ort der Entstehung von Kunstwerken primär im Kopf und nicht in den Händen ansiedelte. Der Maler Conti in Lessings Emilia Galotti klagt:

    "Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wieviel geht da verloren! [...]

    Oder meinen Sie, Prinz, daß Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände geboren worden?"*

    Conti ist kein moderner Künstler und in seiner Vorgehensweise völlig von Rodin verschieden. Für ihn scheint das vollendete Kunstwerk bereits im Kopf fertig zu existieren, so dass es nur noch von den Händen auf die Leinwand übertragen werden muss. Das wesentliche Merkmal eines Künstlers kann demnach als Innerlichkeit oder melancholische schöpferische Benommenheit bezeichnet werden, wie sie Dürer auf seinem Kupferstich dargestellt hat (vgl. Abb. 10) und wie sie schon die Zeitgenossen und v. a. der Biograph Giorgio Vasari in Raffaels Charakter aufs Glücklichste vollendet sahen; nachdem Michelangelo die Welt mit seiner Kunst erobert habe, habe Raffael sie mit seinem Charakter eingenommen, in dem die feinsten geistigen Anlagen mit größter Anmut und Zurücknahme vereinigt seien*.

    Bei Rodin hingegen entsteht das Kunstwerk nicht im Kopf, sondern in der Arbeit der Hände, in welcher Vorstellungen oder Phantasie als Erzeugnisse des Geistes keinen Raum haben. In der künstlerischen Produktion gelingt es ihm, über das Gesehene hinausgehend neue Wirklichkeit herzustellen. Nur im Vollzug der Arbeit liegt seine künstlerische Eingebung.

    "Zu arbeiten wie die Natur arbeitet, nicht wie Menschen, das war seine Bestimmung."*

    Contis Idee eines handlosen Künstlers kann gewiss als Ausdruck eines eigentlich unkünstlerischen Dilettantismus gesehen werden, da selbst zu Raffaels Zeiten ein Künstler in erster Linie dadurch gekennzeichnet war, dass er ein Schöpfer mit seinen Händen war. Eine weitere Steigerung erfährt das Aperçu des untätigen, nicht produzierenden Künstlers in der Aneignung durch Goethes Werther. Der an der Krankheit einer übersteigerten Einbildungskraft leidende Emilia-Galotti-Leser seufzt in einer Reminiszenz an das Lessing-Drama:

    "Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. [...] Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen."*

    Der Dilettant Werther verwechselt das Gefühl der Natur mit deren künstlerischen Darstellung und will, wie Goethe später in einer Studie über den Dilettantismus äußerte,

    "das Passive an die Stelle des Aktiven setzen, und weil er auf eine lebhafte Weise Wirkungen erleidet, so glaubt er mit diesen erlittnen Wirkungen wirken zu können."*

    Mit dem selben Aperçu vom handlosen Künstler hat Nietzsche in pointierter Ironie die Unzulänglichkeit der Berufung auf bloß empirische Erfahrung diffamiert:

    "Ein Maler, dem die Hände fehlen und der durch Gesang das ihm vorschwebende Bild ausdrücken wollte, wird immer noch mehr bei dieser Vertauschung der Sphären verraten, als die empirische Welt vom Wesen der Dinge verrät."*

    Für Rilke, der sich beständig mit dem Problem seines eigenen Nicht-arbeiten-Könnens herumschlägt, wäre die Vorstellung eines handlosen und untätigen Künstlers absurder Widerspruch zu seinem Theorem von der intentionslosen schöpferischen Tätigkeit als "Sprache der Hände", die für Rodin in seiner auf Wirkung bedachten Kunst noch monumentales Prinzip ist, mit dem Dinge geschaffen, Fernen "gefangen" und "bewegt" und der Raum um die Skulptur "gezwungen" wird, an ihr teilzunehmen*.

    Wenn Goethe in Wilhelm Meister als Gegenfigur zum dilettantischen Werther einen Ausweg aus dessen willenskranker Lage aufzeigt, die in Entsagung von der eigenen übersteigerten Subjektivität und in Selbstbegrenzung liegt*, so projiziert Rilke den Ausweg zunächst in das Pathos einer monumentalen Arbeit, mit der jedoch die Vorstellung von künstlerischer Armut und von Entsagung des Künstlers vom Leben verbunden ist. Rilkes "Briefe über Cézanne" sind über den Rodin-Essay hinausgehend ein weiterer Schritt der Selbstbegrenzung und somit auch als eine Art Selbstbekehrung von einem als bedrückend empfundenen Gefühl eigenen Dilettantismus zu verstehen. Am Beispiel von Cézannes Beschränkung auf sehen und arbeiten wird eine tiefergehende Möglichkeit sachlicher Tätigkeit erkannt.

    Synthesis und Entzweiung bei Cézanne

    Anhand der Bilder und anhand von Bernards "Souvenirs" sowie in Folge einiger Hinweise von Gesprächspartnern im Herbstsalon erlaubt sich Rilke manche Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Malers Paul Cézanne. Diese gehe, so Rilke im Brief vom 21. Oktober, "unter den Farben vor sich", welche ganz allein gelassen werden, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander", so fasst Rilke die an der Betrachtung der Bilder des Franzosen gewonnenen Einsichten zusammen, "ist die ganze Malerei."*

    Sämtliche bewusste Eingriffe, Dazwischensprache, Anordnung, "menschliche Überlegung", "Witz" und Phantasie, "Anwaltschaft", "geistige Gelenkigkeit", also jede Intention, bleiben dem Künstler untersagt, da er durch sie die Handlung der Farben störe. Diesem Konzept vom Eigenwert der Farben zufolge wäre der Künstler nicht mehr als ein Medium, das "nicht zum Bewußtsein seiner Einsichten kommen" darf und "ohne den Umweg durch seine Reflexion zu nehmen" auf der Leinwand, dem einzigen Ereignisort dieser neuen Malerei, handwerklich agieren muss, wobei

    "seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie im Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag."*

    Stärker als bei Rodin sieht Rilke bei Cézanne die Forderung nach geduldiger Beschränkung auf absichtslose Arbeit erfüllt. Durch die Lektüre der "Souvenirs" von Bernard beeinflusst, erkennt Rilke die Eigenart von Cézannes Arbeitsweise, für den sein Werk "nur der Versuch und das Herantasten an seine Malerei"* war:

    "Ohne Freude eigentlich, wie es scheint, in fortwährender Wut, im Zwiespalt mit jeder einzelnen seiner Arbeiten, deren keine ihm das zu erreichen schien, was er für das Unentbehrlichste hielt."*

    Rilkes Darstellung des künstlerischen Prozesses, welchen Cézanne "la réalisation" nannte, was Rilke mit Ding-Werdung übersetzt, ist eine grandiose Fortführung des Konzeptes absichtsloser künstlerischer Tätigkeit als "Sprache der Hände", das nun von Rilke als Synthesis zweier "Vorgänge" erkannt wird. Außer dem rein passiven Moment des "gewissenhaften Aushaltens vor dem Gegenstand" und des "schauenden und sicheren Übernehmens"* ist der spontane Akt des "Sich-Aneignens und persönlichen Gebrauchens des Übernommenen" von Bedeutung. Neben die künstlerische Rezeptivität, welche unter Absehen von konventionellen Sehgewohnheiten und in geduldiger sachlicher und hochempfindlicher schauender Aneignung stattfindet, tritt ein produktives Moment, das sich von der Rodin zugeschriebenen bloßen "Arbeit der Hände" in wesentlichen Punkten unterscheidet. Das Schauen des Künstlers Cézanne, der gewissenhaft vor dem Gegenstand aushält und dessen rezeptive Tätigkeit Rilke "sein eigenes Erlebnis an dem Gegenstand" nennt, entspricht Rilkes Forderungen an ein neues Sehen. Cézanne selbst hat in einem Gespräch mit Joachim Gasquet die rezeptive Funktion des Künstlers als "Aufnahmeorgan" bezeichnet; der Künstler sei nur

    "ein Registrierapparat für Sinnesempfindungen, aber, weiß Gott, ein guter, empfindlicher, komplizierter, besonders im Vergleich zu anderen Menschen."*

    Der zweite "Vorgang" der Produktion fängt "sozusagen zugleich zu sprechen" an, so dass sich beide "einander fortwährend ins Wort fielen, sich beständig entzweiten." Es handelt sich um einen spontanen Akt des "persönlichen Gebrauchens des Übernommenen"*, dem aber im Grunde sämtliche Kennzeichen von Spontaneität abgesprochen werden. Cézanne übernehme "nur auf äußerst komplizierten Umwegen", indem er, wie der französische Phänomenologe Merleau-Ponty in seinem 1948 erstmals veröffentlichen Essay "Der Zweifel Cézannes" schildert, ein "Erforschen der Realität, ohne die Wahrnehmung zu verlassen" anstrebt. Das Bild geht bei Cézanne, wie Rilke weiß, vom Gegenstand und von der Farbe gleichzeitig aus, die in fortwährender künstlerischer Arbeit, "bei der dunkelsten Farbigkeit" einsetzend, "Farbe über Farbe hinaus erweiternd" vor sich geht, bis Cézanne "allmählich an ein anderes kontrastierendes Bildelement" kam, "bei dem er, von einem neuen Zentrum aus dann ähnlich verfuhr."*

    Diese Tätigkeit der Realisation oder "Dingwerdung" des Kunstwerks fasst verschiedene, sich "gegeneinander stemmende" Aspekte in ein Tun zusammen: das möglichst genaue, sachliche Sehen und die Ansichtigkeit der Natur, reflektieren und malen.

    Im Vorgang der Übertragung übersetzt der Maler die gesehenen Dinge in "sensations colorantes", d. h. in farbige Sehdaten.* Rilkes Ausführungen lassen eine Vorstellung vom Zusammenwirken von Rezeptivität und Spontaneität erkennen, wobei beide nicht von der Intention des Künstlers, sondern vom Gegebensein der Objekte und der Farbe als formendem Material bedingt sind; das Nebeneinandertreten beider Prinzipien entspricht in etwa der oben schon angeführten kantschen Synthesis, der zufolge jedes Erkennen als Synthesis eines von der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen durch die Formen des Verstands betrachtet wird. Cézannes Vorgehensweise ist ein beständiger Wechsel zwischen Synthesis und Entzweiung beider Vorgänge. Wenn er die seit der Renaissance gültige perspektivische Ordnung der Dinge zugunsten einer seriellen Reihung von Farbwerten aufgibt, wird die Schwierigkeit sichtbar, die darin besteht, sich von allen festgefügten Vorstellungen und Verstandesbegriffen zu befreien. Cézanne beschreibt seine Absichten wie folgt:

    "Ein Bild geben von dem, was wir sehen unter Auslassung alles dessen, was vor uns erschienen ist."*

    Derartiges ist nur möglich, wenn Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität produktiv miteinander verknüpft sind; erst dann findet Erkenntnis statt. Wilhelm von Humboldt hat in seinem frühen "Ästhetischen Versuch" "Ueber Göthes Herrmann und Dorothea" (1799) die kantsche Synthesis zur künstlerischen Einbildungskraft in Beziehung gebracht und eine Theorie der produktiven Einbildungskraft entwickelt*. Es komme darauf an, dass der Künstler als das schöpferische Subjekt das Objekt wirklich als sein Objekt erfahre. Er müsse die Wirklichkeit als das gewöhnliche Band zwischen Empfindung und Anschauung vernichten und sie – auch materiell – wieder neu herstellen, als Produkt seiner Einbildungskraft, als Bild. Durch diese Schöpfung (création nouvelle) wird das Objekt im Bild zum Subjekt-Objekt, das reflexiv auf den Schöpfer zurückwirkt, so dass dieser sich in ihm selbst erkennt und auf die Rezeptivität eines Anderen wirkt, wenn es dem Künstler gelingt, dessen "Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden". Die métamorphose étonnante, die die Kunst vollzieht, nämlich "das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln"*, vollzieht sich in der Abspaltung der Wirkung der Farbe vom Gegenstand des Verstandes.

    Rilke räumt der Verstandesarbeit nicht so hohe Bedeutung ein wie Humboldt oder Kant. Instanz der Erkenntnis ist ihm und auch Cézannes Selbstzeugnissen zufolge für die Malerei des Franzosen weniger der Verstand, sondern eher wie bei Rodin die "Sprache der Hände" bzw. ein Farbempfinden, das als Handlung der Farben untereinander benannt wird. Die Tätigkeit des Künstlers wird in den "Briefen über Cézanne" als größere Abstraktionsleistung erkannt, als dies bei Rodin der Fall ist. Insofern ist die künstlerische Produktion eine Art absichtsloser Spontaneität.

    Zur Wirklichkeit des Kunstwerks

    Schon in seinem Essay "Auguste Rodin" stellt Rilke die "Dinghaftigkeit" des Kunstwerks fest. Das Werk ist in sich geschlossen und richtet sich nicht an die Welt, sondern

    "scheint seine Gerechtigkeit in sich zu tragen, die Aussöhnung aller seiner Widersprüche und eine Geduld, groß genug für alle seine Schwere."*

    Dieses "Ganz-mit-sich-Beschäftigtsein" des Kunstwerks läßt es als autonomes Ding erscheinen, als sicher dastehendes Gebilde, das Rilke mit Attributen wie "unantastbar" oder "sakrosankt" belegt. Weil es "vom Zufall und der Zeit" getrennt ist, unterscheidet es sich von den gewöhnlichen Dingen*; auch eine unvollendete und fragmentarische Struktur kann sich als Plastik behaupten und als Bildwerk verdinglicht werden. So wird ein Körper ohne Arme möglich, ohne dass dem Betrachter das "Gefühl des Unfertigen" kommt:

    "es fehlt nichts Notwendiges. Man steht vor ihnen als vor etwas Ganzem, Vollendetem, das keine Ergänzung zulässt."*

    Im Kunstwerk entsteht etwas Wirkliches; das Kunstwerk der Moderne schafft – wie der Kunsthistoriker Werner Hofmann in gleichem Sinne (und im Anklang an die Theorie von Konrad Fiedler) schreibt - über das Gesehene hinausgehend neue Wirklichkeit:

    "[...] die Sprach- und Ausdrucksmittel des Künstlers – die Punkte Seurats [...], die vibrierenden Pinselrhythmen Van Goghs und die Farb-Formen Cézannes – [sind] Gestaltrealitäten [...], für die es weder in der Wahrnehmung, noch in der Empfindung und in der Vorstellung des Künstlers etwas Vergleichbares gibt. [...] der Künstler stellt neue Wirklichkeiten her, und er ist dabei auf die Eigenmacht seiner Ausdrucksmittel angewiesen"*

    Rilke beschreibt in den Briefen eingehend, wie im Kunstwerk durch Farbe neue Wirklichkeit konstituiert wird:

    "[...] später nimmt er [Cézanne] sie [die Farbe] irgendwie, persönlich, wie kein Mensch noch Farbe genommen hat, nur um das Ding damit zu machen. Die Farbe geht völlig auf in dessen Verwirklichung: es bleibt kein Rest. [...] Es ist wie auf eine Waage gelegt: das Ding hier, und dort die Farbe; nie mehr, nie weniger, als das Gleichgewicht erfordert. [...] es ist genau, was dem Gegenstand entspricht."*

    Die Gestaltwirklichkeit des Kunstwerks wird im Zusammenspiel der Farben untereinander konstituiert:

    "Wie im Mund des Hundes bei Annäherung verschiedener Dinge verschiedene Säfte sich bilden und bereit halten: zustimmende, die nur umsetzen, und korrigierende, die unschädlich machen wollen: so entstehen im Inneren der Farbe Steigerungen oder Verdünnungen, mit deren Hilfe sie das Berührtwerden durch eine andere übersteht."* (Vgl. Abb. 4)

    Rilke erkennt die Eigenmacht und gestaltende Kraft der Ausdrucksmittel: aus künstlichen ikonischen Zeichen, die kein passives Echo der Sinneseindrücke, sondern – nach Werner Hofmann - ein "durch und durch künstliches" Vokabular darstellen, wird das Kunstding konstituiert und dadurch in ihm ein anschauliches Korrelat zur Welt produziert*. Im Kunstwerk behauptet sich somit der Schein gegen seine Psychologisierung* und erlangt in einer von der Naturwirklichkeit grundsätzlich verschiedenen Kunstwirklichkeit zu Eigenrecht, indem der gewonnene Eindruck von der Sache, die ihn erzeugt, abgespalten ist. Auf den entscheidenden Erkenntnisgewinn wurde Rilke nach seiner eigenen Schilderung durch Fräulein V[ollmoeller], eine in Paris lebenden deutsche Malerin, gebracht, welcher er im Salon d�Automne begegnete. Von ihr stammt folgende in die "Briefe über Cézanne" aufgenommene Feststellung:

    ">Es ist wie auf eine Waage gelegt: das Ding hier, und dort die Farbe. [...] es ist genau, was dem Gegenstand entspricht.<"*

    Mit der Metapher der Waage, die Rilke im Brief vom 18. Oktober noch einmal aufgreift, wird die Beziehung zwischen Bild und Realität verständlich gemacht, die kein einfaches "Entsprechen" ist, sondern durch vorgängiges künstlerisches Handeln konstituiert wird, in dem "so unbestechlich Seiendes auf seinen Farbeninhalt" zusammengezogen wurde,

    "daß es in einem Jenseits von Farbe eine neue Existenz ohne frühere Erinnerungen anfing"*.

    Im Grunde wird hier im malerischen Medium der Prozess der phänomenologischen Reduktion vollzogen. Die Dinge werden der "Neigungen" und "wählerischen Verwöhntheiten" konventionellen Sehens entkleidet und nur noch unter dem Aspekt ihres farblichen eidetischen Vorhandenseins angeschaut. Nebenbedeutungen und Eigenschaften bleiben außerhalb des Bildes, wie z. B. die Genießbarkeit von Früchten. Diese, so Rilke bereits vor dem Gespräch mit Matthilde Vollmoeller und auch vor der Lektüre von Bernards "Souvenirs", werden im Bild "so sehr dinghaft" wirklich, dass sie überhaupt nicht mehr essbar erscheinen. Rilke stellt einige sehr aufschlussreiche Überlegungen über ihre Farbigkeit an, die vollkommen abgelöst vom Gegenstand beschrieben wird. Die Trennung des farblichen Vokabulars von seiner illusorischen Funktion geht so weit, dass Rilke fordern kann, man müsse einmal eine "Monographie des Blaus" schreiben.*

    Rilke sieht Farbe ausschließlich als Farbe und bemüht sich in einem späteren Brief, die an den Gemälden gewonnenen Erfahrungen von deren Eigenmächtigkeit über bildliche Wirklichkeit hinaus geltend zu machen. Im Brief am 12. Oktober wird Malerei zur Metapher für die gesamte Erscheinung der Welt, die nun "gemalt wie auf Seide" erscheint. Die Wirklichkeit der Stadt wird nach Cézannes Vorbild auf Vorhandensein und Gleichgewicht von Farben reduziert:

    "alles stimmt, gilt, nimmt teil und tönt in der Einheit der hellen Zusammenhänge"

    eines "lichtgrünen Wagens" oder "irgendeines Rots"*.

    Rilke macht immer weiter Fortschritte* und lernt an Cézanne die Möglichkeit des von ihm schon vorher postulierten neuen, absichtslos sachlichen Sehens kennen. Die Erfahrungen werden ihm zum inneren Erlebnis:

    "sie verwandelten sich in meinem Gefühl zurück und erfüllten mein Bewußtsein bis an den Rand mit Stärke und Strahlung."*

    Es scheint für Rilke, der sich auf dem Wege wähnt, "ein Arbeiter zu werden", "als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnähmen ein für allemal"*. In dieser euphorischen Stimmung wird er sich auch eines Zusammenhanges der Malerei mit seinen Gedichten bewusst, in welchen "instinktive Ansätze zu ähnlicher Sachlichkeit" seien, sofern sie in absichtsloser, "anonymer Arbeit" entstanden sind*.

    Rilke erlangt in der Fähigkeit zur Wahrnehmung der cézanneschen Farben noch mehr Sicherheit. Am 17. Oktober gelingt ihm eine außergewöhnliche Beschreibung der realen Wirklichkeit seines von Mondlicht durchdrungenen Zimmers und der Place de la Concorde, die wie die Übersetzung von Bildwirklichkeiten wirkt. Rilke sieht nur noch den Farbton für sich, einen "Ozean kalten Kaumblaus" des Himmels, "Archipels von Wolken [...], grau wie die Halsfedern und die Brust von Wasservögeln" und einen Fleck von Mondlicht, den er erstaunlicherweise als die Stelle deckendes "aluminiumhaftes Weiß" bezeichnet. Lichtfarben, die eigentlich nur decken, wenn sie gemalt sind, sieht er wie Körperfarben gleichermaßen als reinen Farbton. In der Beschreibung der Farbtöne um den Obelisken an der Place de la Concorde gibt es wie bei den Impressionisten keine Kontur, sondern fließende Übergänge und keine Eigenfarbigkeit der Dinge, sondern nur die momentanen Farbtöne*, ein "Flimmern" der farblichen Eindrücke in ihrem Verhältnis untereinander; das farbliche Umfeld spielt wie bei Cézanne für den Eindruck eine entscheidende Rolle*. Durch dieses neue phänomenologisch reduzierte Sehen erlangt die Großstadt Paris Gültigkeit und Dauer und wird zu einem Stück Natur erhoben mit "Felsenwänden des Arc de Triomphe" und der "Generosität einer geborenen Landschaft"*.

    Ergebnisse des Lernprozesses

        Rilkes "Einsicht" ist nicht allein an Cézannes Malerei festzumachen ("Es ist gar nicht die Malerei, die ich studiere"), sondern das Ergebnis eines längerwährenden kontinuierlichen Lernprozesses. Im Brief vom 18. Oktober ist er um eine Zusammenfassung des Erlernten und von dessen Bedeutung fürs eigene Werk sowie der Bedingungen dieses Lernprozesses bemüht:

        "Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte oder doch irgendwie nahe an sie herangekommen war, seit lange wahrscheinlich auf dieses Eine vorbereitet, von dem so vieles abhängt."*

        Unter Verwendung der Armuts-Metaphorik stellt Rilke einen Zusammenhang zwischen der Arbeit des Malers und einer postulierten absichtslosen Arbeit des Dichters her. Die eigentliche Erkenntnis liegt wohl in der nur durch eine Arbeitsweise, "die keine Vorlieben", "keine Neigungen und keine wählerischen Verwöhntheiten" mehr hat, erreichbaren Reduzierung des "Seienden" auf seinen "Farbeninhalt", d. h. auf sein eidetisches Vorhandensein, so dass es im Bild oder im Gedicht eine "neue Existenz, ohne frühere Erinnerungen anfängt".

        Für Rilkes dichterisches Werk kann ähnliche, "alle Einmischung in eine fremde Einheit ablehnende Sachlichkeit", nur durch phänomenologische Reduzierung und durch Verzicht auf "die Auslegung, das Urteil, die Überlegenheit" und "geistige Auffassung" erreicht werden. Folgerichtig geht Rilke im Brief des nächsten Tages zum Thema des "sachlichen Sagen[s]" über und zeichnet die von Baudelaire herkommende Entwicklung nach. Baudelaire hat den Eindruck der Dinge reduziert, indem er "auch im Schrecklichen" durch Absehen von allen anthropozentrischen Deutungen "das Seiende [...], das mit allem anderen Seienden "gilt", sieht*.

        Die Briefe haben an dieser Stelle schon längst den Tonfall eines Bekenntnisses oder einer Programmschrift angenommen; Rilkes Gedanken sind hier von den Bildern Cézannes losgekommen, die nur einen Anlass für weiterreichende Überlegungen boten. Die zentrale Erkenntnis bezieht sich nicht auf dessen Malerei, sondern ist die oben bereits dargestellte Neuinterpretation des "Malte" – also eine dichterische Selbstreflexion. Besonders hier sind die "Briefe über Cézanne" unbestreitbar Mittel zur Selbstpositionierung des dichterischen Ichs, das sich nun über seine Aufgabe im Klaren scheint:

        "Ach, wir rechnen die Jahre und machen Abschnitte da und dort und hören auf und fangen an und zögern zwischen beiden. Aber wie sehr ist, was uns begegnet, aus einem Stück, in welcher Verwandtschaft steht eines zum anderen, hat sich geboren und wächst heran und wird erzogen zu sich selbst, und wir haben im Grunde "dazusein", aber schlicht, aber inständig wie die Erde da ist [...]"*

        Dieser Passage der "Briefe" wurde in der bisherigen Forschung nur wenig Beachtung geschenkt, obgleich sie nach dem Strang der Argumentation der in sich geschlossenen Briefe vom 6. bis zum 20. Oktober zu urteilen, an zentraler Stelle steht, da die darauf folgenden Briefe wie Rückgriffe und Ergänzungen erscheinen. Unverkennbar erhalten Rilkes Einsichten hier Züge einer monistischen All-Einheitslehre*, derzufolge der Mensch wieder einen Platz in der Natur finden kann, indem er sie als Ganzes ohne Vorlieben und Absichten sieht und ihr im allein auf die Eigenständigkeit künstlerischer Ausdrucksmittel beruhenden Kunstwerk eine sinnhafte Anschaulichkeit, eine Gestalt, verleiht. Erst in der Überwindung der Gespaltenheit von Mensch und Natur, der Bemühung um bruchlose Übereinstimmung von Empfinden und Handeln*, ist sachliches Sehen und Schauen möglich; in Bewusstseinsrücknahme und unmittelbar auf die Wahrnehmung folgender Tätigkeit kann der Künstler als Mittler zwischen beiden Sphären fungieren. In seinem "Produkt" entsteht eine "Harmonie parallel zur Natur", erlangt die Natur im Gleichgewicht des Kunstwerks Gestalt und wird ohne Verlust in die Sphäre des Menschlichen transferiert. Im Sinne der im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begründeten wissenschaftlichen Gestaltpsychologie werden Bilder eher als Ganzes denn als Summe ihrer einzelnen Teile gesehen. In den Kunstwerken Cézannes sind die disparaten visuellen Sinnesreize zu einer kohärenten, zusammenhängenden Struktur organisiert und – wie Cézanne einmal sagte – "vermenschlicht", indem sich die Landschaft "in ihm" denkt und er sie auf der Leinwand festmacht und objektiviert*. Mit ihrem inneren Gleichgewicht können diese Bilder auch als Antwort auf die Ruhelosigkeit der Moderne, ja auf das pantha rhei alles Lebens überhaupt, verstanden werden. Dem Soziologen und Philosophen Georg Simmel zufolge, der sich 1911 in einem Aufsatz mit dem Bildhauer Auguste Rodin beschäftigt, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Wirklichkeitsverarbeitung*. Die erste besteht darin, die Unruhe noch zu steigern, was van Gogh, aber auch Rodin getan haben. Für Rodin gibt es, wie Rilke in seinem Essay schreibt, "nur Bewegung in der Natur", weswegen seine Plastiken und Skulpturen voll "Unruhe und Wellenschlag" sind, wobei im Kunst-Ding allerdings alle bewegten Flächen und die aufgelöste Oberfläche untereinander einen Ausgleich bilden, so dass das Werk "seine Gerechtigkeit in sich zu tragen" scheint:

        "die Aussöhnung aller seiner Widersprüche und eine Geduld, groß genug für alle seine Schwere."*

        Gerade durch die Steigerung der Bewegtheit des Lebens wird die Flüchtigkeit überwunden und als Bildwerk verdinglicht. Rodin hat darin, so Georg Simmel, "als der Erste einen Stil" gefunden, mit dem die Plastik "die Haltung der modernen Seele dem Leben gegenüber ausdrückt". "Die Bewegung" sei bei ihm

        "ihrem Sinne und ihrer Tendenz nach in den Körper übergegangen, sie ist nicht mehr das Symbol einer Verneinung des Körpers, sondern die Seele, die sich in ihr ausspricht, ist durchaus die Seele des Körpers, der diese Bewegung trägt."*

        Die zweite Möglichkeit, auf das pantha rhei zu reagieren, ist Flucht in die Ruhe. Paul Cézanne zog sich aus der Großstadt in ein Tal zurück, vor dem sich das Gebirge der Sainte Victoire erhebt, und malte Entsprechungen der ruhig vor ihm liegenden Natur. Für ein Stillleben benötigte er einhundert Arbeitssitzungen, für ein Portrait saß ein Modell einhundertfünfzigmal, weil sein Werk für ihn nur ein Versuch und das Herantasten an seine Malerei war*. Durch neues Sehen, indem der Eindruck von der Sache abgespalten wird und für den Eindruck das farbliche Umfeld mitbedacht wird, erlangt die Natur im Gleichgewicht des Gemäldes neue Gültigkeit und Dauer. Cézanne will, so bekennt er rückblickend,

        "aus dem Impressionismus [...] etwas machen, so solid und dauerhaft wie die Kunst der Museen."*

        Er will die Subtilität der Wirklichkeitswiedergabe des Impressionismus beibehalten, der nur an der Wiedergabe des momentanen und flüchtigen optischen Erscheinungsbildes interessiert war und kein festes Ding mehr, keine feste Kontur, nur fließende Übergänge kannte. Letztendlich will er den Impressionismus aber mit den Mitteln des Impressionismus überwinden und zugleich auch das bleibende Wesen der Gegenstände zum Ausdruck bringen und, wie Rilke genau erkennt, in allem "das Seiende sehen, das, mit allem anderen Seienden, "gilt"*. In Cézannes Kunst entsteht abseits der Flüchtigkeit der Lebenswelt des modernen Menschen eine "Harmonie parallel zur Natur", indem die Bilder in sich ein Gleichgewicht der Farben, einen "große[n] Farbenzusammenhang", "eine erfahrene Farbensumme" tragen*. Die Sinneseindrücke erlangen in seinen Bildern einen hohen Grad an Festigkeit; Cézanne erreicht eine "Verfestigung der Wahrnehmungsdaten"* bei gleichzeitiger Auflösung des festen Raumgefüges in eine Abfolge von Farbräumen, die in weitgehendem Verzicht auf die illusionsschaffende Wirkung von Licht und Schatten selbst zum Gegenstand werden und nicht einen solchen bezeichnen. Nach dem letzten Besuch des Salons erinnert sich Rilke an das innere Gleichgewicht des Gemäldes "der Frau im roten Fauteuil"(vgl. Abb. 3):

        "Es ist, als wüßte jede Stelle von allen." So sehr nimmt sie teil; so sehr geht auf ihr Anpassung und Ablehnung vor sich; so sehr sorgt jede in ihrer Weise für das Gleichgewicht und stellt es her: wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält. [...] und doch hat die Farbe kein Übergewicht über den Gegenstand, der so vollkommen in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint, daß, so sehr er erreicht und gegeben ist, doch andererseits auch wieder seine bürgerliche Realität an ein endgültiges Bild-Dasein alle Schwere verliert. Alles ist [...] zu einer Angelegenheit der Farben untereinander geworden: Eine nimmt sich gegen die andere zusammen, betont sich ihr gegenüber, besinnt sich auf sich selbst."*

        Das ist keine Beschreibung des Bildinhalts, sondern eine sprachliche Vergegenwärtigung der Bildwirkung und des Gemachtseins eines Gemäldes, in dem die Objekte mit den Mitteln der Malerei in die Abstraktion der Fläche übersetzt sind, das Unruhige in Farbe gegenständlich und fest gemacht ist. Schon vor der Auseinandersetzung mit Cézanne war Rilke am 19. Juni 1907 die "teppichhaft[e]" Ausgeglichenheit und beruhigende Stärke in der Farbigkeit eines Bildes von Courbet aufgefallen*.

        Beide vorgestellten Ansätze fanden ihre Fortsetzungen in der modernen Kunst und zahlreiche Entsprechungen in der Literatur,- zum Teil wurden sie, denkt man etwa an die Verbindung analytischer und klassizistischer Momente bei Picasso, miteinander vereint. In gleicher Weise entstehen auch bei Rilke – gerade aus der Erfahrung des Heraklitischen – Werke, die zugleich ruhend und aufgelöst sind, und ähnliches kehrt später in der Fünften Elegie im Bild der Gaukler wieder: Aus deren sinnlosem Tun, ihrer übersteigerten Ruhelosigkeit, entsteht eine neue Art von Sinn. Ihre artistischen Figuren erlangen Gestaltrealität, sind weder Gefühlsausdruck, noch künstlerische Einkleidung einer geistigen Idee, sondern Artikulation des Lebens, des Wesens der Welt; sie tragen wie Rodins Plastiken ihre Gerechtigkeit in sich selbst, gehen wie die Farbe in Cézannes Werk "ohne Rest" auf:

        "Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich
        die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig
        unbegreiflich verwandelt -, umspringt
        in jenes leere Zuviel.
        Wo die vielstellige Rechnung
        zahlenlos aufgeht*."

        Hier soll nun nicht auch noch eine ausführliche Interpretation dieser komplexen und anscheinend widersprüchlichen Elegie geleistet werden. Vielleicht liegt ein Schlüssel zum besseren Verständnis aber gerade in der an Cézanne gewonnenen Einsicht in das innere Gleichgewicht sinnkonstituierender inhaltsleerer Ausdrucksformen – zumal ja auch diese Elegie auf eine Kunsterfahrung, nämlich auf Picassos Gemälde "Les Saltimbanques" zurückgeht. Das Mit-sich-selbst-Beschäftigtsein der Gaukler wird als eine "uns "noch" nicht offene Freude" ausgegeben, wie auch die Rezeption der cézanneschen Bilder immer wieder aufs Neue eigenständige Leistung des Betrachters erfordert*:

        "Schon, obwohl ich so oft aufmerksam und unnachgiebig davorgestanden habe [vor den Bildern Cézannes], wird in meiner Erinnerung der große Farbenzusammenhang der Frau im roten Fauteuil so wenig wiederholbar wie eine sehr vielstellige Zahl. Und doch hab ich sie mir eingeprägt, Ziffer für Ziffer. In meinem Gefühl ist das Bewußtsein ihres Vorhandenseins zu einer Erhöhung geworden, die ich noch im Schlafe fühle; mein Blut beschreibt sie in mir, aber das Sagen geht irgendwo draußen vorbei und wird nicht hereingerufen."*

        Die Schwierigkeiten bleiben bestehen: schriftliche Aneignung dieser Kunstwerke oder das Erreichen von etwas Ähnlichem in Dichtung ist unmöglich, bzw. erfordert immer wieder gewaltige Anstrengungen*. Deshalb ist der Lernprozess, auf den sich Rilke nach dem Vorbild des Malers Paul Cézanne eingelassen hat, eine fortwährende Arbeit und niemals in einem einzigen Ergebnis abzuschließen. Für eine mit Cézannes Gemälden vergleichbare sprachliche "Realisierung" müsste ähnliche Übereinstimmung von Form und Inhalt gelten; so könnte sich erfüllen, was Rilke schon am 9. Juli 1907 in einem Brief an seine Frau Clara angesichts eines Blumenbeets im Luxembourg wünscht:

        "so ein Beet möchte ich mal haben, wenn ich alt bin, und davor sitzen und es machen, aus Worten, in denen alles ist, was ich dann weiß..."*

        Zusammenfassung

        Rilkes "Briefe über Cézanne" wurden in der vorliegenden Arbeit als Ort der dichterischen Selbstvergewisserung betrachtet; am Vorbild der Malerei des Franzosen Paul Cézanne gelangt Rilke zu neuen Einsichten über die Modalitäten und Möglichkeiten von künstlerischer und dichterischer Tätigkeit.

        Zunächst wurden editionsgeschichtliche und gattungstheoretische Fragen geklärt, um einen Beitrag zur Einordnung der Briefe in Rilkes Gesamtwerk zu leisten; es ging nicht um die Einordnung in bestimmte "Epochen" von Rilkes Schaffen, noch wurde in den Briefen, wie in der Forschung häufig geschehen, ein transitorisches Bindeglied zwischen frühem und mittlerem Werk gesehen. Vielmehr stand die bescheidenere Frage nach der Literarizität und Werkhaftigkeit der Briefe im Vordergrund. Als postume Edition und ohne Mitsprache des Autors kumulierte, thematisch orientierte Auswahl aus einer größeren Menge von Textmaterial, können die "Briefe über Cézanne" nicht zu Rilkes autorisiertem Werk gerechnet werden; dennoch hat die Untersuchung einen Befund ihrer Geschlossenheit als dichterisches Werk ergeben, wobei die Briefe vom 29. September bis 25. Oktober als Kern der Briefreihe, die anderen als Peripherie, welche hauptsächlich aus inhaltlichen Gründen dazugehört, gelten können. Durch textverknüpfende Mittel und inhaltliche Kohärenz sowie durch Ansätze zur Leitmotivtechnik sind die Briefe zu einem Werkganzen verbunden; besonders den Briefen vom 6. bis 20. Oktober kann ästhetische Ordnung attestiert werden, insofern sie von zwei Spaziergängen durch das alte Adelsviertel umrahmt sind.

        Die Grundqualität der Briefe erweist sich als monologisch und gedankenkonstitutiv, da sie durch eine im Produktionsprozess begründete Übereinstimmung von Form und Inhalt charakterisiert sind: die prozessual im Schreiben verfertigten Gedanken ermöglichen ästhetische Objektivierung persönlicher, reflexiver sowie metareflexiver Einsichten. Eine Nähe zu der literarischen Gattung "Tagebuch" sowie zum "Essay" ist in der assoziativen und sprunghaften Vorgehensweise dieser Selbstvergewisserung begründet; bezeichnend ist auch ein mit dem subjektiven Vorgehen verbundener hoher Anspruch an die Wahrheit der getroffenen Aussagen und die gleichzeitige Verwahrung gegenüber jeder Endgültigkeit und Systematik. In einem Exkurs konnten allgemeinere Gedanken zu Briefen als dem Denken im Vollzug des Schreibens förderliche Textform angestellt werden, wobei auch auf neuere linguistische Ansätze zurückgegriffen wurde. Zugleich fand eine Abgrenzung zu der weitverbreiteten Auffassung vom defizitären Charakter der Briefform statt. Für Rilke sind sie nicht bloß sprachliche Einkleidung, sondern Konstitutionsort weiterführender Einsichten.

        Es folgte eine genauere formale und inhaltliche Analyse des ersten Briefs, in dem die Grundfrage der ganzen Briefreihe zum Ausdruck kommt. Thema ist das Spannungsfeld von künstlerischer Wahrnehmung und künstlerischer Tätigkeit, das durch die Gegenüberstellung der Begriffe von �sehen� und �arbeiten� schon im ersten Brief angesprochen wird. Der Begriff �Arbeit� erweist sich in Übereinstimmung mit Rilkes Rodin-Essay als zentrale Forderung der Briefe und zugleich als Ort der Genese des Kunstwerks. In der Gefahr des Nicht-arbeiten-Könnens muss hingegen ein Grundkonflikt von Rilkes Existenz gesehen werden.

        Thematisiert sind somit die elementaren Voraussetzungen und Bedingungen jeder künstlerischen Tätigkeit, die in erster Linie als visuelle Rezeptionsleistung ausgegeben werden. Es stellt sich somit das abstrakte epistemologische Problem ein, inwiefern durch Sehen Wirklichkeit adäquat erfahrbar ist. Der Erfahrung von defizitärer Erfassung des Wirklichen begegnet Rilke mit dem Postulat eines neu zu lernenden Sehens.

        Die Besonderheit der Briefe liegt in der Intensivierung und euphorischen Wertung allmählich gemachter Erfahrungen, die Rilke als entscheidende Erkenntniszugewinne ansieht. In den Briefen werden Metaerfahrungen, nämlich nicht Gegenstände, sondern überhaupt Möglichkeiten des Erfahrens, zum Ausdruck gebracht. Es geht v. a. um die Voraussetzungen des Erkennens von Wirklichkeit.

        Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wurde auf der inhaltlichen Ebene die in den "Briefen über Cézanne" zum Ausdruck gebrachte Fragestellung vom Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsgehalt von Kunstwerken untersucht. Mit einer Analyse der Verwendungen des Wortes �Wirklichkeit� konnte gezeigt werden, dass Rilke in Nachfolge von Kant diese als Resultat eines geistigen Vorgangs auffasst; demnach ist sein Postulat einer gesteigerten Wirklichkeit 1. durch Intensivierung der Erfahrung und 2. durch Befreiung von überkommenen Urteilsmodellen zu erfüllen. Primäre Quelle für Gewissheit ist für Rilke die Sinnlichkeit und eine produktive Fähigkeit, in schöpferischer Tätigkeit Anschauung zu erlangen. Es konnte gezeigt werden, dass diese These der künstlerischen Produktion von Wirklichkeit mit der Theorie des Kunsthistorikers Konrad Fiedler in großen Teilen übereinstimmt.

        Rilke erkennt wie Nietzsche die Abhängigkeit des Sehens von Urteilen. Seiner Forderung nach sachlichem Sehen liegt ein Bedenken gegen die Ausdrucksfähigkeit von Sprache zugrunde, in der nach Nietzsche das Nicht-Gleiche gleichgesetzt werde. Der hauptsächliche Grund für Rilkes Sprachskepsis konnte in seinem Verständnis von einer dem Menschen fremden Natur erkannt werden; aus diesem leitet sich auch das Postulat eines intentionslosen Sehens und das Konzept der Vagheit ikonischer Zeichen ab, mit denen die Wirklichkeit besser ausgedrückt werden könne als durch Sprache.

        Probleme des Postulats eines nichtintentionalen Sehens stellten sich als Notwendigkeit einer bewussten Hinterfragung der überkommenen Wahrnehmungsmodelle dar. In einem Exkurs konnte aufgezeigt werden, dass es kein nichtintentionales Sehen geben kann. Rilkes neues Sehen kann demzufolge mehr als Aspektwechsel, denn als vollständige Rücknahme des Subjekts gewertet werden. Dass nicht durch bloße Neutralisierung der künstlerischen Individualität eine absolute Entsprechung zur Wirklichkeit hergestellt werden kann, wird aus der Problematik des Malte ersichtlich, die Rilke an zentraler Stelle der "Briefe" begreift, sowie aus Rilkes Bemühungen zur sprachlichen Beschreibung von Heidekraut. Diese gelingt ihm mit synästhetischen Metaphern, also durch Flucht in sekundäres Empfinden und durch Nutzung sprachlicher Universalien. Das dichterische Subjekt ist so keineswegs neutralisiert.

        Die "Briefe über Cézanne" erweisen sich vielfach als Fortführung des Rodin-Essays, in welchem schon die Thesen von der tiefen Übereinstimmung der Kunst mit der Natur sowie von der Autonomie des Kunstwerks ausgeführt wurden. Ferner gelang es Rilke an Rodin, Kunst als Erzeugung einer neuen Realität durch die "Sprache der Hände" zu kennzeichnen. Ohne zusätzliche Sinngebung sei im absichtslosen Kunstwerk eine Zusammenfassung des Wirklichen erreicht. In allmählicher Modifizierung dieser Gedanken kann Rilke den schöpferischen Anteil des Künstlers noch genauer bestimmen. Erst an der Erfahrung der Werke von Cézanne, in denen Rilke einen weiteren Schritt zur Selbstbegrenzung erkennt, kann Rodins künstlerisches Pathos überwunden werden. Cézannes Arbeitsweise kann Rilke als Verschmelzung und zugleich Entzweiung eines passiven Übernehmens und eines spontanen Akts des persönlichen Gebrauchens werten. Die Befreiung von festgefügten Vorstellungen ist jedoch nur dann möglich, wenn sowohl das Übernehmen, als auch das spontane Gebrauchen intentionslos vollzogen werden; die Spontaneität des Künstlers verlagert sich in die Farbe und wird erst so zur produktiven Einbildungskraft. Sachlichkeit bedeutet somit nicht bloße Neutralität, sondern zunächst Abkehr von allem Symbolischen, Literarischen, Allegorischen und damit Passivität der Anschauungen, Ausschaltung des Willens aber auch besondere Empfindung für die Materialität und formende Kraft der Farben. Im autonomen Farbengleichgewicht des Kunstwerks wird so durch phänomenologische Reduktion des Seienden auf den bloßen Farbwert der Eindruck von der Sache abgespalten und ein neuer Eigenwert des Scheins konstituiert. Rilke scheinen zumindest teilweise Möglichkeiten zu analogen Übertragungen ähnlich reduzierter Wahrnehmungen und Darstellungen für den dichterischen Bereich möglich. Letztendlich ist die Malerei Cézannes nur ein Anlass für weitergehende Betrachtungen, die das Ergebnis eines längerwährenden kontinuierlichen Prozesses sind. Als wichtige Stationen konnten Worpswede, Rodin und Cézanne, aber auch immer wieder kleinere unabhängig von diesen getätigte Aussagen in Briefen genannt werden; ferner wurde auf einige Übereinstimmungen zu Ansätzen von Zeitgenossen (und Vorläufern), neben Konrad Fiedler v. a. Hofmannsthal, hingewiesen.

        Als Haupterkenntnis der "Briefe über Cézanne" kann sicher die Einsicht in dessen intentionslose und dennoch spontane Arbeitsweise angesehen werden, durch die Reduzierung des Seienden auf sein eidetisches Vorhandensein gelingt. Eine dichterische Selbstreflexion ist das insofern, als ausgehend von einer derartigen Einsicht Möglichkeiten für die literarische Produktion aufgewiesen werden können. Das reduzierende Schauen erlaubt Rilke, einen Zusammenhang zwischen allen Dingen zu erkennen. Die Einsichten gipfeln im Grunde in der Erfahrung monistischer All-Einheit. Das heißt auch, dass der Mensch wieder einen Platz in der Welt finden kann, indem er diese als sinngetragene Ordnung erkennt, in der nichts einen wirren, zusammenhanglosen Charakter hat. Allein aus dieser Einsicht wird sachliches Sagen möglich – der Künstler wird so zum Mittler zwischen den einander fremd gewordenen Sphären von Mensch und Natur. Cézannes Beispiel hat aufgezeigt, wie man in künstlerischer Produktion der Wirklichkeit den Dingen Gestalt und Dauer verleihen kann. Dem derart sachlichen Kunstwerk kann ein größerer Wahrheitswert zugesprochen werden als dem durch Begriffe korrumpierten bloßen Betrachten des fremd gewordenen Wirklichen. Darin ist eine Antwort auf die Ruhelosigkeit der Moderne zu sehen, aus der eine neue Ordnung, eine Ruhe des Aufgelösten, entsteht. Den Sinn hat die Welt nicht an sich, sondern er wird ihr vom Künstler in immer neuer Arbeit (wieder) verliehen; im Kunstwerk wird ein Einklang zwischen dem Menschen und der Natur produziert. In seiner Erzählung "Die Lehre der Sainte-Victoire" schreibt Peter Handke:

        "Ding-Bild-Schrift in einem: es ist das Unerhörte – und gibt trotzdem noch nicht mein ganzes Nahgefühl weiter. – Hierher gehört nun jene einzelne Zimmerpflanze, die ich einmal durch ein Fenster vor der Landschaft als chinesisches Schriftzeichen erblickte: Cézannes Felsen und Bäume waren mehr als solche Schriftzeichen; mehr als reine Formen ohne Erdenspur – sie waren zusätzlich, von dem dramatischen "Strich" (und dem Gestrichel) der Malerhand, ineinandergefügt zu Beschwörungen – und erscheinen mir, der ich davor anfangs nur denken konnte: >So nah!<, jetzt verbunden mit den frühesten Höhlenzeichnungen. – Es waren die "Bilder"; es war die "Schrift"; es war der "Strich" – und es war alles im Einklang." * (Vgl. Abb. 2).

         


        (c) Boris Körkel, August 1999
        (Rainer Maria Rilke – Briefe über Cézanne
        Künstlerische Wahrheit als produzierte Wirklichkeit
        Wissenschaftliche Arbeit zur wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Deutsch im Herbst 1999. Das Thema wurde gestellt von Herrn Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg).

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