Tausend Stimmen, längst verstummt
(Kurzfassung)

Mächtig ragte die Zitadelle vor Flood auf. Sein Herz pochte, seine Gedanken waren halb betäubt. Ein Traum ging in Erfüllung, aber er spürte nur noch Hilflosigkeit. Die unmittelbare Nähe zu seinem Ziel ließ ihn fast zurückschrecken.
Das Tor öffnete sich. Bewegung kam in die kleine Menschengruppe und Flood folgte den anderen. Ein alter Mann erwartete sie und wies ihnen den Weg.
Dann sah Flood die Aurel. Sie stand auf einer Empore über ihm. Sie trug ein einfaches, schwarzes Gewand, fast ebenso dunkel wie ihr Haar. Ihre schwach golden schimmernde Haut stand dazu in einem irritierenden Kontrast. Die Aurel erschien Flood wie ein überirdisches Wesen. Sie strahlte allein durch ihre Präsenz eine Macht aus, die ihn sofort in ihren Bann zog. Deshalb war er an diesen Ort gekommen. Dort, wo die Aurel schon war, wollte er noch hin. Sie zog sich zurück und entschwand seinen Blicken.
Ein Gang nahm Flood auf. Er mündete nach vielen Schritten in einen großen Raum. Eine Frau wartete auf ihn.
"Ich bin Flood", sagte er.
"Kannst du lesen und schreiben?", fragte sie, ohne sich vorzustellen.
"Nein", sagte er.
"Das habe ich mir gedacht. Dann wartet eine Menge Arbeit auf uns."
Die Frau hieß Sehaja. Sie gab sich abweisend. Immerhin erfuhr Flood, was seine Aufgabe sein würde. Der große Raum war eine Bibliothek. Die Bücher mussten katalogisiert werden. Die Aurel legten großen Wert darauf.
Flood hielt das für keine sonderlich wichtige Sache. Ganz sicher war dies nicht der Ort, an den er gehofft hatte zu kommen. Er sah sich als Mann der Tat. Hier wurde er nicht gefordert. Dennoch entwickelte er Ehrgeiz.
Auch wenn er sich nicht sonderlich geschickt anstellte, konnte er bald lesen. Er lernte die Arbeit zumindest in Maßen zu schätzen. Außerdem gab es viele Annehmlichkeiten. Allein das weiche Bett, in dem er schlief. Oder das fließende Wasser im Bad. Vom reichlichen Essen ganz zu schweigen.

"Ich habe seit meiner Ankunft keinen einzigen Aurel mehr gesehen", sagte er eines Tages zu Sehaja.
"Sie zeigen sich selten", erklärte sie knapp.
"Es war eine Frau", sagte er. "Ihr Anblick hat mich sehr beeindruckt."
"Vermutlich Zaida", sagte Sehaja.
"Was weißt du über sie?"
"Nichts."
"Dabei bist du doch schon viel länger hier als ich", sagte er.
Sie wurde ärgerlich. "Was soll das, Flood? Ich verspüre nicht das geringste Verlangen, dir etwas über mein Leben zu erzählen."
Sie wandte sich ab. Bevor sie die Tür erreicht hatte, sagte er leise: "Jemand muss dich tief verletzt haben. Ich wüsste gern, wer das war."
Er bekam keine Antwort.

Nach einiger Zeit meinte Flood zu spüren, dass Sehaja langsam Gefallen an seiner Gesellschaft fand. Eines Tages war sie sogar bereit, ein wenig mehr über sich preiszugeben.
"Du wolltest wissen, wer mich verletzt hat", sagte sie und erklärte: "Es war ein Aurel."
"Ich rede nicht gern darüber", sagte sie hastig. "Er hat mir sehr weh getan. Ich ... ich glaube nicht, dass ich es jemals verwinden werde."
Er wollte eine Frage stellen, doch sie unterbrach ihn: "Ich bin schon sehr lange in der Zitadelle. Ich wurde sogar hier geboren. Die Welt draußen habe ich niemals gesehen. Erzähl mir von dir, erzähl mir, wie das Leben draußen ist."
Also beschrieb ihr Flood die armseligen Hütten, in denen seine Leute lebten. Elektrischen Strom hatten sie nicht, das Wasser holten sie vom Fluss. Was sie aßen, bauten sie selbst an. Ein einfaches Leben, das mit dem in der Zitadelle rein gar nichts zu tun hatte.
"Warum gibt es diese zwei verschiedenen Welten?", fragte er.
"Ich weiß es nicht", sagte sie.
"Wirst du mir mehr von dir erzählen?", wollte er wissen.
Sie schüttelte den Kopf. "Nicht heute."

"Was hast du da geschrieben?", fragte Sehaja neugierig.
Flood schaute erstaunt auf das Blatt. Er las: "Die Zitadelle hallt wieder. Tausend Stimmen, nun längst verstummt. Was ist aus uns geworden? Unsere ganze Geschichte hat sich auf wenige Silben reduziert. Nichts kann jemals wieder so sein, wie es gewesen ist. Nun, da die Unsterblichen hier sind."
"Das soll ich geschrieben haben?", zweifelte Flood. "Ich kann mich nicht daran erinnern."
"Und doch muss es so sein", sagte Sehaja. "Woher hast du das? Es klingt so düster, so bedrohlich. Was bedeuten diese Zeilen?"
"Ich weiß es nicht", gab er zur Antwort.
Es war nicht die erste Nacht, die Sehaja bei ihm verbrachte. Eines Abends hatte sie leise an seine Tür geklopft. Für einige Stunden legte sie die Maske der kühlen Unnahbaren ab. Ihre Besuche bei ihm wiederholten sich, doch sie kam und ging, wie es ihr beliebte. Und am Tag verbarg sie all das wieder, was sie ihm in den Nächten offenbarte, als sei es nie geschehen.
"Diese Worte", sagte Sehaja. "Sie berühren mich. Als verberge sich dahinter eine Botschaft. Hast du dir sie ausgedacht?"
"Ich weiß es wirklich nicht", sagte Flood. "Es muss einfach über mich gekommen sein."
Sie starrte ihn an, als glaube sie ihm nicht.

Sehaja erklärte ihm, dass ein Teil der Bibliothek nun von den Aurel benutzt werden konnte. Flood bezweifelte, dass viele von ihnen kommen würden.
Zu einem kleinen Fest fand sich eine Gesellschaft ein, in der Flood niemanden kannte. Sehaja hielt es nicht für notwendig, ihn vorzustellen. Fast fürchtete Flood, dass sie sich seiner schämte.
Die Aurel mischte sich völlig unvermittelt unter die Menschen. Flood sah bei dem einen oder anderen ein kurzes Zusammenzucken, ein Atemholen, eine schnell wieder unterdrückte Ehrfurcht.
Flood dagegen stand wie erstarrt. Es war die Frau, die er schon bei seiner Ankunft gesehen hatte. Zaida.
Sie schien ihn lange nicht wahrzunehmen, und er hatte all seine Forschheit verloren. Er zauderte und zögerte und konnte sich nicht überwinden, den entscheidenden Schritt zu tun.
Dann fasste er sich ein Herz und trat zu ihr. Sie sagte: "Du bist Flood, nicht wahr?" Er nickte.
"Möchtest du vielleicht etwas anderes tun? An einem anderen Ort? Weiter oben in der Zitadelle?"
Er starrte sie verblüfft an.
"Komm mit", sagte sie. "Du kannst jederzeit wieder zurück."
Er dachte kurz an Sehaja. Was mochte sie von ihm denken, wenn er so einfach verschwand?
"Warum ich?", fragte er.
"Ich habe dich beobachtet. Einige Zeit. Du gefällst mir."

An Zaidas Seite begann für ihn ein neues Leben. Natürlich hatte er nicht den gleichen Status wie ein Aurel. Schließlich war er trotz allem nur ein einfacher Mensch.
Er fragte Zaida, wie alles so gekommen war. Dass draußen Menschen lebten und hier drinnen und dass sie fast nichts miteinander gemein hatten. Dass die Aurel so mächtig waren.
"Das kann ich dir nicht erklären", sagte sie. "Du weißt zu wenig. Deshalb fällt es mir schwer, das, was geschehen ist, in Worte zu fassen."
Mehr brachte er nicht aus ihr heraus. Allmählich verstand Flood aber, wie das Leben in der Zitadelle funktionierte. Die wenigen Aurel lenkten die Menschen. Die Welt außerhalb interessierte sie kaum. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, den Menschen dort draußen Unterstützung zu gewähren.
"Warum sollten wir das tun?", fragte Zaida verständnislos.
"Mit dem Wissen und den Möglichkeiten der Zitadelle", sagte Flood überzeugt, "wäre es möglich, den Menschen zu helfen. Es gibt so vieles, was in ihrem Leben verbessert werden könnte."
"Aber warum, Flood, warum?", fragte Zaida erneut. "Warum sollte ihr Schicksal uns kümmern?"
Das traf ihn. "Sie sind Menschen - wie ich, wie Sehaja, wie wir alle hier. Wenn wir die Macht dazu haben, müssen wir ihnen doch helfen."
Sie lenkte ab. "Diese Sehaja. Vermisst du sie?"
"Nein, warum sollte ich?" Erst später überlegte er. Er musste sich tatsächlich eingestehen, dass er Sehaja vermisste. Er fragte sich, was sie wirklich für ihn empfunden hatte.
"Was bin ich für dich?", fragte er Zaida eines Tages. "Nur ein Spielzeug?"
Sie lachte. "Aber nein."
Das beruhigte ihn nicht. "Ich komme mir nutzlos vor", gestand er. "Mir fehlt eine Aufgabe. Ich muss etwas tun."
"Du bist an dem Ort, den du erreichen wolltest", erinnerte sie ihn. Das stimmte. Schon damals, als er noch draußen gelebt hatte, hatten seine Augen die Zitadelle gesucht, und er hatte sich geschworen, dass er eines Tages ganz dort oben stehen würde. Dort war er nun. Und fühlte sich leer.
Der Entschluss reifte nur langsam in ihm. Doch dann merkte er, dass er gehen musste. Am besten sofort. Er sagte es ihr. Zaida hielt ihn nicht auf.

"Hat sie dich davongejagt?"
Sehaja schien nicht überrascht, als er plötzlich wieder auftauchte. Es tat gut, sie zu sehen.
"Es gibt Ziele", sagte Flood, "die rechtfertigen jedes Mittel." Trotzig schaute er ihr in die Augen. Was er sah, irritierte ihn. Die Verachtung hatte er erwartet, das Mitleid nicht.
"Ich bin freiwillig gegangen", erklärte er.
Sie starrte ihn an. "Tatsächlich", sagte sie. "Ich glaube dir. Warum?"
"Die Aurel sind anders als wir Menschen. Wir kümmern sie nicht. Sie benutzen uns nur."
"Ich weiß", sagte Sehaja. In ihrem Lächeln lag eine Bitterkeit, die Flood die Augen öffnete.
"Dir ist es genauso ergangen", stellte er fest.
"Nicht ganz", sagte sie. "Er hat mich weggeschickt, als er meiner überdrüssig war."
Flood schaute ihr in die Augen: "Wir müssen etwas tun, Sehaja. Die Aurel halten die Menschen absichtlich dumm, um sie benutzen zu können. Wir müssen das ändern."
"Wir?", fragte sie.
"Ja, wir", sagte er. "Lass uns nach draußen gehen."
"Nach draußen?", fragte sie überrascht.
"Ja", sagte er. "Dort können wir einen neuen Anfang wagen."
Ihre Miene blieb ausdruckslos, bis sich endlich wieder ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. "Gehen wir", sagte sie.
Nun war es an ihm, verblüfft zu sein. "Meinst du, sie lassen uns gehen?"
"Ich wüsste nicht, wie sie uns daran hindern sollten."
Sehaja führte ihn in einen dunklen Gang. Sie sagte kein Wort, und auch Flood sprach nicht. Er hing seinen Erinnerungen nach. Zaida. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen?
Ein massives Tor öffnete sich schließlich vor ihnen. Helles Licht fiel in den Gang.
"Schau nur", sagte Flood. "Die Sonne scheint."
Auch Sehaja trat ins Freie. Sie schwieg lange. "Das ist wunderbar", sagte sie dann.
Flood überlegte nur kurz. "Ja", stimmte er zu, "ja, das ist es."

Die Geschichte "Tausend Stimmen, längst verstummt" ist ursprünglich
in der Anthologie "Welten voller Hoffnung" (August 2002) erschienen.
Die hier vorliegende Kurzfassung wurde speziell für den BuchmesseCon am 12. Oktober 2002 verfasst.


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