Paris Mai `68

 

 

Die Besetzung der Sorbonne

aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S. 51-76

Die Nacht der Schlacht rund um die Rue Gay-Lussac rief im ganzen Land Bestürzung hervor. Die Empörung, die ein großer Teil der Bevölkerung bald empfand, wandte sich nicht gegen die Aufständischen, trotz der weitgehenden Verwüstungen, die sie angerichtet hatten, sondern gegen die gewalttätigen Ausschreitungen der Ordnungskräfte: Im Radio war die ganze Nacht Minute für Minute über die Bedingungen berichtet worden, unter denen das abgeschirmte Viertel sich verteidigt hatte und unter denen es schließlich erobert worden war. Man wußte vor allem, daß eine große Anzahl Schwerverletzter Stunden hindurch nicht versorgt werden konnten, weil die Belagerer ihre Evakuierung untersagten. Man warf ihnen auch vor, reichlich von einem neuen und gefährlichen Gas Gebrauch gemacht zu haben, obwohl die verantwortlichen Behörden dies zuerst abgestritten hatten. Schließlich war die Überzeugung allgemein verbreitet, daß es eine Reihe von Toten gegeben hatte, die die Polizei, die schließlich Herrin über das besetzte Gebiet geworden war, hatte verschwinden lassen (1).

Schon am 11. Mai riefen alle Gewerkschaftsführungen zu einem eintägigen Generalstreik, am 13.Mai, auf. Es handelte sich für sie darum, einen Schlußstrich unter diese Bewegung zu setzen, indem sie aus einer nur oberflächlich "gegen die Repression" behaupteten Solidarität ein Maximum zogen. Die Gewerkschaften sahen sich auch zu dieser Geste gezwungen, da sie den tiefen Eindruck feststellen konnten, den dieser direkte Kampf, der seit Anfang der Woche in Gang war, auf die Arbeiter machte. Schon ein solches Beispiel bedrohte ihre Autorität. Ihr Rekuperationsstreik ließ die gesetzlich festgelegte Ankündigungsfrist außer acht: das war das einzige Subversive an ihm.

Die Regierung hatte zunächst am frühen Morgen beim Fall des Barrikadenviertels mit einem Kommuniqué reagiert, das auf ein Komplott hindeutete und Sanktionen androhte; angesichts des massiven Protestes aber entschloß sie sich zu einer völligen Kehrtwende. Der Premierminister Pompidou, am Samstagabend aus Afghanistan zurückgekehrt, spielte hastig die Karte der Beschwichtigung aus. Er kündigte an, daß alle verurteilten Studenten nach einem neuen Prozeß, der sofort stattfinden sollte, freigelassen würden; was tatsächlich geschah. Dabei überging Pompidou jede 'heuchlerische Rücksicht auf die prinzipielle Unabhängigkeit des Magistrats. Er bewilligte schon am Sonntag, daß in den Räumen von Censier, der Nebengebäude der geisteswissenschaftlichen Fakultät, das bereits angekündigte Sit-in über eine Reform.der Universität abgehalten wurde. Diese Diskussion begann dort auf der Stelle, und mehre Tage lang blieb die Atmosphäre in Censier eifrig-beflissen und gemäßigt aufgrund der ursprünglichen Makel ihrer Geburt. Schließlich versprach Pompidou, von Montag an alle Polizeikräfte aus dem Quartier Latin abzuziehen und folglich auch die Absperrungen aufzuheben, die die Sorbonne schützten. Am Morgen des 13. Mai war die Polizei abgezogen: die Sorbonne konnte somit in Besitz genommen werden.

Der Aufruf zum Generalstreik am 13.Mai wurde stark befolgt. In einem friedlichen Umzug durchquerten fast eine Million Arbeiter, mit ihnen Studenten und Professoren, Paris - von der République bis nach Denfert-Rochereau. Auf ihrem Weg wurde ihnen die allgemeine Sympathie zuteil.

Die Parolen bezogen sich auf die Solidarität von Arbeitern und Studenten :und verlangten die Abdankung de Gaulles am 10. Jahrestag seiner Machtübernahme. Über hundert schwarze Fahnen mischten sich unter die Vielzahl von roten; so wurde zum ersten Mal diese Verbindung verwirklicht, die bald zum Kennzeichen der radikalsten Strömung der Bewegung der Besetzungen werden sollte, nicht so sehr als Bestätigung einer autonomen anarchistischen Präsenz wie als Zeichen der Arbeiterdemokratie.

Die Gewerkschaftler erreichten ohne weiteres die Auflösung des Zuges in Denfert; einige Tausend Teilnehmer, meistenteils Studenten, zogen zum Marsfeld weiter, wo ein Treffen improvisiert wurde. Währenddessen hatte eine Reihe anderer die Besetzung der Sorbonne begonnen. Dort ereignete eich spontan ein Phänomen von entscheidender Bedeutung: alle Anwesenden beschlossen, die Sorbonne den Arbeitern zu öffnen. Damit wurde die abstrakte Parole der Demonstration "Solidarität von Arbeitern und Studenten" beim Wort genommen. Dieser Übergang wurde an jenem Tag durch die tatsächliche Begegnung mit Arbeitern begünstigt, sowie vor allem durch den direkten Dialog zwischen den Studenten und fortgeschrittenen Arbeitern. Diese waren von der Demonstration gekommen, um zu sagen, daß sie vom ersten Tag an mit dem Kampf der Studenten übereinstimmten; und um die Dreckarbeit der Stalinisten zu denunzieren. Ein gewißer, von den sub-bürokratischen Spezialisten des Revolutionarismus gepflegter Arbeiterkult war sicher auch eine der Motivationen dieser Entscheidung. Aber das, was die Führer gesagt hatten, ohne wirklich daran zu glauben und ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein, nahm eine revolutionäre Dimension an, aufgrund der Atmosphäre der völligen Freiheit der Debatte, die in der Sorbonne eröffnet worden war und den impliziten paternalistischen Aspekt ihres Projekts völlig zunichte machte. Tatsächlich kamen wenige Arbeiter in die Sorbonne. Aber weil man die Sorbonne der Bevölkerung für geöffnet erklärt hatte, waren die Grenzen des Problems der Studenten und des betroffenen Publikums überschritten worden. Und weil die Sorbonne begann, eine demokratische Diskussion zu verwirklichen, die alles in Frage stellte, und alle getroffenen Entscheidungen als rechtskräftig betrachtete, wurde sie ein Leitstern für die Arbeiter im ganzen Land: Sie zeigte ihnen ihre eigenen Möglichkeiten. Die vollständige Freiheit des Ausdrucks manifestierte sich in der Besitznahme der Mauern ebenso wie in der freien Diskussion in allen Versammlungen. Die Plakate und Anschläge aller Richtungen bis hin zu den Maoisten hingen friedlich nebeneinander, ohne abgerissen oder überklebt zu werden. Einzig die KP-Stalinisten zogen es vor, sich zu enthalten. Die aufgemalten Inschriften tauchten erst etwas später auf. An diesem ersten Abend führte die erste revolutionäre Inschrift zu einigem Murren - sie war auf einer der Fresken in Form einer Sprechblase angebracht worden und verkündete die berühmte Formel: "Die Menschheit wird erst an dem Tag glücklich sein, an dem der letzte Bürokrat mit den Gedärmen des letzten Kapitaliaten aufgehängt worden ist." Nach einer öffentlichen Debatte beschloß die Mehrheit, sie wieder zu entfernen, was auch gemacht wurde (2).

Am 14.Mai wurde das Komitee "Wütende-Situationisten" gegründet (3). Ea begann sofort, auf die Mauern der Sorbonne Plakate zu kleben, die genau das sagten, was sie sagen wollten. Eines machte auf die Illusion einer direkten Demokratie - nur auf die Sorbonne beschränkt - aufmerksam. Ein anderes rief zur Wachsamkeit auf: "Die Rekuperatoren sind unter uns".

Ein weiteres sprach sich gegen "jedes Überleben der Kunst" und die "Herrschaft der Trennungen" aus. Eines schließlich, "Entchristianisieren wir sofort die Sorbonne!", entrüstete sich über die sträfliche Toleranz, die von den Besetzern gegenüber der Kapelle, die noch verschont wurde, ausgeübt wurde: "Graben wir", so war zu lesen, "die Reste des ekelerregenden Staatsmanns und Kardinals Richelieu aus und senden wir sie ans Elysée und an den Vatikan zurück!" Dazu muß bemerkt werden, daß dieses Plakat in der Sorbonne das erste war, das verstohlen von denen heruntergerissen wurde, die seinen Inhalt mißbilligten. Im übrigen brannte an diesem Tag die Kommission "Kultur und Kreativität" des "22. März" ihre letzten Strohfeuer ab, indem sie Anschläge mit einer Reihe von Zitaten der S.I. - besonders aus dem Buch von Vaneigem - auf diesem Gebäude anbrachte.

Ebenfalls am 14.Mai wurde die erste Vollversammlung der Besetzer abgehalten; sie behauptete sich als einzige Macht in der Sorbonne und organisierte das Funktionieren der Besetzung. Die Debatte ließ drei Richtungen deutlich werden: ein beträchtlicher Teil der Anwesenden, der sich kaum zu Wort meldete, aber seine Meinung durch Applaus für bestimmte schwachsinnige Reden kundtat, wollte nur eine Reform der Universität, einen Kompromiß über die Examen, eine Art Universitätsfront mit den Linken aus dem Lehrkörper: Eine stärkere Strömung, die die gauchistischen Gruppen und ihre Anhänger vereinigte, wollte den Kampf bis zum Fall des Gaullismus bzw. des Kapitalismus fortsetzen. Eine dritte Position; die zwar von einer kleinen Minderheit vertreten , der aber Gehör geschenkt wurde, forderte die Abschaffung der Klassen, des Lohnwesens, des Spektakels und des Überlebens. Dies wurde deutlich in einer Erklärung René Riesels ausgedrückt, die er im Namen der "Wütenden" abgab. Er sagte, daß die Frage der Universität von nun an überholt sei und daß "die Examen durch die Barrikaden aufgehoben" seien. Er stellte vor der Versammlung den Antrag, sich für die Befreiung aller am 6. Mai festgenommenen Meuterer - einschließlich derjenigen, die geplündert hatten - auszusprechen. Er zeigte auf, daß die einzige Zukunft für die Bewegung im Zusammenschluß mit den Arbeitern läge, nicht "zu ihren Diensten", aber an ihrer Seite, und daß die Arbeiter keinesfalls mit ihren bürokratischen Organisationen zu verwechseln seien. Er versicherte, daß man die gegenwärtige Entfremdung nicht bekämpfen könne, wenn man die der Vergangenheit außer Acht ließe - "keine Kapellen mehr!" -, und die von morgen müsse man ebenfalls mit einbeziehen: "Die Psychologen und Soziologen sind nur neue Bullen!". Er denunzierte eine polizeiliche Autorität gleicher Natur in den hierarchischen Beziehungen zwischen Professoren und Studenten. Er warnte vor der Rekuperation der Bewegung durch die gauchistischen Führer, und ihrer voraussehbaren Auflösung durch die Stalinisten. Er erklärte sich zum Schluß für die Macht der Arbeiterräte. Diese Intervention beschwörte verschiedene Bewegungen herauf. So wurde der Vorschlag bezüglich der Plünderer eher mit Buhrufen bedacht als mit Zustimmung. Der Angriff auf die Professoren schockierte. Die erste offene Denunzierung der Stalinisten erstaunte. Nichtsdestotrotz, als die Versammlung etwas später zur Wahl ihres Exekutivorgans, des ersten "Besetzungskomitees" schritt, wurde Riesel zu einem seiner Mitglieder ernannt. So wie er der einzige war; der seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe kundgetan hatte, so war er ebenfalls der einzige, der ein Programm definierte. Als er hierzu wieder das Wort ergriff, präzisierte er, daß er die "direkte Demokratie in der Sorbonne" und die Perspektive der internationalen Macht der Arbeiterräte verteidigen wollte.

Die Besetzung der Fakultäten und Hochschulen in Paris hatte angefangen: die Beaux-Arts (Akademie der Künste) Nanterre, das Konservatorium für dramatische Kunst und die medizinische Fakultät befanden sich in den Händen von Studenten. Alle anderen sollten folgen.

Gegen abend desselben 14. Mai besetzten die Arbeiter der "Sud-Aviation" in Nantes ihre Fabrik und verbarrikadierten sich darin, nachdem sie den Direktor, Duvochel, und Angehörige der Verwaltung in Büros eingeschlossen hatten, deren Türen sie zuschweißten. Außer von dem Beispiel der Besetzung der Sorbonne hatten die Arbeiter aus dem gelernt, was sich am Abend vorher in Nantes ereignet hatte. Auf Aufruf des Büros der UNEF - das, wie man weiter oben feststellen konnte, von Revolutionären beherrscht wurde -, gaben die Studenten in Nantes sich nicht damit zufrieden; mit den Gewerkschaftlern durch die Straßen zu ziehen. Sie marschierten auf die Prafektur zu und verlangten die Einstellung der Ermittlungen, die kürzlich gegen sie eingeleitet worden waren, und die Wiederzuerkennung einer jährlichen Unterstützung von 10. 000 Francs, die man ihnen - wie man sich denken kann - nach ihrer radikalen Stellungnahme gestrichen hatte. Sie errichteten zwei Barrikaden, die die CRS zu stürmen versuchte. Als Universitätsangehörige sich als "Unterhändler" anboten, entstand ein Waffenstillstand, den der Präfekt dazu ausnutzte, eine Delegation zu empfangen. Er wich auf der ganzen Linie zurück: Der Rektor zog seine Klage zurück und zahlte. Zahlreiche Arbeiter der Stadt hatten an diesem Kampf teilgenommen. Sie konnten die Wirksamkeit der in dieser Art gestellten Forderungen erkennen. Die der "Sud-Aviation" sollten sich am nächsten Tag daran erinnern. Die Studenten von Nantes kamen sofort, um die Streikposten zu unterstützen.

Als am 15.Mai die Besetzung der "Sud-Aviation" bekannt wurde, wurde sie überall als ein Akt von ungeheurer Bedeutung erkannt: Wenn andere Fabriken sich dem wilden Streik anschliessen würden, würde die Bewegung irreversibel zu jener historischen Krise werden, die von den Klarsichtigen erwartet wurde. Am Ende des Vormittags schickte das Besetzungskomitee der Sorbonne dem Streikkomitee ein Unterstützungstelegramm: "Von der besetzten Sorbonne an die besetzte "Sud-Aviation".

Das war die einzige Aktivität, die das Besetzungskomitee während fast des ganzen Tages auf die Beine brachte - und noch das hatte man Riesel zu verdanken. In der Tat, seit der ersten Versammlung des Komitees war ein verblüffender Kontrast aufgetaucht zwischen der Funktion, die es im Prinzip aufgrund seiner ausdrücklichen Delegation durch die Vollversammlung innehatte und den wirklichen Bedingungen, unter denen es arbeiten mußte. Das Besetzungskomitee war aus 15 gewählten Mitgliedern zusammengesetzt, die jeden Tag von der Vollversammlung abgesetzt werden konnten, allein vor ihr verantwortlich waren und die die Besetzung der Sorbonne organisieren und aufrechterhalten sollten. Alle improvisierten Dienste oder solche, die eingerichtet werden mußten, um das Funktionieren der Besetzung und die Verteidig.ung des Gebäudes sowie dessen, was darin vorging, zu garantieren, waren unter seine Kontrolle gestellt. Es handelte sich darum, die freie Diskussion permanent aufrecht zu erhalten, die Fortsetzung der laufenden Aktivitäten zu sichern und zu erleichtern.

Das ging von der Verteilung der Säle bis zur Beschaffung von Nahrungsmitteln, von der demokratischen Nachrichtenverbreitung - schriftlich und mündlich - bis zur Aufrechterhaltung der Sicherheit. DieWirklichkeit sah ganz anders aus: Bankrotte UNEF -Bürokraten, das alte Kravetz -Peninou-.Tandem, das plötzlich aus der Vergessenheit wieder aufgetaucht war, in die es gerechterweise geraten war, hatten sich in die ihnen gut bekannten Korridore eingeschlichen, um sich in irgendeinem Keller einzurichten, von wo aus sie sich bemühten , alle Fäden der wirklichen Macht wieder an sich zu reißen und die Aktion aller möglichen freiwilligen Techniker zu koordinieren, die sich als ihre Freunde entpuppten. Da gab es B. ein"Koordinationskomitee", das sich selbst gewählt hatte. Das "Komitee für Verbindung zwischen den Fakultäten" arbeitete auf eigene Rechnung. Der völlig autonome Ordnungsdienst gehorchte nur seinem Chef, einem im übrigen anständigen Jungen, der sich selbst ernannt hatte und nur von dieser Position der Stärke aus bereit war zu diskutieren. Das "Presse-Komitee", aus jungen oder künftigen Journalisten zusammengesetzt, stand nicht der Sorbonne zur Verfügung, sondern der gesamten französischen Presse. Was die Lautsprecheranlage anging, war sie ganz einfach in den Händen von rechten Elementen, die allerdings Radiospezialisten waren.

In diesem überraschenden Kontext machte es dem Besetzungskomitee sogar Schwierigkeiten, überhaupt über einen Raum zu verfügen: Jede bereits installierte Feudalität erhob Anspruch auf sämtliche Räume. Ohne Zweifel verschwand die. Mehrzahl der Mitglieder aus Entmutigung und ging in verschiedene untergeordnete, aber nicht unterworfene Komitees, denen sie das Verdienst anerkannte, zu existieren. Offensichtlich hatten die weiter oben erwähnten Manipulateure vor, ihre Macht auf immer aufrechtzuerhalten, indem sie das einzige gewählte Komitee zu einer reinen Zierpflanze verkommen ließen (4). Die Manipulateure konnten mit dem Resultat ihrer Manöver für den 15.Mai zufrieden sein, denn sie schlugen der am Abend zusammengetretenen Vollversammlung vor, das gespensterhafte Besetzungskomitee en bloc für weitere 24 Stunden wiederzuwählen. Die acht Mitglieder des "Koordinationskomitees" wurden ebenfalls als einfache Hilfskräfte des Besetzungskomitees bestätigt. Bereits gestärkt durch die praktischen Mechanismen, die es in Händen hatte, gedachte das Koordina tionskomitee seine Machtübernahme dadurch zu vollenden, daß es dem Besetzungskomitee direkt deutlich machte, daß es nicht mehr existierte. Fast alle Mitglieder des letzteren, . die gerade wiederaufgetaucht waren, um ihre Wiederwahl durch die Vollversammlung zu hören, resignierten und zerstreuten sich. Einzig zwei Mitglieder des Besetzungskomitees begaben sich daran die Basis zu appellieren und wiesen auf die skandalöse Art und Weise hin, in der die Macht der Vollversammlung verhöhnt worden war. Auf dem Hof wandte Riesel sich an die Besetzer, um sie in die Vollversammlung zurückzubringen, damit sie zwischen den Bürokraten und ihren Delegierten entscheiden konnte. Einige Minuten später wurde die Tribüne eingenommen und die Bürokraten aufgefordert, sich öffentlich zu erklären. Der all gemeinen Entrüstung ausgesetzt, widerriefen sie schmählich. Was vom Besetzungskomitee übrig geblieben war, unterstützt von denen, die sich sofort mit ihm verbündet hatte, begann jetzt erst wirklich zu exstieren.

Am selben 15.Mai fingen die Arbeiter der Renault Werke in Cleon (Seine-Maritime) an zu streiken und beschlossen, ihre Fabrik zu besetzen, indem sie ebenfalls ihre Direktoren einsperrten. Die Fabriken von Lockheed in Beauvais und Unulec in Orleans legten gleichfalls die Arbeit nieder. Gegen Ende des Abends bewegten sich 200 oder 300 Personen auf das "Odéon-Théatre de France" zu und richteten sich bei Schluß der Abendvorstellung als Besetzer ein. Wenn auch der Inhalt dieser "Befreiung" beschränkt blieb - sie wurde von den Kulturleuten und -problemen beherrscht - so bedeutete jedoch die Tatsache, sich eines Gebäudes zu bemächtigen, für das es keinerlei studentisches Alibi gab, eine Verbreiterung der Bewegung: Es war eine possenhafte Inszenierung der Auflösung der Staatsmacht. In der folgenden Nacht tauchten überall in der Sorbonne die schönsten Inschriften der Epoche auf.

Am Morgen des 16.Mai wurde die Besetzung von Renault-Cléon bekannt, und ein Teil der Arbeiter der "Neuen Vertriebsgesellschaft der Pariser Presse"(NMPP) begann ebenfalls einen wilden Streik und versuchte, die Auslieferung der Tageszeitungen zu verhindern. Das Besetzungskomitee der Sorbonne, das im Saal Jules Bonnot (früher Cavaillès) tagte, gab um 15 Uhr folgendes Kommuniqué heraus: "Genossen, die Fabrik 'Sud-Aviation' in Nantes ist seit zwei Tagen von den Arbeitern und den Studenten der Stadt besetzt; die Bewegung hat heute auf mehrere Fabriken übergegriffen (NMPP-Paris , Renaul -Cléon usw). Daher ruft das Besetzungskomitee der Sorbonne zur sofortigen Besetzung aller Fabriken in Frankreich und zur Bildung von Arbeiterräten auf. Genossen, verteilt und vervielfältigt diesen Aufruf so schnell wie möglich."

Wie bereits gesagt, standen dem Besetzungskomitee keinerlei materielle Mittel zur Verfügung, um auch nur die geringste Aktivität durchzuführen.

Um seinen Aufruf zu verbreiten, machte es sich also daran, diese Arbeitsmittel zu ergreifen. Es konnte auf die Unterstützung der "Wütenden", der Situationisten und von rund 15 weiteren Revolutionären rechnen. Von den Fenstern des Saales Jules Bonnot aus fragte man mittels eines Megaphons in den Hof hinunter, wer freiwillig helfen würde. Es meldeten sich viele.

Sie schrieben den Text ab, der noch nicht vervielfältigt worden war und lasen ihn in allen Vorlesungssälen und allen anderen Fakultäten vor. Als der Abzug der Flugblätter durch den CLIF absichtlich verlangsamt wurde, mußte das Besetzungskomitee die Druckmaschinen beschlagnahmen und einen eigenen Verteilungsdienst organisieren. Da diejenigen, die die Lautsprecheranlage in ihren Händen hielten, nur mit Widerwillen den Text regelmäßig durchgaben, bemächtigte sich das Besetzungskomitee dieser Anlage. Die verdrossenen Spezialisten sabotierten die Einrichtung bei ihrem Weggang, Angehörige des Besetzungskomitees setzten sie wieder in Gang. Man bemächtigte sich auch der Telefonanlage, um das Kommuniqué an die Presseagenturen, in die Provinz und ins Ausland weiterzugeben. Ab 15 Uhr 30 begann es, sich zufriedenstellend zu verteilen.

Dieser Aufruf zur sofortigen Besetzung der Fabriken rief einen Skandal hervor. Sicher nicht bei der Masse der Besetzer der Sorbonne, wo sich so viele sofort freiwillig zu seiner Verteilung gemeldet hatten, aber bei den Kadern der kleinen gauchistischen Parteien, die, in Aufruhr versetzt, anfingen, von Wahnsinn und Abenteurertum zu reden. Sie wurden lakonisch abgespeist: das Besetzungskomitee war den verschiedenen Grüppchen gegenüber nicht zur Rechenschaft verpflichtet. So wurde Krivine, der Führer der JCR, erst von der Lautsprecheranlage, dann aus dem Saal Jules Bonnot verdrängt, in den er zwecks Ausdrucks seiner Mißbilligung und Angst gekommen war; er tat sogar seine dumme Absicht kund, das Kommuniqué annulieren zu lassen. So sehr die Manipulateure auch Lust dazu hatten, hatten sie loch nicht mehr genügend Kräfte, noch einmal die Souveränität der Vollversammlung angreifen zu können, indem sie etwa einen Vorstoß ín den Saal Julee Bonnot versucht hätten. In der Tat hatte das Besetzungskomitee seit dem frühen Nachmittag damit begonnen, seinen eigenen Sicherheitsdienst zu organisieren, um jede unverantwortliche Ausnutzung eines wenig sichren Ordnungsdienstes parieren zu können. Es bemühte sich dann, denselben durch eine politische Diskussion mit seinen Basiselementen umzuorganisieren, die leicht von der anti-demokratischen Rolle überzeugt werden konnte, die einige ihnen zugedacht hatten.

Die ganze Arbeit, die Sorbonne wieder in die Hand zu bekommen, wurde durch eine Reihe von Flugblättern unterstützt, die schnell hintereinander herausgebracht und breit verteilt wurden. Sie wurden auch über die Lautsprecheranlage verlesen; ebenfalls wurden die Nachrichten über neue Fabrikbesetzungen bekanntgegeben, sobald sie eintrafen. Um 16 Uhr 30 warnte das Flugblatt "Wachsamkeit": "Die Souveränität der revolutionären Vollversammlung hat nur dann Sinn, wenn diese auch die Macht ausübt. Seit 48 Stunden wurde die Entscheidungsfähigkeit der Vollversammlung selbst durch systematische Verschleppungsmanöver in Frage gestellt...Die Forderung der direkten Demokratie stellt die Mindestunterstützung dar, die die revolutioniären Studenten den revolutionären Arbeitern, die die Fabriken besetzt halten, zukommen lassen können. Es darf nicht zugelassen werden, daß die Zwischenfälle in der Vollversammlung von gestern abend unbestraft bleiben: Die Pfaffen machen ihre Klappe wieder auf, wenn anti-klerikale Anschläge abgerissen werden". Um 17 Uhr denunzierte das Flugblatt "Achtung!" das Pressekomitee, das "sich weigert, die Kommuniqués der ordnungsgemäß gewählten Instanzen der Vollversammlung weiterzugeben", und "eigentlich ein Zensurkomitee ist". Es forderte die "verschiedenen Arbeitsgruppen" dazu auf, sich ohne Mittelsmänner direkt an die Presee zu wenden; dazu wurden einige Telefonnummern bekanntgegeben: Um 18 Uhr 30 stellte dae Flugblatt "Vorsicht, Manipulateure. Vorsicht, Bürokraten!" den unkontrollierten Ordnungedienst bloß. Es unterstrich die entscheidende Bedeutung der Vollversammlung, die an diesem Abend stattfinden aollte. "In dem Augenblick, wo die Arbeiter in Frankreich anfangen, mehrere Fabriken zu besetzen , auf unser Beispiel hin und mit dem gleichen Recht wie wir, hat dae Besetzungskomitee heute um 15 Uhr die Bewegung gutgeheißen. Das zentrale Problem der heutigen Vollversammlung ist es also, sich durch ein klares Votum für oder gegen den Aufruf seines Besetzungekomitees auszusprechen. Im Falle einer Mißbilligung übernimmt diese Versammlung also die Verantwortung, einzig den Studenten ein Recht vorzubehalten, das sie der Arbeiterklasse verweigert. In diesem Falle ist es klar, daß sie von nichts anderem reden will, als von einer gaullistischen Reform der Universität". Um 19 Uhr schlug ein Flugblatt eine Liste von radikalen Parolen vor, die verbreitet werden sollten: "Alle Macht den Arbeiterräten", "Nieder mit der spektakulären Warengesellschaft", "Ende der Universität" usw. Die Gesamtheit dieser Aktivitäten, die die Zahl der Mitglieder des Besetzungskomitees von Stunde zu Stunde größer werden ließ, ist von der bürgerlichen Presse zynisch verfälscht worden, im Gefolge von "Le Monde", die am 18. Mai hierüber folgendermaßen berichtete: "Niemand weiß mehr so recht, wer eigentlich das Besetzungskomitee in der Sorbonne leitet. In der Tat, der Saal, wo dieser Organismus tagt, der jeden Abend um 20 Uhr in der Vollversammlung gewählt wird, ist gegen Ende des Nachmittags durch 'wütende' Studenten der' situationistischen Internationale' eingenommen worden. Diese 'halten' besonders die Lautsprecheranlage der Sorbonne inne, was ihnen erlaubt hat, in der Nacht verschiedene Parolen herauszugeben, die viele Studenten abenteuerlich gefunden haben:'Wenn Ihr einen Bullen trefft, schlagt ihm eins in die Fresse' , ' Verhindert mit Gewalt, daß in der Sorbonne fotografiert wird!'. Die Studenten der S.I. haben andererseits 'alle bürokratischen Strukturen aufgelöst' , die vorher eingerichtet worden waren, wie die Presseabteilung und den Ordnungsdienst. Die Entscheidungen dieses Komitees könnten in der Vollversammlung wieder in Frage gestellt werden, die sich an diesem Freitag um 14 Uhr einfinden soll. "(5).

Dieser Nachmittag des 16.Mai ist der Moment, an dem die Arbeiterklasse sich ohne Möglichkeit der Umkehr für die Bewegung zu entscheiden beginnt. Um 14 Uhr werden die Renault-Werke in Flins besetzt. Zwischen 15 und 17 Uhr setzt sich der wilde Streik in Boulogne-Billancourt durch.

An allen Ecken und Enden des Landes werden Fabriken besetzt. Die Beresetzung der öffentlichen Gebäude greift überall weiter um sich und erreich das psychatrische Krankenhaus Sainte-Anne, dase von seinem Personal übernommen wird.

Angesichts dieser Anhäufung von Nachrichten vereinigen sich alle gauchistischen Gruppen in der Sorbonne zu einem sofortigen Marsch nach Billancourt um 20 Uhr. Das Besetzungskomitee kam überein, daß man die Vollversammlung verschieben mußte, die es doch sehnlichst der eigenen Verantwortung gegenüberstellen wollte. Sein kurz vor 20 Uhr herausgegebenes Kommuniqué erklärte: "In Übereinstimmung mit verschiedenen politischen Gruppen, der Bewegung des ´22.März´, der UNEF entschließt sich das Besetzungskomitee, die Vollversammlung vom 16.Mai , 20 Uhr auf den 17.Mai, 14 Uhr zu verschieben. Alle zum Platz der Sorbonne um 20 Uhr, um nach Billancourt zu marschieren."

Dar Eintritt in den Kampf der Renaultwerke Billancourt - der größten Fabrik Frankreichs -, die in den sozialen Konflikten so oft eine entscheidende Rolle gespielt hatten, und vor allem die drohende Verbindung zwischen Arbeitern und den revolutionären Besetzungen, die sich vom Kampf der Studenten aus entwickelt hatten, versetzte die Regierung und die sogenannte kommuniatische Partei in Schrecken. Bevor sie noch über das Vorhaben eines Marsches auf Billancourt informiert waren, reagierten sie auf fast identische Art und Weise auf die schlechten Nachrichten, die sie bereits kannten. Um 18.30 Uhr "warnte" ein Kommuniqué des stalinistischen Polit-Büros "die Arbeiter und Studenten vor jeglichen abenteuerlichen Parolen". Kurz nach 19 Uhr wurde ein Kommunique der Regierung verbreitet: "Angesichts der verschiedenen Versuche, die von extremistischen Gruppen angekündigt oder bereits in Gang gesetzt worden aind, um eine allgemeine Agitation zu provozieren; erinnert der Premierminister daran, "...daß die Regierung keinen Angriff auf die republikanische Ordnung dulden kann. Sobald die Universitätsreform zu einem Vorwand geworden ist, um das Land in Unordnung zu stürzen, hat die Regierung die Aufgabe, den öffentlichen Frieden aufrechtzuerhalten." Die Regierung entschied die sofortige Einberufung von 10.000 Reservisten der Gendarmerie.

3.000 bis 4.000 Besetzer der Sorbonne marschierten in zwei Zügen bis nach Billancourt, immer noch mit roten und schwarzen Fahnen. Der CGT, die alle Eingänge unter Kontrolle hielt, gelang es zu verhindern, daß es zu einer Begegnung mit den Arbeitern kam. Was das Projekt eines Marsches auf die ORTF angeht, das das Komitee "Wütende-Situationistische Internationale" versucht hatte, schon von der Vollversammlung am 14.Mai billigen zu lassen und noch am 15. Mai verteidigt hatte, hatten sich der "22. März", die UNEF und die SNE-sup. dazu entschlossen, diesen Vorschlag am nächsten Tag, dem 17.Mai, durchzuführen. Sobald diese Entscheidung bekannt geworden war, erklärte die CGT am 16.Mai um 21 Uhr, daß diese "die Gestalt einer Provokation annähme, die nur der persönlichen Macht diene." Um 22.30 Uhr sprach auch die stalinistische Partei von einer Provokation. Um Mitternacht gaben die SNE -sup. und die UNEF klein bei und taten kund, daß sie ihren Appell zurückzögen.

In der Nacht begann in der Sorbonne die Gegenoffensive der Manipulateure. Indem sie die Abwesenheit der revolutionären Elemente, die bei den Renaultwerken waren, ausnutzten, versuchten sie, eine Vollversammlung mit denen zu improvisieren, die am Ort geblieben waren. Das Besetzungskomitee schickte zwei Delegierte dorthin, die den künstlichen Charakter einer auf diese Weise zustandegekommenen Versammlung denunzierten. Als die Versammlung sich darüber klar wurde, wie ihr mitgespielt worden war, löste sie sich sofort auf.

Am frühen Morgen baten die Arbeiter der NMPP die Besetzer der Sorbonne um Hilfe zur Verstärkung ihrer Streikposten, die die Arbeitsniederlegung noch nicht hatten durchsetzen können. Das Besetzungskomitee schickte Freiwillige: Auf der Linie Nummer 2 der Metro unternahm ein gegen die Gewerkschaften organisiertes Aktionskomitee den Versuch, einen Streik bei der RATP durchzusetzen. Rund hundert Fabriken sollten im Laufe des Tages noch besetzt werden. Seit dem Vormittag kamen Arbeiter aus den streikenden Pariser Unternehmen zur Sorbonne, um den Kontakt herzustellen, den die Gewerkschaften an den Fabriktoren verhinderten. Die Arbeiter von Renault waren auch hier die ersten gewesen.

Die Vollversammlung um 14 Uhr diskutierte als wichtigsten Punkt einen zweiten Marsch auf Billancourt und vertagte die Regelung aller anderen Probleme auf seine Abendsitzung. Die FER versuchte vergebens, auf die Tribüne vorzudringen, und ihr Führer ergriff ebenso vergeblich das Wort, um diesen zweiten Marsch zu verhindern, oder wenigstens, wenn er doch stattfinden sollte, diesem die einzige - para-stalinistische - Parole "Einheitsfront der Arbeiter" aufzudrängen. Die FER sah sich zweifellos schon in einer solchen Front zusammen mit der SFIO und der KP anerkannt.

Während der ganzen Krise war die FER für die stalinistische Partei das, was die stalinistische Partei für den Gaullismus ist: die Unterstützung hatte Vorrang vor der Rivalität, und dieselben guten Taten auf dem jeweiligen Niveau ernteten selbstverständlich nichts als Undank. Ein Kommuniqué der CGT war soeben erschienen und versuchte "heftig, den Initiatoren dieses Marsches von ihrer Initiative abzuraten. " Der Marsch fand statt er wurde ebenso aufgenommen wie der am Vorabend. Die CGT hatte sich bei den Arbeitern nocht stärker diskreditiert, indem sie innerhalb und außerhalb der Fabrik folgende lächerliche Verleumndung anschlagen ließ: "Junge Arbeiter, revolutionäre Elemente versuchen, Zwiespalt in unsere Reihen zu säen, um uns zu schwächen. Diese Extremisten sind nur Handlanger der Bourgeoisie, die dafür sogar großzügig von den Unternehmen entlohnt werden."

Das Beaetzungskomitee hatte außerdem um 13 Uhr noch ein Flugblatt herausgegeben, das von den Arbeitern verfaßt wurde, die den Streik bei Renault auagelöst hatten. Sie erklärten, wie Jungarbeiter die Basis einiger Abteilungen mitgerissen und so die Gewerkachaften gezwungen hatten, im Nachhinein eine Bewegung zu billigen, die sie hatten verhindern wollen: "Die Arbeiter erwarten, daß jede Nacht Leute zu den Toren kommen, um massenhaft eine Massenbewegung zu unterstützen." Zur gleichen Stunde wurden Telegramme in verachiedene Länder geschickt, die die revolutionäre Position der besetzten Sorbonne darlegten.

Als die Vollversammlung endlich um 20 Uhr zusammenkam, hatten sich die Bedingungen, die am Anfang ihr Funktionieren entstellt hatten, keinesfalls gebessert. Die Lautsprecheranlage funktionierte nur für die exakte Dauer gewisser Verlautbarungen und fiel genau für andere aus. Die Führung der Debatten und vor allem die eventuelle Abstimmung über einen Antrag hingen technisch von einem grotesken Unbekannten ab, offensichtlich einem Strohmann der UNEF, der sich vom ersten Augenblick der Besetzung an zum ständigen Präsidenten aller Vollversammlungen ernannt hatte und sich - entgegen jeder Mißbilligung und jeder Erniedrigung - bis zum Ende an diesem Posten festklammerte. Die FER, die seit dem Morgen naiv ihre Absicht kundgetan hatte, die Bewegung "wieder in die Hand zu nehmen", versuchte weiterhin, auf die Tribüne zu gelangen. Die Manipulateure aller Sekten arbeiteten zusammen, um die Vollversammlung daran zu hindern, sich über die Aktivitäten des Besetzungskomitees, das sein Mandat gerade zurückgegeben hatte, und besonders über dessen Aufruf zur Besetzung der Fabriken zu äußern. Diese Verschleppungamanöver wurden von einer Verleumdungskampagne begleitet, die sich lieber auf kleine Details bezog, die dazu bestimmt waren, einen Zermürbungskrieg zu führen: man griff die "St. Germain-Allüren" der Unordnung im Gebäude an, die Mißachtung der kleinen gauchistischen Parteien und der UNEF, einen Kommentar über die Besetzung des psychiatrische Krankenhauses St. Anne, aus dem einige meinten, einen Aufruf zur "Befreiung der Verrückten" herauslesen zu können. Die Versammlung erwies sich als unfähig, sich durchzusetzen. Das ehemalige Besetzungskomitee konnte keine Abstimmung über seine Führung erreichen. Da es in keiner Weise bei den Kämpfen um Einflußnahme und den Kompromissen eine Rolle spielen wollte, die bereits hinter der Kulisse wegen des nachfolgenden Besetzungskomitee im Gang waren, kündigte es an, daß es die Sorbonne verlassen würde, da die direkte Demokratie hier ab jetzt von den Bürokraten abgewürgt würde. Alle seine Mitglieder gingen gleichzeitig hinaus und der Ordnungsdienst fand sich aufgelöst, während die FER, die bereits seit über einer Stunde die Tribüne bedrohte, von der Situation profitierte und sich hinaufdrängte. Sie konnte trotz allem nicht die Führung der Sorbonne an sich bringen, wo sich dieselben Richtungskämpfe bis zum Ende fortsetzen sollten. Das Urteil des Besetzungskomitees bestätigte sich unglücklicherweise bis in alle Einzelheiten.

Wenn das Scheitern des Versuchs einer Rätedemokratie in der Sorbonne ohne Zweifel schädlich war für die Weiterentwicklung der Bewegung der Besetzungen, die genau auf diesem Gebiet ihren hauptsächlichen Mangel haben sollte, von dem ihr allgemeines Scheitern ausging, ist es jedenfalls sicher, daß an dem Punkt, an dem die Krise angelangt war, keine Gruppe mehr genügend Kraft hatte, mit nennenswerte Wirkung in einem revolutionären Sinne zu intervenieren. Alle Organisationen, die in der Tat einen Einfluß auf die spätere Entwicklung hatten, waren Feinde der Arbeiterautonomie. Alles sollte vom Kräfteverhältnis in den Fabriken zwischen den überall isolierten und vereinzelten Arbeitern und der vereinigten Macht von Staat und Gewerkschaften abhängen.

Anmerkungen

(1) Diese Tatsache konnte nicht bewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeit der Hypothese beruht auf zwei Überlegungen: einerseits ist es wenig wahrscheinlich, daß von so vielen Schwerverletzten, die erst sehr spät versorgt wurden, keiner gestorben ist; andererseits ist es ebenso unwahrscheinlich, daß die Regierung den am gleichen Abend von ihr, versuchten, bedeutenden und risikoreichen Rückzieher unternahm, ohne spezielle Informationen über die schweren Auseinandersetzungen zu berücksichtigen. Es steht außer Frage, daß ein moderner Staat einige Tote vertuschen kann. Natürlich nicht, indem er diese für "vermißt" erklärt, aber z. B. , indem er sie - wie einige behauptet haben -, als Unfallopfer auf den Landstraßen außerhalb von Paris erklärt.

(2) Der Autor dieses Werkes schmeichelt sich, selbst diese Inschrift angebracht zu haben, die zwar im Moment abgelehnt wurde, jedoch den Weg zu einer sehr fruchtbaren Aktivität öffnete (siehe dazu "Situationistische Internationale" Nr.11, Band II S. 279). (3) Die Kontakte zwischen der S.I. und den "Wütenden" hatten am Tage nach der Veröffentlichung des von diesen am 21. Februar verteilten Flugblatts Form angenommen. Nachdem sie ihre Autonomie bewiesen hatten, konnten sich die "Wü:enden" mit der S.I. verständigen, die immer eine solche Autonomie als Voraussetzung jeder Vereinbarung angesehen hatte. Am Ende der Besetzungsperiode kam das Komitee "Wütende-S. I. " überein, diese Einheit innerhalb der S. I. fortzuführen .

(4) Einige Zeit später schämte der niedergeschlagene Peninou sich nicht, seine Klagen laut kund zu tun: "Wir waren doch alle einig," stöhnte er, "daß keine Gruppe am Besetzungskomitee teilnimmt. Wir hatten die Zustimmung der FER und der JCR, der "Chinesen" etc. . Nur die Situationisten hatten wir vergessen!"

(5) Diese Verleumdungen hatten ein langes Leben. In "Paris-Match" vom. 6. Juli konnte man lesen: "Diese poetische Anarchie dauert nicht lange. Eine Gruppe, die sich "Wütende-Situationisten'' nennt, ergreift die Macht, d. h. das, was man die "Grüppchenlegalität" nennen könnte; sie bemächtigt sich vor allem, notwendig und ausreichend, des wichtigsten Werkzeugs: der "Sono", d. h. der Lautsprecheranlage, des Systems von Lautsprechern, mit dessen Hilfe man Tag und Nacht einen Regen von Slogans auf Hof und Gänge ergießen kann. Wer die "Sono" hat, hat das Wort und die Autorität. Über diese Anlage verbreiten die Situationisten sogleich völlig übergeschnappte Botschaften. Sie rufen zum Beispiel alle Studenten auf, "die Sainte-Anne-Kranken in ihrem Befreiungskampf gegen die Psychiater zu unterstützen." Noch etwas ganz anderes: in seinem Buch über "Die Tage vom Mai 68" (Nouvelles Editions Latines) denunziert der Faschist Francois Duprat "als Ausgangspunkt des ' 22. März' die von den ungefähr 40 Studenten und Mitgliedern der S. I. permanent gestiftete Unruhe"; behauptet weiter, "der Spionagedienst der DDR habe die Hand im Spiel" bei der S.I. und ihrer Tätigkeit. Er macht das Maß voll, indem er die Situationisten mit dem "22. März" vermengt und Cohn-Bendit als "deren ehemaliger Freund" bezeichnet.

 

 

Die Straßenkämpfe

aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S. 32-47

Eigentlich war das Meeting vom 3. Mai banal. Wie gewöhnlich hatten 300 bis 400 Teilnehmer auf den Appell geantwortet.- Einige Dutzend Faschisten der Gruppe "Occident!' hatten am frühen Nachmittag auf dem Boulevard St. Michel eine Gegendemonstration organisiert. Mehrere "Wütende", die in der Sorbonne anwesend waren, riefen zur Selbstverteidigung auf.

Man mußte Möbel zerschlagen, um die fehlenden Knüppel zu ersetzen. Der Rektor Roche und seine Polizisten -hielten diesen Vorwand für ausreichend, um rücksichtslos durchzugreifen. Die Polizei und die motorisierte Gendarmerie drangen in die Sorbonne ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Studenten wurden im Hof eingeschlossen. Man schlug ihnen vor, sich freiwillig zurückzuziehen. Sie nahmen diesen Vorschlag an, und in der Tat ließ man die ersten passiere: Der Vorgang nahm einige Zeit in Anspruch, und andere Studenten begannen, sich im Viertel zu sammeln. Die letzten zweihundert Demonstranten der Sorbonne, darunter alle Verantwortlichen, wurden festgenommen. Mit der Fahrt der Wagen, die sie abtransportier ten, erhob sich das Quartier Latin (1).

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit widersetzten sich in Paris einige Tausend Demonstranten so lange und so energisch der Polizei. Ständig neuen Einsatzkommandos - die von einem Hagel von Pflastersteinen begrüßt wurden - gelang es mehrere Stunden lang nicht, den Boulevard St. Michel und die anliegenden Straßen zu räumen. 600 Personen wurden von der Polizei aufgegriffen .

Als sofortige Reaktion darauf riefen die nationale Gewerkschaft der Hochschulen,und Universitäten, gefolgt von der UNEF zum unbefristeten Streik im Hochschulwesen auf. Die Verurteilung von vier Demonstranten zu Gefängnisstrafen, die am Sonntag, dem 5.Mai verhängt wurden, trug verstärkt dazu bei, die Demonstration, die für den 6. Mai vorgesehen war, um den Universitätsrat unter Druck zu setzen, zu radikalisieren.

Die Stalinisten taten natürlich ihr Bestes, um die Bewegung auseinanderzubrechen. Der Leitartikel von G. Marchais am 3. Mai in der "Humanite" der diese Politik auf einem fast parodistischen Niveau darlegte, stieß die Masse der Studenten vor den Kopf. Von diesem Augenblick an wurde den Stalinisten in allen Agitationszentren, die die Studentenbewegung schaffen sollte, das Wort verboten.

Der ganze 6. Mai war von Demonstrationen gekennzeichnet, die am frühen Nachmittag in einen Aufstand übergingen. Die ersten Barrikaden wurden auf dem Platz Maubert errichtet und drei Stunden lang verteidigt.

Gleichzeitig kam es zu Kämpfen auf dem unteren Boulevard St.Michel, auf dem Place du Chatelet, dann in der Gegend um die Hallen. Zu Beginn des Abends hielten die Demonstranten - mehr als zehntausend an der Zahl - hauptsächlich die Gegend um den Platz St. Germain besetzt, wo sich ihnen der größte Teil des von der UNEF organisierten Demonstrationszuges - von Denfert-Rochereau kommend - erst gegen 18 Uhr anschloß (2). "Was folgen wird", schrieb "le Monde" vom 8. Mai, "wird an Gewalt und Umfang alles übertreffen, was an diesem Tag passiert ist, der bereits in jeder Hinsicht erstaunlich war. Es wird eine Art Straßenkampf geben, der manchmal in eine Art Raserei übergeht, wo jeder Schlag sofort mit einem Gegenschlag beantwortet, wo das gerade eroberte Gebiet sofort wieder verlorenwird. . . DramatischeMomente, ohne Verñunft, wo es dem Beobachter schien, daß ein Hauch von Wahnsinn in der Luft lag. " Und "L'Aurore" vom 7. Mai bemerkt: "Man sieht an Seiten der Demonstranten mit Eisenstangen bewaffnete Rocker, die aus den Vororten ins Pariser Zentrum gekommen sind, um den Studenten ihre tatkräftige Unterstützung zu erweisen. " Die letzten Zusammenstöße setzten sich bis nach Mitternacht fort, besonders in Montparnasse.

Zum ersten Mal wurden Autos quer über die Straße gekippt und angesteckt Pflastersteine aus den Straßen gerissen und zum, Bau von Barrikaden benutzt und Läden geplündert. Die Praxis dieser subversiven Aufschriften, die bereits in Nanterre erprobt worden waren, begann an diesem Tag sich auf verschiedene Viertel von Paris auszubreiten. In dem Maße, wie sich die Barrikaden und die Wirksamkeit des Gegenangriffs der Meuternden verstärkten, waren die Polizeikräfte gezwungen, ihre Taktik des direkten Einsatzes zugunsten eines Positionskampfes aufzugeben, bei dem sie in erster Linie Handgranaten und Tränengas einsetzten.

Dieser Tag ist weiterhin gekennzeichnet durch den ersten Eingriff der Arbeiter in den Kampf, der Gymnasiasten, die seit dem Morgen bedeutende Demonstrationen organisiert hatten, der Rocker und der jungen Arbeitslosen. Die Spontaneität und Gewalt dieser Folge von Meutereien stand in heftigem Gegensatz zu der Plattheit der Ziele und Parolen, die von den studentischen Initiatoren vorgeschlagen worden waren (3). Und schon die Tatsache, daß sich Rocker unter dem Kampfruf "Die Sorbonne den Studenten" hatten schlagen können, zeigte das Ende einer ganzen Periode an. Acht Tage später waren diese politisierten Rocker selbst in der Sorbonne.

Die UNEF, die während der Demonstrationen nicht aufgehört hatte, die Gewalttätigkeiten zu verurteilen, sah sich dann jedoch schon am Tag darauf gezwungen, verbal ihre Haltung zu ändern, um dem völligen Mißkredit zu entgehen und um auf diese Weise ihre mäßigende Tätigkeit fortsetzen zu können. Dagegen ließen die Stalinisten der CGT brennen, was nicht zu retten war. Sie zogen es vor, sich vollständig von der Masse der Studenten abzusondern, um so weiterhin ihre Kontrolle über die isoliert gehaltenen Arbeiter ausüben zu können. Seguy tat in einer Pressekonferenz am Morgen des 7. Mai kund: "Keine Nachsicht mit den zweideutigen und provokativen Elementen, die die Arbeiterklasse verleumnden, sie als verbürgerlicht anklagen und die den maßlosen Anspruch erheben, ihr die revolutionäre Theorie aufzuzwingen und ihren Kampf zu führen. Zusammen mit anderen Gauchisten gehen einige Elemente daran, die studentische Gewerkschaftsbewegung von ihrem Inhalt als eine Massenbewegung zur Durchsetzung demokratischer Forderungen zu entleeren, zum Schaden der UNEF. Ihre Aktionen aber geschehen zur Zufriedenheit der Regierung.." In eben diesem Zusammenhang konnten Geismar, Sauvageot und Cóhn-Bendit die scheinbaren Führer einer Bewegung ohne Führer werden . Presse , Rundfunk und Fernsehen, die nach den Chefs suchten, fanden keine anderen als sie.

Sie wurden die unzertrennlichen, photogenen Stars eines Spektakels, das hastig der revolutionären Wirklichkeit übergestülpt wurde. Daß sie diese Rolle übernahmen, führte dazu, daß sie im Namen einer Bewegung sprachen, die sie nicht verstanden. Sicher, um dies zu tun, mußten sie auch den größten Tei! der revolutionären Tendenzen. in .dem Maß akzeptieren, wie sie sich in ihr manifestierten (Cohn-Bendit war derjenige, der den radikalen Inhalt ein wenig besser widerspiegeln konnte). Aber diese heilige Familie des improvisierten Neogauchismus konnte nichts als die spektakuläre Entstellung der wirklichen Bewegung sein und stellte so auch deren ver zerrtes Bild dar. Ihre ohne Unterlaß den Massenmedien präsentierte Dreieinigkeit war in der Tat das Gegenteil der wirklichen Kommunikation , nach der man im Kampf suchte und die man in ihm verwirklichte.

Dieses Trio voll ideologischem Charme konnte offensichtlich im Bildraster nur das Akzeptable - also das Entstellte und Rekuperierte - sagen, das, was eine solche Übermittlungsform erträgt; während jedoch gerade der Sinn des Augenblicks, der sie aus dem Nïchts geschleudert hatte; das rein Unakzeptable war.

Die Demonstration des 7. Mai wurde so gut von der UNEF und ihren eifrigen Unterwanderern in Beschlag genommen, daß sie sich auf einen Spaziergang ohne Ende beschränkte - entlang der völlig abwegigen Route Denfert-Rochereau bis Etoile und wieder zurück. Die Organisatoren verlangten nur die Wiedereröffnung der Sorbonne, den Abzug der Polizisten aus dem Quartier Latin und die Freilassung der verurteilten Studenten. Sie trugen die folgenden beiden Tage weiterhin zur Unterhaltung des Publikums bei, wobei es nur zu geringfügigen Zusammenstößen kam. Aber die Regierung zögerte, ihre bescheidenen Forderungen zufriedenzustellen. Sie versprach schon, die Sorbonne wieder zu eröffnen, aber Geismar und Sauvageot, die bereits von der ungeduldigen Basis des Verrats bezichtigt wurden, hatten ankündigen müssen, daß das Gebäude Tag und Nacht besetzt werden würde, um ein Sit-in über "die Probleme der Universität" zu ermöglichen. Unter diesen Umständen erhielt der Minister Peyrefitte die Bewachung der Sorbonne durch die Polizisten aufrecht und eröffnete Nanterre wieder, als Test, um den "guten Willen" der Studenten zu prüfen.

Am Freitag, dem 10.Mai(4), vereinigten sich noch einmal mehr als 20. 000 Personen auf dem Platz Denfert-Rochereau. Die bekannten Organisatoren diskutierten über den Ort, wohin sie die Demonstranten führen könnten. Nach einer langen Debatte entschlossen sie sich für die ORTF - aber vorher sollte auf einem Umweg am Justizministerium vorbeigezogen werden. Im Quartier Latin angekommen, fanden die Demonstranten alle Auswegmöglichkeiten in Richtung Seine versperrt, was einer schon absurden Route noch den Todesstoß versetzte. Sie entschlossen sich, solange im Quartier Latin zu bleiben, bis ihnen die Sorbonne wieder übergeben würde. Gegen 21 Uhr begann man spontan mit dem Bau von Barrikaden. Jeder erkannte darin sofort die Verwirklichung seiner Wünsche. Niemals hatte sich die Zerstörungsleidenschaft schöpferischer gezeigt. Alle liefen zu den Barrikaden.

Den Führern war das Wort genommen. Sie mußten die vollendete Tatsache akzeptieren und versuchten dümmlich, das ganze zu bagatellisieren.

Sie riefen, daß die Barrikaden nur defensiv seien , daß man die Po1izei nicht provozieren würde! Zweifellos hatten die Ordnungskräfte einen schweren technischen Fehler begangen, als sie den Barrikadenbau zuliessen, ohne sofort das Risiko eines Angriffs zur Aufhebung derselben auf sich zu nehmen. Aber die Errichtung eines Systems von Barrikaden, das solide ein ganzes Viertel umschloß, war bereits in sich ein unverzeihlicher Schritt hin zur Verneinung des Staates: Jede beliebige Form von Staatsmacht war gezwungen, die Barrikadenzone, die sich ihrer Macht entzogen hatte, so schnell wie möglich zurückzuerobern, oder zu verschwinden.(5)

Das Barrikadenviertel erstreckte sich vom Boulevard St. Michel im Westen, der Rue Claude Bernard im Süden, der Rue Mouffetard im Osten, der Rue Soufflot und dem Platz des Pantheon im Norden, Linien, die die Verteidiger besetzten, ohne sie zu kontrollieren. Seine Hauptadern waren die Rue Gay-Lussac, die Rue Lhomond und die Rue Tournefort in nordwest-südöstlicher Richtung, sowie die Rue d' Ulm in nord-südlicher Richtung. Die Rue Pierre Curie und die Rues des Ursulines-Thuillier waren seine einzigen Verbindungslinien von Osten nach Westen. Das Viertel erlebte in der Hand der Aufständigen von 10 Uhr abends bis 2 Uhr morgens eine unabhängige Existenz. Gegen 2 Uhr 15 griffen die Ordnungskräfte ein, die das Viertel von allen Seiten umzingelten; es gelang den Besetzern, sich mehr als drei Stunden lang unter ständigem Terrainverlust im Westen zu verteidigen. In der Nähe der Rue Mouffetard dauerte der Widerstand bis 5 Uhr 30 morgens an.

Zum Zeitpunkt des Angriffs hielten sich zwischen 1. 500 und 2. 000 Aufständische in diesem Gebiet auf; die Studenten unter ihnen machten weitaus weniger als die Hälfte aus. Eine beträchtliche Anzahl von Gymnasiasten und Rockern sowie einige Hundert Arbeiter (6) waren anwesend. Das war die Elite: die Unterwelt. Viele Ausländer, viele Mädchen nahmen am Kampf teil. Die revolutionären Elemente fast aller gauchistischen Gruppen waren vertreten; besonders eine große Anzahl von Anarchisten, von denen einige sogar der FA angehörten; sie schwangen schwarze Fahnen, die seit dem 6. Mai immer häufiger auf der Straße auftauchten und verteidigten verbissen ihre Hochburg an der Kreuzung der Rue de l´Estrapade , Rue Blainville und der Rue Thouin. Die Bevölkerung des Viertels bezeugte den Aufständischen ihre Sympathie, obwohl diese ihre Autos in Brandd steckten. Sie brachte ihnen Essen, kippte Wasser auf die Straßen, um die Wirkung der Gase abzumildern und bot ihnen schließlich Asyl an. Die sechzig Barrikaden, darunter zwanzig sehr stabile, erlaubten eine relativ langfristige Verteidigung und einen Rückzug im Kampf, allerdings innerhalb eines begrenzten Terrains. Die unzureichende, improvisierte Bewaffnung und vor allem die fehlende Organisation verhinderten es, Gegenattacken und Manöver in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, die Kampfzone zu erweitern; so waren die Meuterer wie in einem Fischernetz gefangen.

Die letzten Hoffnungen derer, die darauf aus waren, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, brachen in jener Nacht zusammen; sie dankten verschämt ab oder erwiesen sich als völlig machtlos. Die FER, die die am besten organisierte Truppe besaß, ließ ihre 500 Militanten bis zu den Barrikaden marschieren, um dort zu erklären, daß es sich um eine Provokation handele und daß man deshalb gehen müsse. Das machten sie dann auch, die rote Fahne an der Spitze. Während dieser Zeit gaben Cohn-Bendit und Sauvageot - immer noch Gefangene ihrer Starverpflichtungen - dem Rektor Roche zu verstehen, daß die Polizei sich aus dem Viertel zurückziehen müsse, "um jedes Blutvergießen zu vermeiden". Diese extravagante Aufforderung, die in einem solchen Moment an einen Beamten zweiten Ranges gestellt wurde, war dermaßen von den Ereignissen überrollt, daß sie nur eine Stunde lang die Illusionen der Allernaivsten aufrechterhalten konnte. Roche empfahl denjenigen, die mit ihm reden wollten, einfach, die "Studenten" nach Hause zu schicken.

Die Schlacht wurde sehr hart. Den CRS, der Polizei und der mobilen Gendarmerie gelang es, die Barrikaden durch eine intensive Bombardierung mit Brandbomben, Handgranaten und Chlorgas unhaltbar zu machen, bevor sie sich daran wagten, sie im Sturm zu nehmen. Die Aufständischen antworteten mit Pflastersteinen und Molotow-Cocktails. Sie steckten die Wagen in Brand, kippten sie um und stellten sie im Zick-Zack auf, um den Vormarsch des Feindes hinauszuzögern; einige stiegen auf die Dächer, um von dort aus alle möglichen Wurfgeschosse hinabzuwerfen. Bei verschiedenen Gelegenheiten mußte die Polizei zurückweichen. Meistens steckten die Revolutionäre die Barrikaden, die sie nicht mehr halten konnten, in Brand.

Es gab mehrere Hundert Verletzte und 500 Festnahmen. Vier oder fünf Aufständische wurden von der Ecole Normale Superieure, Rue d'Ulm aufgenommen, in die die Polizei nicht einzudringen wagte. 200 oder 300 konnten sich in die Rue Monge zurückziehen, fanden Zuflucht bei Bewohnern des Viertels oder konnten über die Dächer fliehen. Bis gegen Ende des Vormittags kämmte die Polizei das Viertel durch, schlug alle brutal nieder und nahm jeden fest, der ihr verdächtig erschien.

Anmerkungen

(1) Einer dieser Wagen konnte nicht alle Gefangenen am Bestimmungsort abliefern. Sie waren nur von drei Polizisten bewacht. Diese wurden belästigt und einige Dutzend Demonstranten entkamen.

(2) Dazu muß man feststellen, daß sich zwischen der Haltung der Organisatoren und dem tatsächlichen Kampf, der schon seit Stunden im Gang war, eine bestimmte Diskrepanz auftat. "In den anliegenden Gebieten des Platzes Denfert-Rochereau, wo man keine Polizisten sehen kann, . . . werden Barrikaden mit Hilfe von Materialien aus den anliegenden Baustellen errichtet, trotz der Einwürfe des Ordnungsdienstes der UNEF und verschiedener anderer Studentenorganisationen. "("Le Monde" vom 8. Mai).

(3) "Stoppt die Repression" "Befreit unsere Genossen", "Roche muß weg!" "Recht auf Gewerkschaften',', "Die Sorbonne den Studenten". Dieselbe Rückständigkeit kann man in dem Tonfall der Erklärung des nationalen Büros der FER entdecken, die am Tag danach "die Tausende von Studenten und jungen Arbeitern grüßt, die dern Aufruf der UNEF gefolgt sind und sich den ganzen Montag den Kräften der Repression des gaullistischen Staates zur Verteidigung der demokratischen und gewerkschaftlichen Freiheit widersetzt haben. "

(4) Der Universitätsrat, der an diesem Tag seine Sitzung über die Nanterre-Affäre abhalten sollte, beschloß, diese zu verschieben, weil die Aufrechterhaltung der notwendigen, ernsthaften Atmosphäre nicht mehr gesichert war. Vom 6. Mai an war ein anonymes Flugblatt verteilt worden, das die Überschrift "Universitätsrat Paris, Gebrauchsanweisung" trug und die Privatadressen und Telefonnummern aller seiner Mitglieder bekanntgab. Die Erklärung Reñe Riesels "Das Schloß brennt" konnte also den Richtern nicht vorgelesen werden; sie wurde nur an die Demonstranten verteilt.

(5) Aufgrund dieser übermäßigen ideologischen Verzerrung und ihres Mißbrauchs durch ihre Wortführer glaubten sehr viele Leute auf den Barrikaden, daß die Polizei darauf verzichten könnte, diese anzugreifen.

(6 ) Und nicht nur junge.

 

 

Der wilde Generalstreik

aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S. 81-91

Im Laufe des 17. Mai dehnte sich der Streik auf fast die gesamte Metall- und chemische Industrie aus. Nach den Arbeitern von Renault entschlossen sich die von Berliet, Rhodiaceta, Rhone-Poulenc und der SNECMA zur Besetzung ihrer Fabriken. Mehrere Bahnhöfe befanden sich in den Händen der Arbeiter und nur wenige Züge verkehrten noch. Die Postbeamten besetzten schon die Versandabteilgungen. Am 18.griff der Streik auf die Air France und die RATP über. Der Streik, der von einigen exemplarischen Besetzungen in der Provinz seinen Ausgang genommen hatte, erreichte das Gebiet um Paris, um von dort aus das ganze Land zu erfassen. Von diesem Augenblick an konnten selbst die Gewerkschaften nicht mehr daran zweifeln, daß diese Kettenreaktion wilder Streiks im Generalstreik enden würde.

Spontan ausgelöst, hatte sich die Bewegung der Besetzungen gleich gegen alle Ansprüche und Kontrollen der Gewerkschaften behauptet. "Die Direktion von Renault", so stellte "Le Monde" vom 18. Mai fest, "unterstreicht den wilden Charakter der Auslösung der Bewegung nach dem Streik des 13. Mai, der in der Provinz nur teilweise befolgt worden war. Man hält es gleichfalls für paradox, daß der Herd des Protestes sich in einem Unternehmen befindet, wo es auf sozialer Ebene nur relativ geringe Routinekonflikte gab."

Der Umfang des Streiks zwang die Gewerkschaften zu einer schnellen Gegenoffensive, die besonders brutal klarmachen sollte, daß ihre natürliche Funktion die von Hütern des kapitalistischen Systems in den Fabriken zist. Die gewerkschaftliche Strategie verfolgte ihr Hauptziel: den Streik zu zerstören. Um das zu erreichen, bemühten sich die Gewerkschaften, die eine lange Tradition als Brecher von wilden Streiks haben, diese ausgedehnte Bewegung, die einem Generalstreik gleichkam, zu einer Reihe von Streiks zu reduzieren, die gleichzeitig in verschiedenen Unternehmen stattfanden. Die CGT übernahm die Führung dieser Gegenoffensive. Am 17. Mai tagte ihr Bundesrat und erklärte: "Die Aktion, die auf Initiative der CGT und anderer Gewerkschaftsorganisationen begonnen wurde, schaffte eine neue Situation von außerordentlicher Bedeutung. " Der Streik wurde so akzeptiert, aber um jede Aufforderung zum Generalstreik abzublocken.

Nichtsdestotrotz stimmten die Arbeiter überall für den unbegrenzten Streik und die Fabrikbesetzungen. Um Herr über eine Bewegung zu werden, die sie direkt bedrohte, mußten die bürokratischen Organisationen zunächst die Initiative der Arbeiter bremsen und der beginnenden Autonomie des Proletariats entgegentreten. Sie bemächtigten sich also der Streikkomitee, die sofort zu einer richtiggehenden Polizeimacht wurden mit dem Auftrag, die Arbeiter in den Fabriken zu isolieren und im Namen derselben ihre eigenen Forderungen zu stellen.

Während an den Toren fast sämtlicher Fabriken die Streikposten - immer auf Anordnung der Gewerkschaften - die Arbeiter daran hinderten, für sich selbst und mit anderen zu sprechen, sowie den radikalsten Strömungen, die sich damals manifestierten, zuzuhören, sorgten die Gewerkschaftsführungen für die Einschränkung der gesamten Bewegung auf ein Programm rein beruflicher Forderungen. Das Spektakel des bürokratischen Protestes erreichte seinen parodistischen Höhepunkt, als die frisch entchristianisierte CFDT sich daran begab - zu Recht im übrigen - die CGT anzuklagen, daß sie sich nur auf materielle Aspekte beschränkte.

Die CFDT proklamierte: "Jenseits der materiellen Forderungen wird das Problem der Verwaltung und der. Führung der Unternehmen gestellt. " Dieses "Überbieten" einer modernistischen Gewerkschaft aus wahltaktischen Gründen ging so weit, die "Selbstverwaltung" vorzuschlagen, als Form "der Arbeitermacht in den Unternehmen". Man konnte damals die beiden Hauptfälscher dabei beobachten, wie sie sich gegenseitig die Wahrheit ihrer eigenen Lüge an den Kopf warfen: der Stalinist Seguy, indem er die Selbstverwaltung als "leere Formel" abqualifizierte, und der Pfaffe Descamps, indem er sie ihres wirklichen Inhalts entleerte. In der Tat war dieser Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten um die bestmöglichsten Verteidigungsformen des bürokratischen Kapitalismus das Vorspiel ihres grundlegenden Einverständnisses über die Notwendigkeit, mit dem Staat und den Unternehmern zu verhandeln.

Am Montag, dem 20. Mai, waren Streik und Fabrikbesetzung allgemein, von einigen Sektoren abgesehen, die allerdings nicht zögern sollten, sich der Bewegung anzuschließen. Man zählte sechs Millionen Streikende; es sollten in den folgenden Tagen mehr als zehn Millionen werden. Die CGT und die KP - von allen Seiten überholt - denunzierten jede Idee eines "aufrührerischen Streiks", während sie gleichzeitig vortäuschten, ihre Forderungen zu erhärten. Seguy erklärte, daß "seine Dossiers für eine eventuelle Verhandlung bereit seien. " Für die Gewerkscha.ften sollte die ganze revolutionäre Kraft des Proletariats nur dazu dienen, sie in den Augen einer; fast nicht mehr existierenden Regierung und einer faktisch enteigneten Unternehmerschaft präsentierfähig zu machen.

Die gleiche Komödie wurde auf der politischen Bühne gespielt. Am 22.Mai wurde der Zensurantrag mitten in der allgemeinen Gleichgültigkeit verschoben. Es geschahen mehr Dinge auf den Straßen und in den Fabriken als in allen Parlaments- und Parteisitzungen zusammen. Die CGT rief zu einem "Tag der Forderungen" am Freitag, den 24. , auf. Aber in der Zwischenzeit führte das Aufenthaltsverbot für Cohn-Bendit zu einem Wiederaufflammen der Straßenkämpfe. Eine Protestdemonstration wurde am gleichen Tag improvisiert, um die des folgenden Tages, des Freitags, vorzubereiten. Die Parade der CGT-Leute, die um 14 Uhr begonnen hatte, schloß mit einer besonders senilen Rede de Gaulles.

Jedoch zur gleichen Stunde hatten sich Tausende von Demonstranten entschlossen, noch einmal sowohl der Polizei wie dem studentischen Ordnungsdienst zu trotzen. Die massive Beteiligung von Arbeitern an dieser Demonstration, die von CGT und KP verurteilt wurde, zeigte im negativen Sinne an, bis zu welchen Grad diese nur noch das Schauspiel einer Macht bieten, konnten, die ihnen nicht mehr gehörte. Auf die gleiche Art und Weise gelang es dem "Führer des 22. März" durch seine erzwungene Abwesenheit, eine Agitation hervorzurufen, die er nicht hätte bändigen können.

Einige 30.000 Demonstranten hatten sich zwischen dem Gare de Lyon und der Bastille versammelt. Sie machten sich in Richtung Rathaus auf den Weg. Aber die Polizei hatte natürlich bereits alle Auswege versperrt: die erste Barrikade wurde also auf der Stelle errichtet. Sie gab das Signal zu einer Reihe von Zusammenstößen, die sich bis zum Morgengrauen fortsetzten. Einem Teil der Demonstranten war es gelungen, sich zur Börse durchzuschlagen und sie zu verwüsten. Dieser Brand, der den Wünschen mehrerer Generationen von Revolutionären entsprochen hätte, zerstörte diesen "Tempel des Kapitals" nur sehr oberflächlich. Mehrere Gruppen hatten sich in den Vierteln um die Börse, die Hallen und die Bastille bis zum Platz der Nation verteilt; andere erreichten das linke Seine-Ufer und hielten das Quartier Latin und St. -Germain-des-Pres besetzt, bevor sie sich in Richtung Denfert-Rochereau zurückzogen. Die Gewalt erreichte ihren Höhepunkt (1). Sie hatte aufgehört, das Monopol der "Studenten" zu sein, sie wurde das Privileg des Proletariats. Im Enthusiasmus wurden zwei Polizeireviere verwüstet: das am Odéon und das an der Rue Beaubourg.

Vor der Nase der ohnmächtigen Polizisten wurden vor dem Pantheon zwei grüne Minnas und ein Dienstwagen mit Hilfe von Molotow-Cocktails in Brand gesteckt.

Zur gleichen Zeit schlugen sich mehrere Tausend Aufständische mit der Polizei in Lyon und töteten einen Kommissar, indem sie einen mit Steinen beladenen Lastwagen auf ihn zurollen ließen; sie gingen weiter als in Paris und organisierten die Plünderung eines Kaufhauses. Es kam zu Kämpfen in Bordeaux, wo die Polizei den Waffenstillstand vorzog, in Nantes und selbst in Straßburg.

So waren die Arbeiter in den Kampf eingetreten, nicht nur gegen ihre Gewerkschaften, sondern sie sympathisierten obendrein noch mit einer Bewegung von Studenten, schlimmer noch, von Halbstarken und Vandalen, die so phantastische Parolen vertraten wie:"Arbeite nie" und "Ich habe mich mit den Pflastersteinen vergnügt". Keiner der Arbeiter, der zu den Revolutionären außerhalb der Fabriken kam, um zusammen mit ihnen eine Verständigungsbasis zu suchen, äußerste gegenüber diesem extremen Aspekt der Bewegung Bedenken. Im Gegenteil, die Arbeiter zögerten nicht, Barrikaden zu errichten, Autos zu verbrennen, Polizeireviere zu plündern und aus dem Boulevard St. Michel einen großen Garten zu machen, Arm in Arm mit denen, die vom nächsten Tag an von Fouchet und der sogenannten kommunistischen Partei als "Abschaum der Gesellschaft" bezeichnet werden sollten .

Die Regierung und die bürokratischen Organisationen antworteten gemeinsam am 25. Mai auf dieses Vorspiel zu einem Aufstand, das sie das Fürchten gelehrt hatte. Ihre Antworten ergänzten sich: beide wünschten das Verbot von Demonstrationen und sofortige Verhandlungen; jeder traf die Entscheidung, die der andere wünschte.

Anmerkungen

(1) Man gab zu, daß es einen Toten unter den Demonstranten gegeben hatte. Das arme Opfer gab Anlaß zu vielerlei Gerüchten: man erklärte, daß es von einem Dach gefallen sei; dann, daß es erschlagen worden sei, als es sich dem demonstrierenden Mob entgegenstellte. Schließlich ergab der Bericht eines Gerichtsmediziners mehrere Wochen nach dem Tod, daß das Opfer durch die Explosion einer Handgranate umgekommen war.

 

 

Der Höhepunkt

aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S.120-123

Im Verlaufe des Vormittags vom 27. Mai legte Seguy den Arbeitern der Renault-Werke in Billancourt die Abkommen vor, die zwischen Gewerkschaften, Regierung und Unternehmern ausgehandelt worden waren. Einstimmig pfiffen die Arbeiter den Bürokraten aus, der - wie seine ganze Rede bezeugt, in der Hoffnung gekommen war, eine "Volkszustimmung" zu diesem Resultat zu erhalten. Vor der Wut der Basis zog der Stalinist sich eiligst hinter ein bis dahin verschwiegenes, aber tatsächlich wichtige Detail zurück: nichts würde ohne die Zustimmung der Arbeiter unterzeichnet werden. Da diese die Vereinbarungen ablehnten, mußten Streik und Verhandlungen weitergehen. Im Anschluß an Renault wiesen alle anderen Unternehmen die Krümel zurück, mit denen die Bourgeoisie und ihre Helfeshelfer gedacht hatten, die Wiederaufnahme der Arbeit zu bezahlen.

Der Inhalt der "Vereinbarungen von Grenelle" hatte sicher nichts an sich, was die Arbeitermassen zu Begeisterungsstürmen hätte hinreißen können, die wußten, daß sie schon die virtuellen Herren der Produktion waren, die sie seit zehn Tagen stillgelegt hatten. Diese Vereinbarungen erhöhten die Löhne um 7 % und setzten den gesetzlich festgelegten Mindeslohn (SMIG) von 2, 22 auf 3, 00 Francs herauf. Das heißt, daß der am meisten ausgebeutete Teil der Arbeiterklasse - besonders in der Provinz - der 348, 80 Franc im Monat verdiente, nun mit 520 Francs über eine der "Überflußgesellschaft" besser angepaßte Kaufkraft verfügen durfte. Die Streiktage sollten erst dann bezahlt werden, wenn sie in Form von Überstunden abgearbeitet worden waren. Dieses Trinkgeld belastete das normale Funktionieren der französischen Wirtschaft bereits schwer genug, besonders in ihren Zwangsbeziehungen mit der EWG und in allen anderen Aspekten der kapitalistischen Konkurrenz auf internationaler Ebene. Alle Arbeiter wußten, daß solche "Vorteile" ihnen durch unmíttelbar bevorstehende Preiserhöhungen wieder abgeknöpft werden würden - und noch mehr. Sie f ü h 1 t e n , daß es wesentlich zweckmäßiger wäre, das ganze System, das bis zu seinen äußersten Zugeständnissen gegangen war, wegzufegen, und die Gesellschaft auf einer anderen Basis zu organisieren. Der Sturz des gaullistischen Systems war ein notwendiges Vorspiel zu dieser Umkehrung der Perspektiven.

Die Stalinisten sahen, wie gefährlich die Situation war. Trotz ihrer ständigen Unterstützung war die Regierung in ihrem Bemühen, sich durchzusetzen, wieder einmal gescheitert. Nach dem Mißerfolg Pompidous am 11.Mai, der versucht hatte, die Krise dadurch aufzuhalten, daß er seine persönliche Autorität im Universitätsbereich opferte, hatten nun eine Rede von de Gaulle und die Vereinbarungen, die hastig zwischen Pompidou und den Gewerkschaften abgeschlossen worden waren, eine Krise nicht überwinden können, die tief sozial geworden war. Die Stalinisten fingen an, die Hoffnung auf das Überleben des Gaullismus aufzugeben, weil sie ihn bis dahin nicht hatten retten können und weil der Gaullismus die nötige Triebkraft verloren zu haben schien, um sich an der Macht zu halten. Sie sahen sich zu ihrem großen Bedauern gezwungen, sich in das andere Lager hineinzuwagen, dort, wo sie immer zu sein behauptet hatten. Am 28. und 29. Mai setzten sie auf die Karte des Sturzes des Gaullismus. Sie mußten verschiedene Faktoren berücksichtigen, die sie unter Druck setzten, an erster Stelle die Arbeiter, dann die verschiedenen Elemente der Opposition, die zu behaupten begannen, daß sie an die Stelle des Gaullismus treten würden und denen es also passieren könnte, daß sich ihnen ein Teil derer anschloß, die in erster Linie den Sturz des Regimes wollten. Es handelte sich dabei ebenso um die christlichen Gewerkschaftler der CFDT wie um Mendès-France, um die "Féderation" des zweideutigen Mitterand wie die Versammlung der äussersten Linken zwecks einer bürokratischen Organisierung im Stadion Charléty (1). Alle diese Träumer erhoben im übrigen ihre Stimme nur im Namen der angeblichen Kraft, die die Stalinisten ins Spiel bringen würden, um i h r e n Nach-Gaullismus zu beginnen. Albernheiten, die in der unmittelbaren Folge sanktioniert werden sollten.

Viel realistischer waren die Stalinisten. Sie schickten sich darein, in den zahlreichen und entschlossenen Demonstrationen der CGT am 29. Mai ein "Volksregierung" zu fordern,und waren schon bereit, diese zu verteidigen. Sie wußten wohl, daß dies für sie nur ein gefährlicher Notbehelf darstellte. Wenn sie noch dazu beitragen konnten, die revolutionäre Bewegung zu besiegen, bevor diese den Gaullismus gestürzt hatte, so fürchteten sie zu Recht, daß sie sie h i n t e r h e r nicht mehr besiegen könnten. Bereits am 28. Mai verkündigte ein Kommentar im Radio mit verfrühtem Pessimismus, daß die KPF sich nie wieder erholen würde und daß die Hauptgefahr von den "situationistischen Gauchisten" drohe.

Am 30. Mai offenbarte eine Rede de Gaulles seinen festen Willen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Er schlug vor, zwischen baldigen Legislativwahlen und dem sofortigen Bürgerkrieg zu wählen. Regierungstreue Regimenter wurden rund um Paris aufgestellt - und häufig genug fotografiert. Die äußerst erfreuten Stalinisten hüteten sich sehr wohl, zur Aufrechterhaltung des Streiks bis zum Fall des Regimes aufzurufen. Sie beeilten sich, sich den gaullistischen Wahlen anzuschließen, was auch immer sie dafür bezahlen sollten.

Unter solchen Bedingungen bestánd die unmittelbare Alternative in der autonomen Bestätigung des Proletariats oder in der totalen Niederlage der Bewegung; in der Revolution der Räte oder den Beschlüssen von Grenelle. Die revolutionäre Bewegung konnte die KPF nicht entmachten, ohne vorher de Gaulle gefeuert zu haben. Die Form der Arbeitermacht, die sich in der nach-gaullistischen Phase der Krise hatte entwickeln können, fand sich gleichzeitig durch die erneute Behauptung des alten Staates und die KPF blockiert und hatte somit keine Chance mehr, ihrer bereits in Gang gesetzten Niederlage zuvorzukommen.

Anmerkungen

(1) Es war eines der Verdienste der Anhänger Cohn-Bendits im "22. März", die Annäherungsversuche des in Bann gelegten Stalinisten Barjonets und anderer gauchistischer Ökumenehäuptlinge zurückzuweisen, Es versteht sich von selbst, daß die Situationisten darauf nur mit Verachtung antworteten (siehe Anhang: "Adresse an alle Arbeiter")

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