Der unbewußte Antisemitismus
Vor einigen Jahren hat Tadeusz Mazowiecki (der erste postkommunistische
Ministerpräsident Polens) in der katholischen Zeitschrift "Więź" ["das Band"]
geschrieben: es gibt ehrliche und anständige Menschen, die von sich sagen: ich bin keineswegs
Antisemit; selbst wenn meine Tochter einen Juden heiraten wollte, würde ich sie nicht daran
hindern. In der Tat, sie würden ihre Tochter zwar nicht daran hindern, es würde ihnen
aber auch nicht in den Kopf kommen, ihre Tochter daran zu hindern, einen Italiener oder einen
Ungar zu heiraten, ob er nun blonde oder rote Haare hat.
Aber gerade darin, daß sie Juden als solche überhaupt herausstellen, läge ein
unbewußter, latenter Antisemitismus. Die Juden sind für sie eben "besondere" Menschen, sie
sind halt anders.
Ich habe mich an diesen Artikel infolge der Sühneveranstaltung vom 10. Juli in
Jedwabne erinnert, bei der Staatspräsident Kwaśniewski die führende Rolle gespielt hat.
Warum hat er als polnischer Staatspräsident die Juden überhaupt um
Verzeihung gebeten? Doch wohl deswegen, weil die in Jedwabne Ermordeten, sei es unbewußt
oder bewußt, als Bürger der II Republik von besonderer Art angesehen werden; weil diese
Ermordeten so behandelt werden als ob sie außerhalb der polnischen Gesellschaft gestanden
hätten, als ob sie in Polen FREMDE gewesen wären.
Warum nahmen an dieser Gedenkveranstaltung hohe Vertreter des Staates Israel, der
amerikanischen Juden sowie prominente Vertreter der jüdischen Gemeinden in Polen teil? Denn, wenn
es nämlich darum ginge, daß ein Tausend Kowalskis ebenso viele Brzezinskis getötet
hätten, würde keiner auf die Idee kommen, eine solche Sühneveranstaltung durchzuführen,
weil es hierbei nur um POLEN ginge. Es wurde also stillschweigend angenommen, daß die in Jedwabne
ermordeten Juden, die vom niemanden nach ihrer Haltung zum polnischen Staat bzw. zur polnischen Nation
befragt worden waren (es könnten ja unter ihnen auch solche gewesen sein, die sich - völlig zu
Recht - für Polen hielten), keine Polen, sondern Juden waren. Keiner der für diese Veranstaltung
Verantwortlichen hat auch erklärt, worauf er diese Unterscheidung zurückführt: etwa auf
Religions- bzw. Rassenzugehörigkeit oder auf ein Bekenntnis zu Staat und Nation? Oder gar auf die
Haltung der Ermordeten gegenüber dem durch den Krieg vernichtend getroffenen polnischen Staat?
Es wurde auch nicht hinreichend geklärt, aus welchen Gründen sie
überhaupt ermordet wurden: aus rassischen und religiösen - d.h. weil sie schlicht
Juden waren? Vielleicht waren es aber auch politische Gründe - z.B. Rache für die
Kollaboration mit den sowjetischen Besatzern, oder etwa gar pure Raff- und Raubgier? Weder
Untersuchungen von Historikern noch die nicht abgeschlossenen staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungen haben bisher klären können, aus welchen Gründen polnische
Staatsangehörige aus Jedwabne an der Ermordung (oder lediglich an dem diese vorbereitenden
Zusammentreiben) anderer polnischer Staatsangehörigen von Jedwabne teilgenommen
haben. Es wurde schlicht angenommen, daß die "Unsrigen" FREMDE, d.h. "Nichtunsrige" ermordet haben.
Daraus erklärt sich auch die Teilnahme der Vertreter des Staates Israel sowie das Sühneersuchen
des erschütterten Präsidenten der Republik Polen.
Warum weckt gerade dies meine Aufmerksamkeit ? Eben, weil der Präsident
Kwaśniewski zu keinem Zeitpunkt anderer, seinerzeit ermordeter polnischer Staatsangehöriger,
auch nicht derer, die von den Funktionären der politischen Formation, der er selbst in leitender
Funktion angehörte und deren finanzielles und moralisches Erbe eine Partei übernommen hat, deren
erster Vorsitzender er dann wurde, mit solcher Inbrunst gedacht hat. Dies hat er nie getan, obwohl
besagte Formation sowie deren östlicher Förderer den Tod von Tausenden und mehr Bürgern
der III. Republik zu verantworten haben als in Jedwabne und Radziwiłów zusammen zu Tode
gekommen sind.
Ich erinnere nur daran, daß alleine infolge der Justizmorde über 3.000
polnische Staatsangehörige, darunter auch solche, die nicht polnischer Volkszugehörigkeit waren,
ihr Leben lassen mußten. Ganz zu schweigen von den vielen Tausenden, die durch Gefängnis und
Lagerhaft krank bzw. invalide wurden und deswegen außerstande waren, ihre Frauen und Kinder zu
ernähren. Mehrere hundert Personen wurden u.a. vor den Wahlen 1947 als politische Gegner der
Polnischen Arbeiterpartei (PPR) hinterrücks umgebracht. Das ehemalige KZ-Lager Majdanek und
andere ehemalige NS-Konzentrationslager wurden mit polnischen Staatsangehörigen gefüllt.
Im berüchtigten Gefängnis Schloß Lublin wurden in den Jahren 1944-56 kaum weniger
Polen eingekerkert als in den Jahren 1939-44.
Mit Zustimmung des damaligen Regimes wurden mehrere Tausend polnische Bergleute sowie
um ein vielfaches mehr andere polnische Arbeiter zur Zwangsarbeit in sowjetischen Bergwerken und Betrieben
in die UdSSR deportiert. Dieses Schicksal mußten auch tausende ehemalige Soldaten der Heimatarmee (AK)
mit diesen teilen. Es wurden aber auch genuin polnische Konzentrationslager errichtet - wie z.B. das Lager
in Rembertów bei Warschau, die den deutschen KZ-Lagern in Nichts nachstanden. Im auf dem linken Ufer
der Weichsel gelegen Stadtteil Warschaus, Praga, wurden einzelne Häuser zu Folterkammern
umfunktioniert.
Junge polnische Männer sog. klassenfeindlicher Herkunft wurden zur tödlichen Arbeit in den
Uranbergwerken gezwungen, wo sie ihr Leben für die imperiale UdSSR hingeben mußten. In den
polnischen Lagern und Gefängnissen wurden mehr ehemalige Mitglieder der Heimatarmee (AK) gefangen
gehalten als ehemals in Auschwitz während der deutschen Besatzung usw., usf.
Greifen wir nur ein Beispiel, das Beispiel von Jaworzno in der Wojewodschaft
Katowice [Kattowitz], eines Sublagers des ehemaligen KZ-Lagers in Auschwitz, auf. Während der
Herrschaft der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) und ihrer Nachfolgerin, der Polnischen Vereinigten
Arbeiterpartei (PZPR), erfüllte dieses Lager über lange Jahre hinweg dieselbe Funktion wie
zu Zeiten von Gestapo und NSDAP. Zunächst wurden dort Deutsche und Volksdeutsche polnischer
Staatsangehörigkeit unter furchtbaren Bedingungen gefangen gehalten, von denen viele darob
verstarben. Nach der Aktion "Wisła" ["Weichsel"] wurden dort dann ukrainische Zivilisten,
darunter Frauen und Kinder polnischer Staatsangehörigkeit inhaftiert. Danach wurden dort
polnische Jugendliche wegen "politischer Verbrechen" zur Verbüssung langjähriger
Haftstrafen weggesperrt. Zu Recht trägt das diesen gewidmete Buch den Titel: "Jünger
als die Dauer ihrer Gefängnisstrafen".
Hat der Präsident Kwaśniewski etwa je polnische Staatsangehörige
(Ukrainer) für die mörderische Gefängniszeit, für den Tod hunderter Zivilpersonen,
darunter Frauen und Kinder, die nie gerichtlich verurteilt, sondern lediglich der Kollaboration mit
der Aufständischen Ukrainischen Armee (UPA) verdächtigt wurden, um Verzeihung gebeten?
Diese wurden nämlich nicht von irgendwelchen "Kowalskis", sondern von Staatsfunktionären,
die auf Geheiß höchster Stellen des polnischen Staates handelten, inhaftiert und
mißhandelt. Hat er etwa polnische Staatsangehörige (Deutsche), die dort ebenfalls ohne
Schuldnachweis gefangen gehalten wurden, um Verzeihung gebeten? Hat er schließlich polnische
Staatsangehörige - [gebürtige] Polen, die 15-18-jährig wegen Verbreitung von
Flugblättern oder Gründung von eher kindlichen politischen Organisationen zu Sklavenarbeit
gezwungen wurden, um Verzeihung gebeten?
- Nein, nie! Er hat lediglich die Juden wegen eines Mordes, der unter den
Auspizien eines anderen, nämlich des deutschen Staates, ohne jedwede Beteiligung des
polnischen Staates begangen wurde, um Verzeihung gebeten.
- Warum? Darauf habe ich keine klare Antwort. Vielleicht nur deswegen,
weil er ein latenter Antisemit ist, für den ein Jud - halt nur ein Jud ist, den niemand
fragt, für wen er sich überhaupt hält. Aber diese Menschen könnten sich
doch z.B. für sowjetische Bürger halten; eben nicht für Juden, sondern für
Bürger der Sowjetunion. Oder sie könnten einfach sich auch für Polen judischer
Herkunft halten, oder für irgendwen anderen.
Kehren wir nun aber noch einmal zur hier in Rede stehenden Sühneveranstaltung
zurück, die bei der Mehrheit von Publizisten und Politikern großen Zuspruch gefunden
hat. Der Staatspräsident hat dabei solche Formulierungen verwendet, von denen keine einzige
in seiner vor dem polnischen Sejm herausgestammelten Entschuldigungsrede für die Verbrechen
des Kommunismus, für die Verbrechen seiner eigenen politischen Formation also, zu finden war.
So hat er z.B. nie gesagt: "Für den Tod, das Leid und das Unrecht (...), für alle
schmerzhaften Ereignisse, die einen dunklen Schatten auf die Geschichte Polens werfen, tragen deren
Täter und Anstifter die Verantwortung.(...) Unsere Gewissen werden rein bleiben, wenn wir in
Erinnerung an diese Ereignisse in unseren Herzen Eintracht und moralische Empörung beibehalten.
Wir haben uns hier zu einer gemeinsamen Gewissenserforschung zusammengefunden. Wir ehren die Opfer
und sagen - nie wieder! (...) Das heutige Polen hat den Mut, der Wahrheit des Albtraums ins Gesicht
zu sehen, der ein Kapitel seiner Geschichte verdüstert hat" Wir sind uns unserer Verantwortung
auch gegenüber den dunklen Kapiteln unserer Geschichte bewußt geworden.(...) Wir
drücken unseren Schmerz und unsere Beschämung aus, wir geben unserer Entscheidung zur
Erlangung der Wahrheit, unserem Mut zur Überwindung der bösen Vergangenheit sowie unserem
unbeugsamen Willen zu Verständigung und Eintracht Ausdruck. Wegen dieses Verbrechens sollten wir
die Schatten der Toten, die Familien der Toten, wir sollten jeden, dem Unrecht angetan wurde um
Verzeihung anflehen(...)."
Niemals zuvor hat der Präsident der Republik Polen sich dazu durchgerungen,
solche Worte im Munde zu führen. Weder als es um nicht einmalige, sondern jahrelang andauernde
Verbrechen der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) bzw. der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR)
an Polen noch um solche an Ukrainern und Deutschen polnischer Staatsangehörigkeit ging.
Oh, wie leicht ist es an die fremde Brust, die Brust der armen, einfachen Leute
von Jedwabne zu schlagen und seine eigene, die Brust eines Mitglieds der kommunistischen Nomenklatura
zu schonen. Oh, wie leicht ist es!
Schon deswegen hat diese "große Rede" des Herrn Präsidenten auf mich
keinen überwältigenden Eindruck gemacht. Aber auch deswegen nicht, weil seine eigenen
Mitarbeiter, die für die antijüdische Hetze im Jahre 1968 verantwortlich waren,
ihre Ämter unbehelligt und von niemanden gestört, behielten. Doch hier handelte es
sich um "seine" Antisemiten, Antisemiten aus seinen Reihen, nicht aber um "fremde".
Dazu noch zwei Bemerkungen, die sich jedoch nicht auf den Staatspräsidenten,
sondern auf unsere Gäste aus Israel, den Vereinigten Staaten von Amerika usw. beziehen.
Die erste: warum hat der runde 60-gste Jahrestag der Verbrennung von 800 Juden durch die
Deutschen in der Synagoge von Białystok am 27. Juni 1941 keine analoge Ehrung zu Jedwabne
erfahren? Warum wurde nicht auch hier gebetet, wurden nicht auch hier Steinchen auf die
jüdische Grabstätte gelegt? Deswegen, weil etwa die Juden von Białystok weniger
wert waren als die aus Jedwabne oder weil sie weniger gepeinigt wurden? - Ich begreife das
nicht!!! Vielleicht nur deswegen, weil in Białystok unbezweifelbar die Funktionäre des
Dritten Reiches Täter waren?
Und die zweite: warum wird in Israel nicht ebenso laut das Schicksal der
semitischen Kinder beweint, die von den Israelis mit Handfeuerwaffen und Maschinengewehren
auf palästinensischem Boden erschossen werden? Dort sind bereits hunderte von Kindern
getötet worden! Gibt es gegenwärtig auf Erden überhaupt noch ein anderes Land,
wo so leicht und so erbarmungslos mit scharfer Munition auf semitische Kinder geschossen wird ?
Ist dies vielleicht kein Antisemitismus, wenn auch von besonderer Art?
Diejenigen, die die jüdischen Kinder aus Jedwabne und
Radziwiłów beweinen, deren Schmerz ich gut verstehe und teile, rufe
ich dazu auf, daß sie ebenso inbrunstig über das Schicksal der semitischen
Kinder auf eigenem Boden und auf dem Boden ihrer nächsten Nachbarn weinen. Ich rufe
sie dazu auf, daß sie dem Blutbad an unschuldigen Kindern ein Ende setzen. Dies liegt
doch in ihrer Macht. Sie sind hier nicht - wie ehemals in Jedwabne - Opfer in einem besetzten
Land, sondern üben selbst Souveränität aus. Sie könnten dies, sie
könnten alles. Sie sollen also auch zeigen, daß sie Gewissen haben!.
Prof. Dr.Tomasz Strzembosz
(Übersetzung E.K.)
Unterstreichungen im Text - WK.