Sigrid Löffler: Die Spaß-Generation hat sich müde gespielt. Ein Essay


von Sigrid Löffler

Nach der Ästhetisierung des Alltagslebens entdeckt die Erlebnisgesellschaft einen neuen Reiz: Die Verantwortung

1. Zuerst etwas über Zäune:

Das waren noch Zeiten, als Spiel und Ernst sich ohneweiters unterscheiden ließen!

Damals standen die Denk-Zäune noch regelrecht unter Strom: hier die Arbeit, dort das Spiel. Hier die Rede vom Leben, das ernst, und von der Kunst, die heiter sei. Dort der Spruch vom Menschen, der nur da ganz Mensch sei, wo er spiele. Hüben der heilige Ernst (auch wenn er vielleicht nur verkappter Bierernst war), der Alltag, die Arbeit, der unausweichlich schaffende Homo faber, des Lebens ernstes Führen; drüben der Nicht-Ernst und die Nicht-Arbeit, der Homo ludens in seinem Spielraum, der seelenvergnügte Spieler in seinem Kultur-Revier, seinem Kinderparadies, seinem Spaß-Reservat. Hüben das herbe Müssen, drüben das süße Müßige. Und wer sich an der Abzäunung dazwischen vergriff, der kriegte eins auf die Finger, Schlag auf Schlag.

Die Denk-Zäune unter Strom, die Sphären geschieden, die Regeln in Kraft. Auch (und vor allem) die Spielregeln.

Denn wie jeder Spieler weiß, kann regellos nicht gespielt werden. Es gibt nichts Unumstößlicheres, nichts Ernsthafteres als die heiteren Regelwerke des Spiels. Die frei vereinbarten, aber strikt eingehaltenen Spielregeln sind's, die das Spiel-Vergnügen garantieren. Spiel muß ernst genommen werden, um Spiel zu sein - sonst artet es aus in haltlose Spielerei. Im Reich des Spielerischen herrscht die unbedingte Strenge des ernsten Regelrechts - als reiner Selbstzweck des Ergötzens und der Lust. Da muß ganz einfach gelten: Eene meene muh - drauß' bist du. Da kann's keine Widerrede geben, keine Ausnahme und kein Schummeln. Sonst wäre das Spiel gleich kaputt.

Das waren noch Zeiten, als spielerischer Ernst und verspielter Unernst sich deutlich unterscheiden ließen!

Beispielsweise auf gut hermannhessisch: hier das Glasperlenspiel , dort das Feuilleton. Damals, im "Feuilletonistischen Zeitalter", wie Hesse seine Epoche nennt (und unsere mitmeint), lag den Morgenlandfahrern nichts ernstlicher am Herzen als das kastalische Glasperlenspiel. Hesses kultureller Geheim-Elite galt die Morgenlandfahrt als ein Akt der Auflehnung - als "heroisch-asketische Gegenbewegung" gegen das nichtige Getändel des Feuilletons -, galt Kastalien als ein Ort des Widerstandes gegen die "grinsende Gegenwart" und das Glasperlenspiel als das ideelle Gesamtkulturwerk, als große Synthese aller Wissenschaften und Kulturen - als "Inbegriff des Geistigen und Musischen", als "sublimer Kult", als "Unio Mystica aller getrennten Glieder der Universitas Litterarum".

In seinem Prosaroman "Das Glasperlenspiel" hat Hermann Hesse 1943 einen neuen Denk-Zaun aufgerichtet und unter Strom gesetzt - zwischen dem Geist und dem Feuilleton. Hier der Geist - nichts als Selbstzucht, Disziplin, Würde, Methode und intellektuelles Gewissen. Dort das Feuilleton - nichts als Individualismus und Süffisanz, Selbstpersiflage und Ironie, Kunstmoden-Geplauder und Zeitgeistreichelei. Dazwischen der Kultur-Zaun der Hesseschen Verfallskritik.

Indes: Diese Abzäunung ist weit weniger undurchlässig, als sie scheinen möchte. Hesse selbst hat sie ironisch unterminiert und relativiert. Geist und Feuilleton sind keineswegs so streng geschieden, wie der Roman eingangs behauptet und glauben machen will. Mehr noch: Indem das Glasperlenspiel als "Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unsrer Kultur" definiert wird, kann es seine Herkunft aus dem "Feuilletonistischen Zeitalter" gar nicht verleugnen. Und während Hesse vorne den Geist ostentativ gegen das Feuilleton ausspielt (oder in Schutz nimmt), kriecht ihm die Ironie hinterrücks unterm Zaun durch und verwischt ihm die schönste Grenzziehung. Gemeinsam spotten sie der Abzäunung - der ernste Geist des Spiels und der alberne Ungeist der Spielerei.

2. Noch tiriliert sie, die Spaßkultur

Und heute? Heute wackeln alle Denk-Zäune zwischen Spiel und Ernst, zwischen Arbeit und Spiel, zwischen Spiel und Spaß. Sie wackeln nicht erst seit heute, sie wackeln seit längerem. Sie stehen auch nicht mehr unter Strom. Kein Schlag auf die Tatze für den, der sich an den Abzäunungen vergreift, die nichts mehr abzäunen.

Spielräume und Ernsträume tun so, als wären sie ein und dasselbe. Sie verlieren ihre einst klare Umgrenzung und gehen tendenziell ineinander über. Die alte Abgrenzung des Spiels als Nicht-Ernst und Nicht-Arbeit, sie gilt nicht mehr. Wie sollte sie auch - wo doch in den postindustriellen Gesellschaften einerseits Kindheit und Jugend immer weiter in die Erwachsenenwelt hineinspielen und andererseits Computerspiel und Computerarbeit sich nicht mehr prinzipiell unterscheiden lassen. Im Umgang mit dem Computer verschwimmen das Spielerische und das Ernsthafte bis zur Ununterscheidbarkeit, im Umgang mit der Jugend wird die Erwachsenenwelt selbst ganz und gar verspielt - im doppelten Sinne des Wortes.

Mit einemmal ist alles nur noch Spiel. Und wo alles Spiel ist, gibt der Begriff nichts mehr her für Distinktion und Differenz. So inflationär wird der Begriff gebraucht, zwischen Kinderspiel und Fernseh-Quiz, Gameboy und Börsenspiel, Flippern und Sprachspiel, Theaterspielen und Internet-Surfen, daß die ganze Gesellschaft mit ihren neuen Techniken und Medien sich begreifen läßt als ein einziges verkettetes Muster von Spielen.

Schon der Kulturhistoriker Johan Huizinga, der den "Homo ludens" einst klassisch auf den Begriff gebracht und den Ursprung aller Kultur im Spiel entdeckt hat, beklagte den zunehmenden Puerilismus der Gesellschaft. Und die allgemeine Spielwut bereitet auch den Kulturtheoretikern Kopfweh. Wie soll die Spielforschung die neuen Spielformen bewerten - als Zeichen der Selbstinfantilisierung der Gesellschaft? Als arretierten Juvenilismus? Als Verfallserscheinung und Erosion der eigentlichen Spielkultur? Oder als Beweis für die adaptive Fähigkeit der Spielwelt, die alle neuen Techniken, Materialien und Medien ergreift und sich einverleibt?

Wo alles Spiel ist, ist Dauerspaß angesagt. Und unterm Spaßdiktat hört sich der Spaß bekanntlich auf. "Viel Spaß!" versprechen Jungintendanten programmatisch, wenn sie ein Theater übernehmen (das Publikum muß das Allotria dann allabendlich aussitzen, in Bochum oder sonstwo). Die Spaßkultur, die uns in den achtziger Jahren fit gemacht hat für nichts als Fun, tiriliert immer noch mit falscher Munterkeit vor sich hin. (Daß sie aus dem letzten Loch pfeift, hat sie entweder noch nicht bemerkt oder will's nicht wahrhaben.)

Die neunziger Jahre haben die Erlebnisgesellschaft, die schon bisher unser Alltagsleben ästhetisiert und durchgestylt und den Individualismus zum Fetisch gemacht hat, noch weiter raffiniert und verfeinert. Inzwischen, so ist zu lesen, plagen sich die Konsumforschung und die Fernreisebranche damit ab, eine Gesellschaft von lauter kapriziösen Genießern, die kaum mehr zufriedenzustellen sind, auf ihr Konsumverhalten zu durchleuchten. Jeder Markenartikler weiß, daß er es mit der Schreckensfigur des "individualisierten multioptionalen Konsumenten" zu tun hat, der nicht nur "haben" will (das sowieso), sondern vor allem "sein und erleben". Jeder Reisemakler sieht sich konfrontiert mit mäkeligen Weltreise-Routiniers, für die er nun den Träume-Broker, gar den Sinnlieferanten spielen soll.

Genug. Spiel und Spaß, Erleben und Genießen waren die Zentralbegriffe jeder Kultursoziologie der achtziger Jahre. Dafür, daß sich die kollektive Stimmung vor der Jahrtausendwende inzwischen geändert haben könnte, gibt es Indizien.

3. Die Reise ans Ende der Spiele

Zum Beispiel Bücher. Auch heute sind Morgenlandfahrten a la Hermann Hesse noch nicht ganz aus der Mode gekommen. Auch heute sind sie eher sehnsüchtige Gedankenreisen, spirituelle Wallfahrten im Hesseschen Sinne, Forschungsmissionen in die eigene Seele denn herkömmliche Orient-Expeditionen. Gewiß: Das sind sie auch - Wüstenfahrten, Aufbrüche in eine fabelhafte orientalische Terra incognita, erotische Traum-Arabesken, Reisen in die Arabia Felix, den fiktiven Wunsch-Orient schwuler Europäer. Vor allem aber könnte man solch eine heutige Morgenlandfahrt deuten als Reise ans Ende der Spiele - dorthin, wo sich der Spaß aufhört. Allenthalben kehren sie zurück, unsere Morgenlandfahrer, ob sie nun W. G. Sebald heißen, Christoph Ransmayr oder Raoul Schrott, müde und mürbe gespielt unter dem Zeichen des Saturn, und künden vom Ende der Spiel-Zeit.

Keiner deutlicher als der neueste Träger des Bremer Literaturpreises, der Berliner Spiele-Forscher, Ethnologe und Kulturanthropologe Michael Roes. Dessen jemenitischer Reisebericht "Leeres Viertel - Rub'Al-Khali" spaltet in diesem Herbst die Kritik. Die Urteile schwanken zwischen vorsichtigem Lob für einen "monumentalen Abenteuerroman", der "Wissen und Poesie versöhnt", und grimmigem Verriß für ein "Desaster", einen "Schmarren" ohne Sprache, aber voll der "Banalitäten und Platitüden".

Aber darum geht es gar nicht. Man kann das Reisejournal des Michael Roes zur wüsten Mitte Arabiens nämlich auch lesen als schwermütigen Abgesang auf die Welt als Traum und Spiel. "Invention über das Spiel" nennt sich's im Untertitel, und sein Held ist ein Berliner Kulturanthropologe (die Ähnlichkeit mit dem Autor Michael Roes ist nicht allzuweit hergeholt), der zur Feldforschung in den Jemen reist, um die Araberjungen in den Beduinenstädten rund ums Leere Viertel, die große Sandwüste Rub'Al-Khali, nach ihren Spielen zu befragen.

Immer verlorener und fremder fühlt sich der namenlose Ich-Erzähler, immer beunruhigender droht er sich selbst abhanden zu kommen. Dennoch füllt er sein Notizbuch gewissenhaft mit den Namen und Reglements jemenitischer Knabenspiele. Für den Leser aber erstehen aus diesen fragmentarischen Anmerkungen und Bruchstücken von spieltheoretischen Reflexionen allmählich die Umrisse einer großen Sinnkrise. Die Melancholie einer wüsten Sinnleere senkt sich saturnisch über das Leere Viertel. Aus dem Spiel ist jeglicher Spaß entwichen, einfach weggedorrt. Brueghels unfrohe "Kinderspiele" sind nicht gespenstischer. Wenn laut Richard Rorty das Spiel "eine metaphorische Beschreibung menschlichen Zusammenlebens" ist, dann könnte Michael Roes' Spiele-Forscher seinen Zustand am Rande der Rub'Al-Khali als Metapher für dessen Zusammenbruch lesen.

Spiele helfen leben, gewiß. Spiele sind notwendig. Im Spiel bringt die Gemeinschaft ihre Deutung der Welt zum Ausdruck, sagt Huizinga: dort, wo der Spieler in der Freiwilligkeit, Offenheit und Spannung des Spiels seine feinsten und humansten Möglichkeiten entfaltet, entsteht die Kultur. Das Spiel ist ein Mittel zur Genese des Selbst, sagt Margaret Mead . Das Spiel ist eine Ausdrucksform des Unbewußten, sagt Freud . Das Spiel ist Anpassung der Wirklichkeit an das Ich, sagt Piaget . Aber: daß man sich müde und unlustig spielen kann, wissen sie alle.

Ihre Spiele "waren nicht bloß holde sinnlose Kinderei, sondern entsprachen einem tiefen Bedürfnis, die Augen zu schließen und sich vor ungelösten Problemen und angstvollen Untergangsahnungen in eine möglichst harmlose Scheinwelt zu flüchten", erzählt Hermann Hesse im Tonfall des Niedergangs- und Dekadenz-Kritikers von den Menschen des "Feuilletonistischen Zeitalters": "Sie lernten mit Ausdauer das Spielen schwieriger Spiele - denn sie standen dem Tode, der Angst, dem Schmerz, dem Hunger beinahe schutzlos gegenüber, von den Kirchen nicht mehr tröstbar, vom Geist unberaten. Sie lebten zuckend dahin und glaubten an kein Morgen." Man muß nicht kritische Verfallstexte aus der Vergangenheit zitieren, um der spielmüden und spaßerschöpften Zeitstimmung der Gegenwart auf die Spur zu kommen und Anzeichen für die Suche nach einer neuen, einer anderen Erdung zu entdecken. In Lust und Spiel der ästhetischen Erfahrung scheinen alle Freiheiten jenseits von Gut und Böse ausgereizt: Jetzt kann die Frage nach dem Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen vielleicht neu gestellt werden. Erst kürzlich hat Christoph Menke die These vertreten, daß paradoxerweise gerade die ästhetische Freiheit von aller Verantwortung eine Haltung ermöglicht, die ethisch positive Konsequenzen hat. Oder haben könnte. Damit kündigt sich auch in der ästhetischen Debatte an, was sich in der sozialwissenschaftlichen längst vollzieht: Die Spaß-Generation hat sich ausgewitzelt.

(C) DIE ZEIT Ausgabe Nr.49 vom 29. November 1996

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