SCHWULES
MUSEUM
  Geschichte
home
Wir über uns
Standort
Ausstellungen
Archiv
Bibliothek
Service
Veranstaltungen
Publikationen
Mitarbeit/
Forschung
Mitgliedschaft/
Spenden
Links
Gästebuch
Manfred Herzer

Schwule Preußen, warme Berliner

(Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 20.10.1987 in der Stadtbücherei Schöneberg, am 18.10.1987 im Arbeitskreis "Schwule in der Kirche" in Ostberlin und am 26.11.1987 in der "Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft" in Kreuzberg gehalten wurde)

Im Jahre 1904 erschien in dem Berliner Verlag von Hermann Seemann Nachfolger ein kleines Buch von 77 Seiten Umfang, das den Titel trug: "Berlins drittes Geschlecht". Zum ersten Mal überhaupt wurden darin das soziale Leben, die vielfältigen Formen der Geselligkeiten und Lebensgemeinschaften der mit diesem seltsamen Namen belegten Bevölkerungsgruppe einer Großstadt beschrieben.

Der Autor jenes Werkes gehörte selbst zu dem von ihm so genannten dritten Geschlecht, es war der Arzt Magnus Hirschfeld, der damals noch nicht in Berlin, sondern in Charlottenburg, in der Berliner Straße 104, heute Otto-Suhr-Allee 93 praktizierte und dort zugleich einer Organisation vorstand, die er einige Jahre zuvor dortselbst gegründet hatte, einer Organisation, die unter dem unverfänglichen Namen "Wissenschaftlich-humanitäres Komitee" eine Bewegung und einen Befreiungskampf gegen die Verfolgung der Homosexuellen führen wollte.

Die Bezeichnung "drittes Geschlecht" für diese homosexuellen Berlinerinnen und Berliner hatte Hirschfeld nicht selbst erfunden. Er konnte sie den Schriften Platos und französischen Romanen des 19. Jahrhunderts (Balzac und Gautier) entnehmen. Für seine populären Aufklärungszwecke schien ihm diese Benennung besonders geeignet, weil sie als einzige einigermaßen bekannte fast keine verächtliche und herabsetzende Nebenbedeutung besaß.

Ein Buch über Berlins drittes Geschlecht und eine organisierte Bewegung zur Befreiung dieses dritten Geschlechts von Verfolgung durch Strafrecht und Polizei, öffentliche Meinung und gewöhnliche Erpresser - das gab es in keiner andern Stadt zu jener Zeit, weder in Deutschland noch in einem andern Land. Natürlich gab und gibt es in allen großen Städten der Welt mehr oder weniger verborgene und dennoch öffentliche Orte, an denen nach unausgesprochenen und dennoch gewussten Regeln die gleichgeschlechtliche Sexualität stattfindet; und anscheinend ist die Größe der Stadt von Einfluss auf Ausmaß, Sichtbarkeit und spezialistische Vielfalt jener Orte. Betrachtet man aber das homosexuelle Leben Berlins, nicht bloß als Augenblicksbild, wie es sich etwa gegenwärtig darstellt, sondern in seinem Wandel während der vergangenen zweihundert Jahre, dann gewinnt man den Eindruck einer spezifischen Eigenart der Homosexualität in Berlin im Unterschied zu andern großen Städten.

Man hat den Veränderungsprozess, dem die männliche Homosexualität - von den Lesbierinnen soll hier nicht die Rede sein - in den europäischen und nordamerikanischen Industrieländern ausgesetzt war, als einen Vorgang der Enttabuisierung, der moralisch-ethischen Umbewertung und der damit zunehmenden Selbstartikulation der Schwulen beschrieben. Ich möchte behaupten, dass Berlin in diesem für die westliche Zivilisation charakteristischen Prozess, der im 18. Jahrhundert einsetzte und heute noch andauert, wenigstens in einigen Phasen so etwas wie ein avantgardistischer Faktor gewesen ist; wesentliche Aspekte dieser Entwicklung waren etwa: die Entdeckung des Themas durch die Gerichts- und Irrenärzte im 19. Jahrhundert, die Uminterpretation der Homosexualität von Sünde und Verbrechen in Krankheit, die Selbstorganisation von Homosexuellen zu einer Bewegung und, seit Beginn unseres Jahrhunderts, die Nutzung der Massenmedien - der Presse und des Films - für die Kommunikation der Schwulen untereinander und für die Propagierung der Emanzipationsziele; all dies nahm mehr oder weniger eindeutig von Berlin seinen Ausgang.

Um diese Behauptung plausibel zu machen, müsste man die Entwicklung des homosexuellen Lebens der großen europäischen Städte in Parallele zur berlinischen Geschichte darstellen, um so im Kontrast den Sonderfall Berlin zu verdeutlichen. Das kann aber hier allein schon deshalb nicht geleistet werden, weil die einschlägigen Forschungen kaum erst begonnen haben (1). Soweit ich sehe, behinderte das Tabu der Homosexualität die diesbezügliche Geschichtsforschung in andern Städten mindestens ebenso stark wie in Berlin. Ich will stattdessen aus der ohnehin nur bruchstückhaft bekannten schwulen Stadtgeschichte hier einige Aspekte, Ereignisse und Personen skizzieren und dabei etwas von dem Gewicht spürbar werden lassen, das diesem gemiedenen Kapitel aus der Geschichte Berlins tatsächlich zukommt.

Die frühesten Nachrichten über schwule Männer in Berlin verdanken wir der Tatsache, dass der Staat seit dem Mittelalter die homosexuellen Handlungen seiner Untertanen als Verbrechen verfolgte und mit dem Tode bestrafte. Das Preußische Landrecht, das seit dem 16. Jahrhundert in Berlin galt, bestimmte für Sex mit Personen gleichen Geschlechts wie auch für Sex mit Tieren im Artikel 116, dass man die Ertappten "der Gewohnheit nach mit dem Feuer vom Leben zu dem Tode richten" solle. Aus den fragmentarisch im Preußischen Geheimen Staatsarchiv erhaltenen Akten der Berliner Stadtgerichte hat der Berliner Sexualwissenschaftler Hans Haustein jene Fälle publiziert, die die damals sogenannte Sodomie betreffen (2). Demnach verurteilte das Berliner Stadtgericht am 11. Juni 1704 zwei Männer, Martin Schultze und Ludwig Le Gros, "zum Tode durch das Schwert mit nachfolgender Verbrennung", nachdem sie gestanden hatten, "miteinander Unzucht getrieben zu haben". Vier Tage später, am 15. Juni vollstreckte man das Urteil, tötete die beiden Männer und verbrannte ihre Leichen. Immerhin scheinen die Tötungen wegen Homosexualität in dem untersuchten Zeitraum, erstes Drittel des 18. Jahrhunderts, nicht allzu häufig gewesen zu sein, viel häufiger kam es zu Todesurteilen wegen Sex mit Tieren. Haustein berichtet auch von mehreren Freisprüchen wegen fehlender Beweise und nur von einer einzigen weiteren Verurteilung mehr als zwanzig Jahre später, im Jahre 1729: Der 30jährige Ephraim Ostermann wird am 31. Januar 1729 zum Tode durch das Schwert und folgendes Verbrennen verurteilt, nachdem er gestanden hat, dem Lehrburschen Martin Köhler zweimal das Glied mit dem Munde steif gemacht und den Samen geschluckt zu haben, "denn dies sei seine Ergötzlichkeit gewesen, wenn er eines anderen Samen geschluckt, sei ihm zugleich der seine weggegangen. Ostermann gibt weiter zu, mit etwa 20 Mannspersonen, wenn sie schliefen, das gleiche Delikt begangen zu haben".

Über die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer während der Herrschaft Friedrich des Großen wissen wir heute nichts. Zwar schaffte er 1746 die Todesstrafe für Sex mit Tieren ab (3), doch blieb sie für Sex zwischen Männern oder Frauen bis 1794 bestehen. Dann wurde sie von Friedrichs Nachfolger abgeschafft und durch Zuchthausstrafe von mindestens einem und höchstens acht Jahren sowie Prügelstrafe ersetzt. Erst 1851 milderte man die Strafe für schwulen Sex noch weiter ab und ließ die lesbische Liebe völlig straffrei.

Die Zeit der Herrschaft Friedrich des Großen ist aber in anderer Hinsicht bemerkenswert. Seit dem Jahr 1753 erschienen mehrere anonyme Schriften in französischer Sprache, in denen angedeutet oder direkt behauptet wurde, dass der König selbst und auch sein Bruder, der Prinz Heinrich, der Liebe zu schönen Jünglingen obliegen und keine Neigung zur Frauenliebe haben sollen. Über den Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen können wir heute mit letzter Sicherheit nichts sagen (4). Offensichtlich vollzog sich zu jener Zeit in Berlin ein Wandel der Einstellung zur Sodomiterey, Päderastie oder griechischen Liebe - so lauteten die damals üblichen Bezeichnungen. Der König selbst veröffentlichte unter anderm zwei selbstverfasste Spottgedichte auf die Jesuiten, in denen er sich über die von ihnen vermeintlich ausgeübte Päderastie lustig macht und sogar Jesus und Johannes als päderastisches Liebespaar bezeichnet (5).

Ähnliche Töne finden sich bei dem Arzt und Philosophen Julien de La Mettrie, der wegen seiner atheistischen Ansichten sowohl aus Frankreich wie später aus Holland ausgewiesen wurde und seine letzten Lebensjahre am Hof in Potsdam verbrachte. Hier schrieb er seine Abhandlung Anti-Sénèque, das höchste Gut oder Philosophische Gedanken über die Glückseligkeit. Er behauptet darin die völlige Relativität aller Sittenmaßstäbe und verweist auf Aristoteles, der sogar Päderastie befürwortet habe. Schließlich erklärt er die Päderastie zu einer Frage des "persönlichen Geschmacks". Wie die Liebe überhaupt sei auch die Päderastie nur dazu da, den Menschen Freude zu bereiten (6). Das Buch wurde allerdings bald nach Erscheinen in Preußen verboten.

Nicht verboten wurde hingegen ein anderes Buch, das 1782 erstmals anonym erschien und zu unserem Thema zwar den sozusagen offiziellen verurteilenden Standpunkt einnimmt, andrerseits aber in ganz neuer Weise das Schweigen bricht und mit bis dahin nicht gekannter Breite und Ausführlichkeit das homosexuelle Leben Berlins beschreibt, so dass wir für jene Zeit der letzten Regierungsjahre Friedrichs Nachrichten über das Vorhandensein einer regelrechten und ausgedehnten schwulen Subkultur besitzen.

Diese "Briefe über die Galanterien von Berlin", von dem österreichischen Schriftsteller Johann Friedel verfasst, führen uns Verhältnisse und ein subkulturelles Milieu vor Augen, wie dies sonst im 18. Jahrhundert nur aus bedeutend größeren Städten wie London oder Paris bekannt ist, und es gibt keinen Anlass, die Wahrheitstreue der Friedelschen Schilderungen in Zweifel zu ziehen:

"Herr W. (...) bath mich in die Gesellschaft einiger guter Freunde. Ich erschien mit ihm, und wir waren alle recht sehr vergnügt. Die Gesellschaft bestand aus neun Männern und zwo Damen (...) Ich bemerkte von Zeit zu Zeit, daß sich die Männerchen mit der wärmsten Zärtlichkeit halseten, küßten, die Hände drückten und einander Süßigkeiten vorschwatzten, als immer ein Sutzer der Dame hätte sagen können. Ich hielt all diese Auftritte für bloßen freundschaftlichen Ton, für wahre männliche Simpathie der Seelenstimmung. Und von der Seite betrachtet, bewunderte ich die kleine Zahl Herzinniger Freunde. Aber wie erstaunte ich nicht, da ich hinter diese freundschaftlichen Misterien kam! Ich machte schon einige Glossen darüber, daß sich die Männer einander so schön thaten, und die Damen so ganz nur en Bagatelle ansahen.

Ich konnte die Verwunderung nicht bergen. Ich gestand sie Herrn W.

'O, darüber dürfen Sie sich nicht wundern. Diese sieben Herren sind Warme.'

Warme? Was soll das?

'Wissen Sie nichts davon, und sind schon vier Monathe in Berlin; das nimmt mich Wunder! Ich muß Ihnen schon eine kleine Beschreibung davon machen. Sie haben doch wohl von der sokratischen Liebe je was gelesen? Nun, sehen Sie, das sind lauter sokratische Liebhaber.'

Das ist ja recht schön.

'Wenn sie bei der Seelenliebe stehen blieben. Aber so mischt sich die ganze körperliche Liebe ins Spiel.'

Ohnmöglich!

'Wirklich! Doch lassen Sie sich nichts merken. Sie werden bald Augenzeuge davon seyn.'

Ich ward es! J. Freund, die Natur sträubt sich, so widersinnige Triebe zu kennen. Was man immer den Perser, den Muselmann, und den Italäner in der Knabenliebe beschuldigen kann, finden Sie an diesen Ausschweifungen ganz. Nun, diese Herren, die sich mit der Päderastie amüsiren, werden Warme genennt. Könnten Sie wohl denken, daß in einem mehr als gemäßigten Himmelsstriche man auf so widernatürliche Ausschweifungen fallen würde?" (7)

Nach einigen Erörterungen über die sokratische Liebe in der griechischen und römischen Antike fährt Friedel fort:

"Und, Freund, diese Schweinereyen sind hier Galanterien, über die man in Gesellschaften wie über Mädchenliebe scherzet; die so ganz ohne Scheu ausgeübet werden, und über die man nicht einmal erröthet! Fast kein junger wohlgebilderter Knabe ist vor diesen Herren sicher. So bald sie ihn wittern, laufen sie wie Hirsche in der Brunst nach. Pfuy! über diese unflätigen Böcke! Groß und Klein, Jung und Alt, Vornehm und Gering - alles befängt sich mit diesem Possenspiele (...) Ich spaße nicht, Freund! Die Großen stecken im eigentlichen Verstande so gut mit unter der Decke wie die Geringen, welche sich in diese Absurdität lediglich darum verliebten, um die vornehme Mode mitzumachen (...) Sie finden hier Häuser, die unter dem ehrsamen Titel einer Knabentabagie existiren, worinn sich Pürschchen von vierzehn, funfzehn, und mehrern Jahren zu diesem Zeitvertreibe einfinden; und sich nach Gelegenheit mit Mädchen entweder, oder mit warmen Brüdern unterhalten. Sie finden Kuppler und Kupplerinnen, die auf den Straßen herumwandern, und Kinder, auch wohl erwachsene Jünglinge aufsuchen, sie in dergleichen Häuser locken, und davon ihren Gewinn ziehen." (8)

Es folgt noch die Beschreibung einer solchen Knabentabagie und ein Räsonnement über die möglichen Gründe für diese unbegreiflichen Verhältnisse:

"Ich sagte Ihnen auch schon, daß es hier solche Häuser gäbe, wo die Bübchen sich, wie die Mädchen in den öffentlichen Häusern darstellen (...) Ich gestehe es, ich war neugierig genug, mich durch Herrn W. in eine derselben führen zu lassen. O, Freund, wie bebt der rechtschaffende Mann vor dem Anblicke solcher Unfläthereyen nicht zurück! Eine Versammlung von zehn bis zwölf Knaben von verschiedenem Alter, Männer von verschiedenen Karakteren an ihrer Seite; auf jedem Gesicht Faunenwollust; - und so weiter. Weder Süßigkeiiten, weder Unkosten wurden gesparet, das Bübchen zu gewinnen. Da trank ein vierschrötiger Bachant seinem Ganymed aus vollen Weinbechern zu; dort schmiegte sich ein zweyter zu dem seinigen mit dem wärmsten Gefühle von Entzücken; hier tändelte wieder im Gegentheile ein loser Bube um den Bauchgürtel seines Zeus, und dort verschwand der Sieger mit seinem thrazischen Raube. Kurz, Freund, es übersteigt alle Erwartung, der man sich von der wilden Brunst dieser Versammlung machet. Zum Dekmantel erscheinen von Zeit zu Zeit ein paar abgelebte Mamselchen. Findet es sich, daß von ohngefähr ein Gast, der nicht nach Knaben spühret, sich bis zu ihnen verirret, so sind sie die Grazien, die den Vorhof des Jupiters zu unterhalten suchen, indeß dieser graubärtige Donnergott sein Müthchen nach seinem Geschmacke hinter der Gardine kühlet (...) Bestürzt über die Wildheit der menschlichen Leidenschaft, und betäubt von den ekelhaften Eindrücken, die der Anblick derselben auf mich wirkte, kam ich nach Hause (...) Seit diesem Tage machte ich fast täglich neue Entdeckungen. Man versicherte mich, daß diese Ausschweifung erst seit den Zeiten Voltairs hier Mode wurde. Also hat der Mann seinen Witz und sein böses Herz in jeder Gesellschaft glänzen lassen, in die er kam? Durch den Zusammenfluß der Fremden von allen Nationen wäre dieses Laster noch allgemeiner geworden. Der Italiener habe auch in den kälteren Zonen Berlins seinen Geschmack nicht ablegen können, und dies um so mehr, da er hier gegen Italien gerechnet, ungleich mehrern Reitz an den hiesigen Ganymeden fand. Diese Lüsternheit, die anfangs nur aus Neugierde nachgeäfft ward, erhielt bald die allgemeine Herrschaft. Man fing an, in einem Unsinne, den man sonst verabscheut hatte, eine Art von Delicatesse oder Preziosität zu finden (...) Der erste Eifer ging so weit, daß sich die jungen Pürschgen , die sich der Päderastie bestimmten, durch sichtbare Kennzeichen im Anzuge von den übrigen unterschieden. So war lange Zeit ein Jüngling mit einem starken Haarzopf, stark bepuderten Rücken, und einer dicken Halsbinde - ein Zeichen, daß er in die Gesellschaft der Warmen gehöre. Die Mitkonsorten wurden aber, da man an den dicken Zöpfen und stark bepuderten Rücken und dergleichen als einer neuen Mode bald Wohlgefallen fand, und nachahmte, sehr oft in ihrer Erwartung hintergangen." (9)

Diese recht entwickelte Subkultur im Berlin des Rokoko relativiert doch einigermaßen die Bedeutung der Stadtgröße als einer Randbedingung für die Entfaltung schwulen Lebens. Paris hatte am Ende des 18. Jahrhunderts etwa dreimal so viel, London fünfmal so viel Einwohner wie Berlin, auch Wien war wesentlich größer. Offensichtlich spielen hier noch andere Faktoren eine Rolle bei der Entstehung eines sozialpsychologischen Klimas, das gesellschaftliche Gebilde hervorbringt, in denen auf der Grundlage der gleichgeschlechtlichen Sexualität Verkehrsformen und Verhaltensstile entstehen, die zwar von der umgebenden städtischen Kultur beeinflusst, dennoch davon wohlunterschieden sind, private Geselligkeiten, "Knabentabagien", Straßenprostitution und Erkennungszeichen der Kleidung und Haartracht. Eines kam bald noch hinzu: die allmählich öffentlich werdende Selbstreflexion der Warmen über ihr So-Sein und ihr Verhältnis zum Anderssein der Andern. 1791 finden wir in dem Berliner "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde", einer Art früher Fachzeitschrift für Psychologie, das Karl Philip Moritz, ein Professor für Altertumskunde an der Berliner Kunstakademie, herausgab, zwei anonyme Texte, in denen zwei Männer, die sich in einen andern Mann verliebt hatten, ihre Gefühlserfahrungen beschreiben. Obwohl hier noch nicht von grobsinnlichen Erlebnissen, sondern nur von einer unglücklichen Liebe die Rede ist, liegen damit die ersten schwulen Selbsterfahrungsberichte vor, die den Beginn der Herausbildung entsprechender Sozialcharaktere markieren (10).

Ich zitiere aus einem einschlägigen Liebesbrief, in Berlin am 7. Januar 1805 geschrieben:

"Du übst, Du guter, lieber Junge, mit Deiner Beredsamkeit eine wunderliche Gewalt über mein Herz aus, und ob ich Dir gleich die ganze Einsicht in meinen Zustand selber gegeben habe, so rückst Du mir doch zuweilen mein Bild so nahe vor die Seele, daß ich darüber, wie vor der neuesten Erscheinung von der Welt zusammenfahre (...) Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei Dir schlafen können, Du lieber Junge; so umarmte Dich meine ganze Seele! Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet. Er könnte wirklich einem Künstler zur Studie dienen (...) Man wird mich gewiß, und bald, und mit einem Gehalt anstellen, geh mit mir nach Anspach, und laß uns der süßen Freundschaft genießen. Laß mich mit allen diesen Kämpfen etwas erworben haben, das mir das leben wenigstens erträglich macht. Du hast in Leipzig mit mir geteilt, oder hast es doch gewollt, welches gleichviel ist; nimm von mir ein Gleiches an! Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder, und die Enkel! Geh nicht weiter auf dem Weg, den Du betreten hast. Wirf Dich dem Schicksal nicht unter die Füße, es ist ungroßmütig, und zertritt Dich. Laß es an einem Opfer genug sein. Erhalte Dir die Ruinen Deiner Seele, sie sollen uns ewig mit Lust an die romantische Zeit unsres Lebens erinnern (...) Nimm meinen Vorschlag an. Wenn Du dies nicht tust, so fühle ich, daß mich niemand auf der Welt liebt. Ich möchte Dir noch mehr sagen, aber es taugt nicht für das Briefformat" (11).

In diesem Brief, den Heinrich von Kleist an den späteren preußischen Kriegsminister Ernst von Pfuel schrieb, besitzen wir den einzigen deutlicheren Hinweis auf des Dichters sexuelle Orientierung. Ähnlich wie bei Friedrich dem Großen wissen wir im übrigen nur, dass die Frauenliebe für ihn nicht in Frage kam. Andererseits ist, ebenfalls ähnlich den Spottgedichten Friedrichs über vermeintlich schwule Jesuiten, eine öffentliche Verhöhnung des damals als schwul bekannten königlichen Theaterintendanten Iffland überliefert: unter Anspielung auf Ifflands Vorliebe bedankt sich Kleist ironisch dafür, dass dieser sein Stück "Das Käthchen von Heilbronn" nicht zur Aufführung angenommen hat und lässt dies in den Zeitungen veröffentlichen.

Die früheste bisher bekannte Selbstbeschreibung eines Berliner Schwulen im modernen Sinne, der also über seine eigene Lust am Sex mit Männern berichtet und reflektiert, wurde im Jahre 1863 gedruckt; der Gerichtsarzt und Professor an der Charité Johann Ludwig Casper veröffentlichte in seinen "Klinischen Novellen zur gerichtlichen Medizin" diesen anonymen Text, den man ihm zugeschickt hatte aufgrund seiner damals bahnbrechenden Arbeit über Päderastie, in der sich erstmals in Deutschland die Behauptung findet, dass Päderastie nicht strafwürdiges Verbrechen sondern angeborene Krankheit sei (12). In jenem anonymen Bericht artikuliert sich erstmals eine neue Art von Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung, die für die bald darauf folgende politische und auf Emanzipation gerichtete Bewegung und Organisation der Schwulen grundlegend wurde:

"(...) Als ein Schulknabe von acht Jahren sass ich neben einem etwas älteren Knaben, wie glücklich war ich, wenn er mich berührte, es war das erste unbestimmte Gefühl einer Neigung, die mir bis zu meinem neunzehnten Jahre ein Geheimnis war. Nie habe ich onanirt, nie mich in der Schule mit anderen Knaben befleckt; ich hatte Einzelne, zu denen ich eine unbezwingliche Neigung empfand, an die ich meine Verse richtete. Ich war fast achtzehn Jahre, als mich ein geliebter Freund, der meine Tugend verspottete, zu einem Frauenzimmer nahm. Ich empfand einen tiefen Ekel, denn ich war noch ganz unschuldig (und Sie würden das glauben, wenn Sie heute, nach fast zwölf Jahren des Genusses, meinen ausgezeichneten Körper, den Ausdruck von tugendhaftem Lebenswandel, wie mir Jeder sagt und Jeder es glaubt, sähen), dennoch schämte ich mich so sehr vor meinem Bekannten, daß ich das Mädchen wiederholentlich besuchte. - Nie aber empfand ich einen Genuß wie meine Freunde ihn hatten, ich mußte an sie denken, um mich zu befriedigen. - So trieb ich es länger als ein Jahrr; ich zwang mich zu den Mädchen und wurde von ihnen förmlich verfolgt; immer unglücklicher wurde mein Zustand. - Meine Jugendfrische verschwand, ich konnte die Abneigung, die ich gegen den Genuß bei Frauen empfand, nicht mehr überwinden und mied sie über ein halbes Jahr, immer aufgeregt, wenn ich einen hübschen Mann sah, wie seit meinem achten Jahre. - Es war ein qualvoller Zustand; ich war so unglücklich, weil ich mich für das einzige so seltsame Wesen hielt; mehr wie einmal lag die Pistole vor mir; nur meine religiöse Erziehung rettete mich vor einem Verbrechen.

Sie mögen jetzt lachen, dennoch spreche ich die reine Wahrheit: in meinem Trübsinn warf ich mich oft vor Gott in den Staub - lassen wir es auch den Teufel gewesen sein: aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut, daß ich meinte, sie im Zimmer zu hören: 'Gehe nach den Linden!' - Selten oder nie hatte ich die innere Promenade betreten; es war vor achtundvierzig und die Beleuchtung wohl nicht so glänzend wie heute. Ich ging unbewußt und hatte die Worte längst vergessen. - Nach einiger Zeit gesellte sich ein Herr zu mir; er sprach mir liebenswürdig und wir gewannen den Thiergarten. Ich empfand ein wunderbar seliges Gefühl als er mich an sich zog, mich leidenschaftlich küßte und endlich mich angriff und durch Onanie meine Natur befriedigte. - Jetzt aber bemächtigte sich meiner eine wahre Verzweiflung, ich weinte vor Schaam, als sich der Fremde verwundert zu mir wandte: 'Was gebehrden Sie sich so? das thun ja Hunderte'. Nie in meinem Leben habe ich je wieder, Gott vergebe mir! ein so seliges Wort gehört, es war mir, als erwachte ich zu neuem Leben und ich wurde neu geboren! Der Fremde theilte mir Vieles mit, wovon ich einiges nachfolgen lasse aus eigener Erfahrung (...) ich betrat nach acht Tagen die Promenade der Linden wieder und schloß eine Bekanntschaft, die auf mich den größten Einfluß hatte; es war eine jugendlich schöne Persönlichkeit der höchsten Gesellschaft, jetzt seit Jahren todt und glücklich! Wir liebten uns bald zärtlich, auf diese Weise lernte ich nach und nach mehrere Leidensgenossen kennen. - Ich ging nach England, nachher begrub ich meine Liebe. - Später verweilte ich öfter in Paris, in Italien, Wien, überall fand ich uns Arme!

Und man wähnt uns alt, häßlich, abgelebt, der Ausschweifung müde. Nie habe ich mich der Umarmung eines alten Mannes hingegeben; wir haben unsere Neigungen so gut wie die Frauen; ich könnte dreißig solcher Männer nennen, die als Schönheiten ersten Ranges gelten würden, tugendhaft, wohlthätig und liebenswürdig sind. Sie müssen jedoch nicht wähnen, diese Neigung sei allzuverbreitet. O nein! Die gütige Natur hat uns einen gewissen Instinct verliehen, der uns, gleich einer Brüderschaft, vereint; wir finden uns gleich, es ist kaum ein Blick des Auges, wie ein electrischer Schlag, und hat mich bei einiger Vorsicht noch nie getäuscht. Ich kenne hier in Berlin Wenige, par Renommé Einige. - Auf zehntausend Seelen mag wohl nur eine solche arme höchstens kommen; natürlich drängen sich in Paris und Neapel dergl. Personen mehr zusammen. Sie müssen auch nicht glauben, wir trieben Päderastie. Nie habe ich das gethan und verabscheue mit Vielen, den Meisten diese Neigung. Wir befriedigen uns durch Küssen und gegenseitiges Anfassen der Schaam. Oft ist der Reiz so groß und ich habe dies oft bei mir aus Erfahrung gefunden, daß die Saamenergießung durch die reine Umarmung erfolgt. - Allerdings leugne ich die Päderastie bei einigen ausgearteten häßlichen Menschen nicht, diese kaufen auch manchmal den Genuß von Leuten, die sich dazu hergeben, und kommen zu Ueberreizungen, wie so viele bei den Frauen dazu kommen. Wir aber lieben uns, wechseln wohl unter einander und ab und zu ist auch ein Alberner, der da sagt: man verbrannte sonst auch Hexen, auch unsere Zeit wird kommen. Nein, sie wird und kann nicht kommen, aber Sie, Herr Geheimer Rath, üben Sie Mitleid mit so armen Wesen, wenn ein Vorurtheil sie zu Ihnen bringt; sei es ein Irrthum der natur oder ein Becher schwer zu prüfenden Geheimnisses; glauben Sie: wir können nicht dafür, können nicht gegen die Natur, ich habe Alles das, die tiefsten Kämpfe von mehr denn hundert jungen Leuten erlebt (...) Glauben Sie, wir sind im Allgemeinen bessere, begabtere Naturen als die Andern; wie Mancher ist mir in tiefer Melancholie schon weit in den Zwanzigern begegnet, den ich über seinen Zustand aufgeklärt; wurde er auch nicht viel glücklicher, so war er doch keine 'wilde Bestie' seinem Gewissen gegenüber, natürlich war ein Ehemann Gott gelobt! nie darunter. Wäre unsere Sünde so groß, wie konnte ein Plato, Julius Cäsar, Friedrich, Gustav der Dritte, so Viele sie ausgeübt haben; waren Winckelmann und Platen gemeine Naturen? Wir haben meistens schöne Augen und das Auge ist doch etwas der Spiegel der Seele! - Auf dem Righi, in Palermo, im Louvre, in Hochschottland, in Petersburg, ja, bei der Landung in Barcelona fand ich Leute, die ich nie gesehen, die in einer Secunde an mich gebannt waren, ich an sie, kann das Verbrechen sein? Wir waren selig, glücklich, dankten Gott, ich sehe sie vielleicht nie wieder, aber ich denke oft an sie, sie an mich so oft, nie werden wir uns vergessen. - Auch jetzt eile ich in einem solchen Verhältnis dem Süden zu; man liebt mich, ich habe seit meiner todten Liebe nie tief empfunden (denn auch wir haben tiefe, ja tragische Neigungen), in dem freien Italien denkt man etwas leichter; meine Familie quält mich mit glänzenden Heirathen; soll ich eine Frau unglücklich machen, könnten Schätze für mich Werth haben, ich könnte davon wie ein Crösus besitzen. - Herr Geheimer Rath! man sagt, Sie seien ein edler Mensch und glücklicher Vater. - Lehren Sie Ihren Kindern die Welt mit mildem Blick betrachten und Chateaubriands Worte kommen mir: 'Que penseriez-vous donc, si vous eussiez été témoin des meaux de la société, si, en abordant sur les rivages de l'Europe, votre oreille eût été frappée de ce long cri de douleur, qui s'élève de cette vieille terre.' (...)" (13).

Sich selbst in dieser Weise darzustellen war in der Mitte des 19. Jahrhunderts neu. Wenn auch der Autor anonym bleibt und durch die Flucht ins Ausland zusätzlich geschützt ist, setzt es doch einen bis dahin nicht gekannten Wagemut voraus, der wohl aus einem Entwicklungsprozess resultieren mag, den man vielleicht als Zivilisierung oder Modernisierung bezeichnen könnte und der es einzelnen Individuen überhaupt erst ermöglichte, sich selbst in ihrer Verschiedenheit von den als allgemeingültig und naturgegeben, wenn nicht göttlich geschaffenen Regeln und Normen wahrzunehmen und zu bejahen. Eine Art Selbstbewusstsein neuen Typs war entstanden.

Das entscheidende Ereignis in diesem Prozess war bekanntlich die Französische Revolution von 1789, die nicht nur den Anspruch auf Verwirklichung der politischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vertrat, sondern erstmals in der Geschichte der von christlichen Doktrinen geprägten europäischen Zivilisation die Bestrafung der gleichgeschlechtlichen Liebe von Staats wegen abschaffte. Preußen ist dem französischen Vorbild auch in diesem Punkt nicht gefolgt, nichtsdestoweniger war der ideologisch moralische Einfluss, der von dem revolutionären Frankreich ausging, beträchtlich und trug sicher zur Entfaltung des Emanzipationsgedankens bei, der sich in dem Selbstbekenntnis des Berliner Päderasten von 1863 erstmals artikulierte.

Ohne ein gewisses wachsendes Maß an Tolerierung durch die staatliche Ordnungsmacht ist ja auch die Gesellschaft der Warmen von 1783 gar nicht möglich gewesen, und 1846 stellte der Berliner Polizeikommissar Stieber in seinem Buch über die Prostitution in Berlin fest: "Namentlich die Päderastie ist ein Laster, welches, wenn es in seiner gegenwärtigen Entwicklung noch einige Zeit fortwährt, fast anfangen wird auf Duldung Anspruch zu machen (...) es gibt förmlich Gegenden der Stadt, welche die Sammelplätze derartiger Scheusale bilden, insbesondere sind das Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache und der Karpfenteich im Thiergarten in dieser Beziehung hervorzuheben" (14).

Polizeikommissar Stieber hatte recht, das Laster begann wie in Frankreich nur einige Jahrzehnte verspätet auch hierzulande auf Duldung Anspruch zu machen. Außer in der sozusagen naturwüchsigen Entfaltung einer schwulen Subkultur geschah dies in den Traktaten einiger Schriftsteller seit den 60er Jahren, so namentlich in den Schriften des Juristen Ulrichs aus Hannover, die in Preußen vorübergehend verboten waren, meist aber ungehindert verbreitet wurden und die die rechtliche und soziale Gleichstellung der Urninge - so nannte er die Päderasten in einer eigenen Wortneuschöpfung - verlangte (15).

Preußen führte wie gesagt 1851 eine Milderung des betreffenden Strafgesetzes ein, doch wurde die Frage Ende der 60er Jahre wieder aktuell, als für die Staaten des Norddeutschen Bundes ein neues einheitliches Strafrecht zu schaffen war. Nicht nur aus den preußischen Rheinprovinzen kam dabei die Forderung, nach französischem Vorbild die sogenannte widernatürliche Unzucht künftig straffrei zu lassen, auch die von der Regierung befragte "Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen", der unter anderen Rudolf Virchow angehörte, forderte Straffreiheit. Die komplizierten und nur schwer wägbaren Einflüsse, die dies schließlich verhinderten und zur Übernahme der nur wenig abgeschwächten preußischen Bestimmung in das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches als § 175 führte, sind heute kaum rekonstruierbar, einschlägige Forschungen liegen noch nicht vor. Jedenfalls scheinen die beibehaltene Kriminalisierung und in gewissem Gegensatz dazu die als preußische Tradition fortwirkende relative Liberalität im kulturellen Bereich die beiden unabdingbaren Randbedingungen gewesen zu sein, die am Ende des 19. Jahrhunderts dazu führten, dass Homosexuelle in Berlin - oder genauer: im Berliner Vorort Charlottenburg - eine Kampforganisation gründeten, die die Emanzipation von gesellschaftlicher Ächtung und rechtlicher Verfolgung anstrebte.

Was die rechtliche Verfolgung betrifft, so bestand etwa in England und in Österreich zur Jahrhundertwende eine mindestens genauso rigorose Kriminalisierung wie in Preußendeutschland, doch verhinderte kulturpolitische Repression, seien es die Zensurbestimmungen oder die polizeiliche Reglementierung von kultureller Selbstorganisation, dass sich in London oder in Wien die dortigen Schwulen organisieren konnten. Noch Jahrzehnte nach der erfolgten Gründung in Berlin, selbst nach dem ersten Weltkrieg scheiterten alle diesbezüglichen Versuche in London wie in Wien recht schnell an obrigkeitlicher Repression und Einschüchterung.

Ganz anders und in gewisser Weise einzigartig die Situation in Berlin: Am 15. Mai 1897 trafen sich drei schwule Männer, der Arzt Magnus Hirschfeld, der Verwaltungsbeamte Eduard Oberg, der Schriftsteller Franz Josef von Bülow, zusammen mit dem Leipziger Verlagskaufmann Max Spohr, der allem Anschein nach nicht schwul war, in Hirschfelds Charlottenburger Wohnung und gründeten das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Jeder von ihnen zahlte 100 Goldmark in einen gemeinsamen Fonds, der etwas wohlhabendere von Bülow zahlte 200 Goldmark, und dann begann man damit, Unterschriften unter eine Eingabe an den Reichstag zu sammeln, in der die Beseitigung des § 175 verlangt wurde.

Es war eine taktische Überlegung, die wohl einiges für sich hatte, dass möglichst respektable Männer, die nicht im Verdacht standen, selbst schwul zu sein, sondern aus Gerechtigkeitsgefühl und Humanität handelten, zur Unterstützung der Petition gewonnen werden sollten. Die vier Erstunterzeichner waren denn auch respektabel genug: der Dichter Ernst von Wildenbruch, den man durchaus als "literarisch-ideologischen Repräsentanten der Reaktion" im Wilhelminischen Reich bezeichnen kann; August Bebel, den Führer der größten politischen Partei, der SPD; außerdem zwei hochangesehene Professoren: der Jurist Franz von Liszt und der Psychiater Richard von Krafft-Ebing von den Universitäten Halle und Wien. Auf Anhieb gelang es mit diesen geschickt zusammengestellten Vertretern des politischen und des Geisteslebens einige hundert Unterstützer für die Petition zu gewinnen, die im Dezember des gleichen Jahres 1897 erstmals den Mitgliedern des Reichstags und des Bundesrates vorlag.

Um das Ergebnis dieser Bemühungen, die in den folgenden drei Jahrzehnten fast für jeden neugewählten Reichstag mit einer immer wachsenden Zahl von Unterschriften wiederholt wurde, vorwegzunehmen: sie blieben nicht nur bis zuletzt erfolglos, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee musste im Jahre 1930 auch noch erleben, wie nach einem Beschluss des Reichstagsstrafrechtsausschusses zur Milderung des Schwulenstrafrechts eine Verschärfung desselben vorbereitet wurde, die die Nazis dann fünf Jahre später inkraft setzten. Und es dauerte noch mehr als fünf weitere Jahrzehnte bis 1968/69, als in beiden deutschen Staaten der betreffende Paragraph reformiert wurde, wohl gemerkt: reformiert, nicht etwa abgeschafft. Man mag darüber spekulieren, ob diese verspätete Reform nicht auch einem sozusagen fernwirkenden Einfluss der frühen Berliner Schwulenorganisation durch die Jahrzehnte hindurch mitzuverdanken ist.

Wenn sich das WhK als Kampforganisation verstand, so bedeutete dies natürlich allein mit geistigen Mitteln der Aufklärung, Propaganda und wissenschaftlichen Auseinandersetzung für die Idee zu werben, dass Homosexualität weder Krankheit noch Verbrechen sei und folglich dieselbe Bewertung wie die landläufige Heterosexualität erfahren müsse. Dank der Mitarbeit des Leipziger Verlegers Spohr konnte das WhK eine Fülle von Druckschriften herausgeben, in denen auf vielfältigste Art die Neubewertung der Homosexualität begründet wurde. Das reichte von einem zu zehntausenden gratis verbreiteten Heftchen mit dem Titel "Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen" bis zur wissenschaftlichen Fachzeitschrift, dem von 1899 bis 1923 in 23 Bänden herausgegebenen "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", in dem sich unter allen nur denkbaren Gesichtspunkten Juristen, Mediziner, Historiker, Kunst- und Literaturwissenschaftler, Biologen und sogar Theologen, aber auch Schriftstellerinnen der Frauenbewegung zur Homosexualität äußerten.Gewissermaßen die Seele des ganzen Projekts war Magnus Hirschfeld.

Er kam 1896 als 27jähriger aus Magdeburg nach Berlin, eröffnete eine Praxis für Naturheilkunde und begann im gleichen Jahr eine organisatorische und schriftstellerische Aktivität von schier unglaublichem Umfang für den homosexuellen Emanzipationskampf zu entfalten. Das WhK gedieh in den ersten zehn Jahren unter Hirschfelds Leitung geradezu prächtig, es hatte bald etwa 500 Mitglieder und Ableger in andern Städten, so in Hamburg, München, Hannover und Frankfurt am Main; von den Beziehungen zum Ausland waren die nach Holland besonders gut entwickelt, und als dort 1911 ein antihomosexuelles Strafrecht eingeführt wurde (das etwa dem heute in der DDR geltenden entsprach), gründeten dortige Freunde Hirschfelds eine "Niederländische Abteilung" des WhK, die bis zur Besetzung der Niederlande durch die Nazis bestand, während die Berliner Organisation sich im Juni 1933 angesichts der Machtübernahme durch die Nazis, von denen nur das Schlimmste zu erwarten war, selbst auflöste (16).

Bis zum November 1929, also mehr als 30 Jahre lang, leitete Hirschfeld das WhK ohne Unterbrechung, dann kam es zu einer Art Umsturz in der Organisation, der im wesentlichen von den beiden Schriftstellern Kurt Hiller und Richard Linsert mit dem Erfolg betrieben wurde, dass Hirschfeld vom Vorsitz zurücktrat und dass das Komitee seine Versammlungsräume in dem von Hirschfeld geleiteten Institut für Sexualwissenschaft aufgab; es tagte in den drei Jahren bis zur Selbstauflösung in Gaststätten und Privatwohnungen.

Äußerer Anlass für die Trennung von Hirschfeld waren Vorwürfe gegen ihn, er habe eigenmächtig gegen Beschlüsse des Vorstands verstoßen, sich am Geld des Komitees persönlich bereichert und dem Komitee geschadet, indem er seinen Namen einer pharmazeutischen Firma zu Werbezwecken für ein Impotenzmittel zur Verfügung gestellt habe. Diese Vorwürfe, die Linsert in einer umfangreichen Schmähschrift gegen Hirschfeld zusammenstellte, erwiesen sich schließlich als haltlos. Sie dienten auch nur zum willkommenen Anlass, da man Hirschfeld schon längst aus einem andern Grund weghaben wollte.

Es ging dabei um eine Eigentümlichkeit in Hirschfelds Theorie der Homosexualität, die für viele Schwule seit je ein Ärgernis war. Um ihretwillen hatte sich bereits 1907 eine "Sezession des WhK" abgespalten, die aber damals folgenlos geblieben war.

Zwar stimmten alle mit Hirschfeld überein, dass Homosexualität irgendwie natürlich sei und angeboren und dass jeder Schwule in der schmeichelhaften und tröstlichen Gewissheit leben konnte, mit den berühmten Griechen der Antike, mit Michelangelo und Friedrich dem Großen die gleiche angeborene Naturanlage zu teilen. Solche ideologischen Rückversicherungen bei biologischen Doktrinen glaubte man damals anscheinend nicht entbehren zu können, zumal ja auch das immer beschworene gesunde Volksempfinden der kompakten heterosexuellen Mehrheit sich auf die genau umgekehrte Vorstellung stützte und an die Widernatürlichkeit und Entartung glaubte.

Hirschfeld ging jedoch noch einen Schritt weiter in diesem aus heutiger Sicht abstrusen Glaubenskrieg über Natur und Widernatur, indem er auch die üblicherweise als weiblich bezeichneten Eigenschaften der Männer und die männlichen Eigenschaften bei Frauen zu ihrer angeborenen Natur erklärte. Nichts, und sei es nach herkömmlichem Geschmack auch noch so bizarr und unheimlich, wurde ausgegrenzt, alles gehörte für Hirschfeld zur menschlichen Natur dazu und war als solche zu achten und zu ehren, die Frauen mit Bärten wie die Männer mit weiblichen Brüsten und hohen Stimmen, die Transvestiten, die nur die Kleidung des andern Geschlechts tragen wollten ebenso wie die Transsexuellen , die eine weibliche Seele in einem männlichen Körper zu haben glaubten und deshalb eine operative Geschlechtsumwandlung ersehnten. Dieser radikale Humanismus, der dem Erschrecken vor dem Fremden und der damit einhergehenden Verfolgungslust widerstand, indem er die Einheit aller Formen menschlicher Geschlechtlichkeit betonte, war für viele Schwule, die doch nur ganz normale Männer sein wollten, die bloß Männer statt Frauen liebten, genau so unerträglich wie für die normale Mehrheit.

1932, lange nachdem Hirschfeld nicht nur aus dem WhK beseitigt, sondern inzwischen auch aus Deutschland verjagt worden war (wohin er bis zu seinem Tod 1935 nicht mehr zurückkehren sollte) - 1932 formulierte der erwähnte Kurt Hiller in den Mitteilungsheften  des WhK den Punkt des Ärgernisses, um den es eigentlich gegangen war, der Horror vor der Verwischung der Geschlechtergrenzen.

Hiller schrieb:

"Die ständige Verbindung des homoerotischen Phänomens mit Effeminationserscheinungen, mit Hermaphroditismus, Transvestitismus und anderen mehr oder minder abstoßenden Naturspielen hat der Aufklärungs- und Befreiungsaktion für die mannmännliche Liebe nicht genützt, sondern geschadet. Da, was Sparta stark, einen Michelangelo glühend machte, nichts gemein hat mit Bartweibern, Busenmännern oder sonstigen Monstrositäten, so hätte man den Helden-, den Jünglingskult, die Freude des Mannes am Manne nicht in die Atmosphäre eines sexuologischen Panoptikums tauchen dürfen" (17).

Soweit Hiller, der wie viele andere seinen eigenen sexuellen Geschmack zur Richtschnur fürs Ausgrenzen und Aussondern des Abweichenden machen wollte. Oft genug hatte der Faschismus in seiner Epoche auch die Antifaschisten - und ein solcher war Hiller wie auch Linsert zweifellos - in ihren Urteilen beeinflusst. Noch zwei Jahre später, 1934, musste der schwule Dichter Klaus Mann, der zu dieser Zeit ebenso wie Hiller und Hirschfeld aus Berlin ins Ausland emigriert war, feststellen, dass angesichts der beginnenden Homosexuellenverfolgung in der Sowjetunion die Gefahr entstand, die Homosexuellen zu den Juden der Antifaschisten zu machen; und dabei wurde nicht mehr zwischen effeminierten und wahrhaft männlichen Schwulen unterschieden.

Kann die Selbstorganisation von Schwulen in emanzipatorischer Absicht als ein Charakteristikum des Berliner homosexuellen Lebens wenigstens am Anfang unseres Jahrhunderts gelten, so ist doch andrerseits klar, dass dies nur eine geringe Zahl der Schwulen betraf. 500 Mitglieder hatte das WhK in seiner besten Zeit in ganz Deutschland, und auch in den Zwanzigerjahren, als noch andere Organisationen hinzukamen, war noch immer nur eine kleine Minderheit der Schwulen organisiert. Unter den Bedingungen der Illegalität führten die meisten ein streng durchgehaltenes Doppelleben und mussten aus bloßer Angst die Organisationen meiden. Zudem war eine konservative, vermeintlich unpolitische Grundhaltung unter den Schwulen sicher genau so verbreitet wie beim Rest der Bevölkerung. Viele suchten erst den Kontakt zur Organisation, nachdem sie Opfer polizeilicher Verfolgung oder - was äußerst häufig vorkam - Opfer von Erpressern geworden waren.

Von der Bewegung zur Emanzipation der Homosexuellen lässt sich mit einem frühen Geschichtsschreiber dieser Bewegung, mit Ferdinand Karsch-Haack, eine andere Form schwuler Selbstartikulation unterscheiden, die als poetische Opposition gegen die gesellschaftliche Ächtung zu bezeichnen wäre und die ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert in Berlin vertreten war (18).

Gemeint sind damit die schwulen Dichter und Literaten, die ihre eigene sexuelle Orientierung zum Gegenstand ihres poetischen Schaffens wählten und so ihrer vermeintlich namenlosen Liebe eine Sprache gaben. Ein frühes, heute vielleicht zurecht vergessenes Beispiel solcher poetischen Opposition ist Alexander von Sternberg, ein Autor zahlreicher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr populärer Unterhaltungsromane. Er lebte viele Jahre in Berlin und wählte sich für seine Romane historische Stoffe, die Gelegenheit boten, die gleichgeschlechtliche Liebe seiner Romanhelden für damalige Verhältnisse einigermaßen unbefangen zu schildern. So gibt es von ihm einen Roman über den Kunsthistoriker Winckelmann, über Heinrich, den Bruder Friedrich des Großen, über den Tempelherrenorden und einige andere einschlägige Themen. Natürlich wird alles, was das Geschlechtsleben betrifft, nur angedeutet und umschrieben, doch geschieht dies deutlich genug, um verstanden zu werden. Der erwähnte Ferdinand Karsch-Haack veröffentlichte 1902 im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" eine ausführliche Abhandlung über Leben und Werk Alexander von Sternbergs als einem frühen Repräsentanten poetischer Opposition gegen die geschlechtliche Zwangsmoral seiner Zeit.

Auf eine ganz andere Art begann der Dichter Stefan George, ein Zeitgenosse Hirschfelds, in Berlin seinen poetischen Protest zu formulieren. Gemeinsam mit seinem Freund Carl August Klein gab er in Pankow von 1892 bis 1919 die Zeitschrift "Blätter für die Kunst" heraus. In ihr und in den Sammlungen seiner Gedichte gestaltete er symbolisch und verschlüsselt seine Liebe zu jungen Männern. Schließlich gab er zusammen mit andern Freunden ein "Jahrbuch für die geistige Bewegung" heraus, in dem der "männliche Eros" und der "Freundschaftskult" gepriesen und zugleich beteuert wurde, dass man nichts zu tun habe "mit jenen keineswegs erfreulichen Leuten, die um die Aufhebung gewisser Strafbestimmungen wimmern" (19).

Diese keineswegs erfreulichen Leute waren für den George-Kreis natürlich Hirschfeld und seine Genossen; dennoch scheint es in dieser geistigen Bewegung, die von sich selbst behauptete, sie sei nicht gleichgeschlechtlich, sondern wie Dante und Shakespeare "übergeschlechtlich" orientiert, Uneinigkeit in der Haltung zu Hirschfelds Schwulenpolitik gegeben zu haben; mindestens zwei aus der George-Jüngerschaft, zwei Münchner, Karl Wolfskehl und Alfred Schuler, unterschrieben 1903 Hirschfelds Petition gegen gewisse Strafbestimmungen.

Bemerkenswert ist George mit seinem Kreis von Jüngern und Bewunderern wegen der bedeutenden ästhetischen Innovationskraft, die nicht nur den sprachlichen Ausdruck betraf, sondern vor allem eine Technik der Selbstinszenierung, mit der er um sich eine Art Aura schuf, die, ein bisschen ähnlich der Richard Wagners und seines Musiktheaters, geeignet war, weite Kreise zu beeindrucken und trotz der Homosexualität, um die es ja letztlich ging, den vorherrschenden literarischen Geschmack zu beeinflussen. Der poetische Protest oder, wie es ein anderer Autor nennt: die ästhetische Opposition Georges wurde somit schon bald in den normalen und offiziellen Kunst- und Literaturbetrieb integriert. George und sein Kreis trugen dadurch vermutlich ungewollt zu einer Aufweichung und Lockerung des Tabus bei, das die Homosexualität als literarisches Thema zunächst nicht zuließ. Die meisten literarisch interessierten Schwulen waren ebenso wie alle andern von George und seinem neuen Stil beeindruckt. Das äußerte sich allerdings bei manchen, wie etwa dem Schriftsteller Erich Mühsam in überzogenem Spott und in Polemik. "Man werfe nur einmal einen Blick in ein Berliner Literaturcafé", schrieb er 1904, "kann es einen nicht ekeln, sieht man da solche Meute blasierter Urninge, die ihre umfassende Impotenz hinter einer mächtigen Stefan-George-Krawatte zu verbergen suchen?" (20)

Andere Urninge gebärdeten sich vielleicht nicht so blasiert, wie es Mühsam beobachtet haben wollte, aber sie übten sich doch in der Nachahmung des imposanten Vorbilds. Deutliche Züge solcher Imitation sind bei dem Berliner Literaten Adolf Brand nicht zu übersehen, ebenso bei dem dichtenden Maler Elisar von Kupffer. War ihre ästhetische Potenz tatsächlich nicht sonderlich entwickelt, so dass ihre Werke heute wie blasse Karikaturen der Dichtkunst Georges, und auch eines anderen Großpoeten jener Zeit: Friedrich Nietzsches wirken, so versuchten sie andrerseits mit wesentlich größerer Deutlichkeit ihr Thema der Männerliebe zu gestalten. Adolf Brands Zeitschrift, am Vorbild der "Blätter für die Kunst" orientiert, erschien erstmals 1898 unter dem Titel "Der Eigene. Monatsschrift für Kunst und Leben". Elisar von Kupffer gehörte anfangs zu den Autoren dieser ersten Zeitschrift überhaupt, die ausschließlich dem künstlerisch-literarischen Aspekt der männlichen Homosexualität gewidmet war. Wegen seines Inhalts hatte "Der Eigene" einen schweren Stand. Zum einen bedeutete es ein gewisses Wagnis, fast schon Bekenntnis, den "Eigenen" zu lesen und zu abonnieren, was seine wirtschaftlichen Chancen beeinträchtigte, und hinzu kam, anders als bei den "Blättern für die Kunst" oder beim "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" das Verfolgungsinteresse der preußischen Zensurbehörde und Staatsanwaltschaft. In den ersten Jahren wurde "Der Eigene" mehrfach verboten, sein Herausgeber zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt. 1906 erschien "Der Eigene" als Jahrbuch außerhalb des Buchhandels, dann zwölf Jahre lang überhaupt nicht mehr, und erst nach dem ersten Weltkrieg unter den liberaleren Verhältnissen der Weimarer Republik wieder als Monatszeitschrift, bis er 1931 aus wirtschaftlichen Gründen einging.

Brand begann 1903 in Stefan-George-Manier einen Kreis um sich zu sammeln, eine "Gemeinschaft der Eigenen", die sich aus Lesern und Autoren seiner Zeitschrift zusammensetzte und "Kunstabende" mit Rezitationen und musikalischen Darbietungen veranstaltete. Immer wieder drängte es Brand jedoch, in die niedere Sphäre der Schwulenpolitik hinabzusteigen. Am spektakulärsten war in dieser Hinsicht eine Aktion im Jahre 1907, als er auf dem Höhepunkt der Eulenburg-Affäre, bei der mehrere intime Freunde des Kaisers wegen des Vorwurfs der Homosexualität in Gerichtsprozesse verwickelt waren, eine Flugschrift verbreitete, in der er den Reichskanzler Bernhard von Bülow als homosexuell bezeichnete. Der Reichskanzler erwirkte daraufhin die Verurteilung Brands zu einer 1 1/2jährigen Gefängnisstrafe wegen Beleidigung, zumal Brand seine Behauptung offenbar frei erfunden hatte.

Die sogenannten goldenen Zwanzigerjahre brachten im Rahmen allgemeiner, wenn auch sehr maßvoller Demokratisierung und Liberalisierung einen Zuwachs an Artkulations- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten für die Schwulen im öffentlichen und kulturellen Bereich. Das war keine grundsätzlich neue Qualität, keine entscheidende Verbesserung der Lebensumstände, denn noch immer lebten sie als potenzielle Verbrecher in der Illegalität, doch änderten sich die Ausdrucksformen. So durfte beispielsweise erstmals auf dem Theater die gleichgeschlechtliche Liebe unzweideutig thematisiert werden, was dann auch ausgiebig geschah. Frank Wedekinds Tragödie "Frühlingserwachen" konnte erstmals drei Jahrzehnte nach ihrer Entstehung aufgeführt werden ohne Streichung der kleinen zarten Schwulenszene im dritten Akt. Carl Sternheim schrieb ein Stück mit Oscar Wilde als Titelhelden, und Brecht führte in Berlin seine frühen Schwulendramen "Leben Eduard des Zweiten" und "Im Dickicht der Städte" ebenso auf wie Hans Henny Jahnns "Pastor Ephraim Magnus". In letzterem hat Brecht allerdings allzu drastische Darstellungen schwuler Sexualität vor der Aufführung gestrichen. Um das Jahr 1922 gab es in Berlin sogar eine Gruppe schwuler Schauspieler, die unter dem Namen "Theater des Eros" in einem Theatersaal in Tiergarten ausschließlich Stücke mit einschlägiger Thematik spielte. Nach den vorliegenden Berichten ging es dabei aber wesentlich diskreter und harmloser zu als in den damals zeitgenössischen Stücken, die auf den großen Bühnen der Hauptstadt zur Aufführung kamen.

Die Grenze der Liberalität im Weimarer Staat wurde bei dem Versuch spürbar, im Spielfilm das Thema Homosexualität zu gestalten. Die beiden Filme, die jeweils unter der Mitwirkung Magnus Hirschfelds in Berlin produziert wurden, verbot die Polizei sofort, "Anders als die Andern" von 1919 nach wenigen Wochen, "Gesetze der Liebe" von 1927 durfte öffentlich überhaupt nicht aufgeführt werden. Aus Skandinavien gab es zwar zwei Verfilmungen des Romans Michael von Herman Bang, eine schwedische von 1916 und eine dänische von 1922, die aber an Diskretion und Zartheit der Andeutung noch den Roman übertreffen, so dass hier eigentlich überhaupt nicht von einer Darstellung der Homosexualität gesprochen werden kann. Folglich blieben beide Werke von der Zensur unbehelligt.

Die Homosexuellen-Zeitschriften, die im Berlin der Weimarer Republik zumeist öffentlich an den Kiosken verkauft wurden, charakterisieren vielleicht am deutlichsten das Maß an Liberalität in jenen Jahren, denn so etwas wäre vorher undenkbar gewesen. Mitte der Zwanzigerjahre versuchten Schwule in Paris und in den USA, in Chicago nach Berliner Vorbild, solche Zeitschriften zu verbreiten; "L'Amitié" in Paris wurde fast ebenso schnell verboten und unterdrückt wie "Friendship and Freedom" in Los Angeles (21).

Wir neigen heute leicht dazu, die Lebenschancen der Schwulen im Berlin der Zwanzigerjahre in einem allzu verklärenden Licht zu sehen. Wahr ist daran sicher, dass die Situation im Vergleich zu dem nachfolgenden Terror der Naziherrschaft und auch verglichen mit dem autoritären Regime des Kaiserreichs bedeutend menschenwürdiger und freiheitlicher war. Doch kann dieser Eindruck schon wesentlich relativiert werden, wenn man sich einmal die Mühe macht, einen Band jener Zeitschriften von damals in der Bibliothek der Humboldt-Universität auszuleihen, wo sie glücklicherweise Nazizeit und Krieg überdauerten: bestenfalls überkommt den heutigen Leser jener Zeitschriften ein Gefühl der Rührung bei so vielem monotonen und meist unbeholfenem Emanzipationspathos, den unentwegten Beteuerungen, es gehe nur um "ideale Freundschaft", nicht um schmutzigen Sex, und der hemmungslosen Sentimentalität der meisten Geschichten und Poesien, die damals anscheinend der Unterhaltung und Tröstung dienten. Die Abbildungen haben in der Regel nichts von dem Charme der Fotografien des Barons von Gloeden, eher den von läppischen Amateurbildern.

War demnach die Lektüre der Schwulenzeitschriften damals kein uneingeschränktes Vergnügen, so war das Leben selbst kaum von dem Glanz, den wir heute gern vermuten, wenn wir an jene Zwanzigerjahre denken. Der kürzlich verstorbene englische Schriftsteller Christopher Isherwood hat ja seine Berliner Erfahrungen von damals mehr oder weniger verschlüsselt in einigen seiner Romane gestaltet, und vielfach ist unser Bild der Zwanzigerjahre von dem flotten und glitzernden Musicalfilm "Cabaret" beeinflusst, der von Isherwoods Romanen inspiriert war. In einem Interview, das Isherwood vor einigen Jahren einer nordamerikanischen Schwulenzeitschrift gab und dessen deutsche Fassung in dem schwulen Stadtführer "Berlin von hinten" abgedruckt ist, erinnert sich Isherwood an jene Zwanzigerjahre in Berlin:

"Als ich anfing, über Berlin zu schreiben, dachte ich mir, die Geschichten würden zusammenhängender und auch wahrer, wenn ich sie gewissermaßen neu erfand (...) Natürlich wirkten damals die Berliner Erlebnisse auf mich anders. Als ich dort war, kam es mir bei weitem nicht so strahlend vor wie heute im nachhinein. Tatsächlich gab es lange Zeiträume, die ich ausgesprochen eintönig und dumpf fand, wenn alles seinen gewohnten Trott lief. Heutzutage sagen die Leute oft zu mir: 'Lieber Gott, wenn ich doch nur zu jener Zeit gelebt hätte! Wenn ich doch nur damals hätte dabei sein können!' Ich lächle dann im Stillen, wenn ich mir vorstelle, wie sie sich die meiste Zeit gelangweilt hätten. Und doch, das Verrückte dabei ist, ich kann Berlin auch mit ihren Augen sehen - wenn ich durch das Fernrohr meiner Geschichten schaue - , und dann sehe ich Berlin so, wie sie es wahrnehmen (...) da ich in Berlin mehrere Jahre verbrachte, wurde es einfach zu einem Teil meines Lebens. Im Winter war es wirklich sehr dunkel und trübe; schwer lastende Gebäude; Tag für Tag gab ich Englisch-Unterricht. Ein Freund kam gelegentlich abends, und wir gingen ins Kino. Es war schon angenehm, aber bestimmt keine schillernde oder glitzernde Zeit. Schon weil ich jung und lebenssprühend war, war es anregend, und vor allem war ich heilfroh, all den Zwängen entkommen zu sein, die England für mich darstellten - vor allem, dass ich mich in sexueller Hiinsicht völlig frei fühlen konnte. Und es bedeutete eine wirkliche Befreiung, in einer fremden Sprache zu sprechen. Ich konnte auf deutsch Dinge sagen, die ich auf englisch nur mit Mühe herausgebracht hätte: vor allem, wenn es um Liebe und Sex ging. Und dadurch fühlte ich mich wie neugeboren. Aber nach drei Jahren hatte ich mich doch ziemlich daran gewöhnt, da war es nicht mehr besonders prickelnd." (22)

Soweit Isherwood über jene Epoche, in der sich ja vor allem der Sieg der Nazis und damit das vorläufige Ende allen kulturellen Fortschritts vorbereitete. Das hat wohl allem seinen Stempel aufgeprägt.

Auf die Schicksale der Berliner Schwulen in der Nazizeit möchte ich hier genauso wenig eingehen wie auf das, was nach der Befreiung - auferstanden aus Ruinen - an schwulem Leben in der zweigeteilten ehemals preußischen Metropole existierte (23). Beides müsste Thema einer anderen Veranstaltung sein, und da dürfte nicht immer nur einer reden, der alles bloß aus zweiter Hand weiß, sondern es müssten die Schwulen sprechen, die dabei waren und die ja heute noch mit ihren Erinnerungen unter uns leben.

Ich möchte stattdessen diesen Überblick beenden, indem ich mich für mein Verfahren, im Geschlechtsleben Verstorbener auf der Suche nach dem Warmen und Schwulen herumzusuchen, bei einer Berliner Autorität rückversichere und rechtfertige: Theodor Fontane, aus dessen Brief an Georg Friedländer vom 5. Dezember 1884 ich zitieren möchte, kommt in unserem Zusammenhang auf die Frage nach der Echtheit und der Wahrheit:

"Wenn man sich entschließen könnte, die Geschichte der Humboldts ächt und wahr zu erzählen und beispielsweise bei den sexuellen Uncorrectheiten ich glaube beider (des Einen gewiß) zu verweilen, würde ihr Lebensbild 10 mal interessanter werden und zwar nicht vom gemeinen Klatschbasen-  sondern vom physiologisch-psychologischen Standpunkt."

Von den sexuellen Uncorrectheiten der Brüder Humboldt wissen wir bis heute nichts außer der knappen Bemerkung Hirschfelds in seiner Liste berühmter Schwuler über Alexander von Humboldt: "Soll nie ein Weib berührt haben. Nach zuverlässigen mündlichen Überlieferungen homosexuell.Seinen Freund, der bei ihm als Kammerdiener lebte, setzte er als Universalerben ein" (24).

Ich bitte also zu beachten, dass ich heute abend nicht vom Klatschbasen-, sondern vom physiologisch-psychologischen Standpunkt gesprochen habe.

Anmerkungen:

(1) Zur Geschichte Londons vgl.: A.Bray: Homosexuality in Renaissance England, London 1982; zu Paris: M.Lever: Les Bûcher de Sodome, Paris 1985; zu Amsterdam: Th.van der Meer: Sodoms Samen in der Republik, in: Mitt.d.Magnus-Hirschfeld-Ges.Nr 10, 1987, S.5ff.; zu Köln: B.-U.Hergemöller: Die 'unsprechliche stumme Sünde' in Kölner Akten des ausgehenden Mittelalters, in Geschichte in Köln, Heft 22, 1987, S.6ff. zurück

(2) H.Haustein: Strafrecht und Sodomie vor zwei Jahrhunderten, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 17, S.98ff. zurück

(3) J.Regge: Strafrecht und Strafrechtspflege, in Panorama der Fridericianischen Zeit, hrsg. von J.Ziechmann, Bremen 1985, S. 365ff. zurück

(4) N.Praetorius: Die Homosexualität des Prinzen Heinrich von Preußen, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 15,1929,S.465ff.; und N.Praetorius: Voltaire und die Homosexualität, in: Der Kreis, Zürich, Jg 1943, Nr 7-9. zurück

(5) Friedrich II.: Le Palladion, in: Supplement aux oeuvres posthumes de Fréderic II. roi de Prusse, T.1, Cologne 1789. zurück

(6) J.O.de La Mettrie: Über das Glück oder Das Höchste Gut (Anti-Seneca), Nürnberg 1985, S.56 und 153. zurück

(7) J.Friedel: Briefe über die Galanterien von Berlin, Gotha 1782, S.147ff. zurück

(8) Ebenda, S.152ff. zurück

(9) Ebenda, S.171ff. zurück

(10) Zur Seelenkrankheitskunde, in Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Band 8, 1791, S.6ff und 100ff. zurück

(11) H.von Kleist: Sämtliche Werke, München 1965. zurück

(12) J.L.Casper: Über Nothzucht und Päderastie, in: Vierteljahrsschr.f.gerichtl.u.öff.Med., Band 1, 1852, S.21ff. zurück

(13) J.L.Casper: Klinische Novellen zur gerichtlichen Medicin, Berlin 1863, S.36ff. zurück

(14) W.Stieber: Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer, 2.Aufl. Berlin 1846. zurück

(15) H.Kennedy: Ulrichs, the life and works of Karl Heinrich Ulrichs, pioneer of the modern gay movement, Boston 1988. zurück

(16) Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1926-1933, Faksimile-Nachdruck mit e.Einl.hrsg. von Friedemann Pfäfflin, Hamburg 1985. zurück

(17) K.Hiller in: Mitteilungen, ebenda, S.346. zurück

(18) F.Karsch-Haack: Die deutsche Bewegung zur Aufhebung des §175 RStGB, Berlin-Pankow 1924, S.8. zurück

(19) Jahrbuch für die geistige Bewegung, Band 3, 1912, S.VII. zurück

(20) E.Mühsam: Wider die Ästheten! in: Funken, München, 1904, S.20. zurück

(21) Zu L'Amitié vgl.: G.Barbedette: Paris Gaie 1925, Paris 1981; zu Friendship and Freedom: J.Katz: Gay American History, New York 1976. zurück

(22) Ch.Isherwood: Berlin befreite mich, in: Berlin von hinten 1986/87, Berlin 1986, S.8f. zurück

(23) Über Berliner Schwule in der Nazizeit vgl.: M.Herzer: Hinweise auf das schwule Berlin in der Nazizeit, in: Eldorado, Berlin 1984, S.44ff.; über die Nachkriegszeit: M.Herzer: Auferstanden aus Ruinen, das schwule Westberlin 1945-1970, in: Berlin von hinten 83/84, Berlin 1983, S.24ff. zurück

(24) M.Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin 1914, S.665. zurück

nächste Seite
 © Manfred Herzer, Berlin
Hosted by www.Geocities.ws

1