EINES  WEIßEN  MANNES  BÜRDE

Die Kriesenherde entzündeten sich schon im britischen Empire

von Willi Winkler (Süddeutsche Zeitung, 19.08.2003)

Gern entsinnt man sich in diesen Tagen eines Staatsstreichs, der sich am 19. August 1953 am äußersten Rande des politischen Bewusstseins, noch weit hinter der Türkei zutrug. Ein halbes Jahr zuvor war Stalin gestorben, zwei Monate lag ein Aufstand in Ostberlin zurück, Ereignisse, die die Welt bewegten, doch mit den Straßenunruhen in Teheran konnte die Welt nur wenig anfangen.

Der Premierminister Mohammed Mossadegh hatte es gewagt, die Erdölindustrie zu verstaatlichen. Die britischen Besitzer drängten auf Invasion, die USA zögerten, doch schließlich erhob der CIA-Resident Kermit Roosevelt den windelweichen Schah zur Ehre einer amerikanischen Marionette. Der „Kommunist“ Mossadegh wurde aus dem Amt entfernt. Bis 1979 regierte Reza Pahlevi mit Hilfe der brutalen SAVAK. Studenten stürzten ihn endlich, doch die Macht übernahm der aus dem Exil heimgekehrte Ayatollah Khomeini. Aus dem Iran wurde ein islamischer Gottesstaat. Für die islamische Welt bot der Sturz des Schahs Gelegenheit, sich für die Demütigungen des Westens zu rächen. Schließlich aber muss man von drei Golfkriegen erzählen – und auch der Krieg in Palästina höret nimmer auf.

In einem besonders akademischen Saal der National Portrait Gallery in London hängt ein gut zwei Meter langes Querformat von Thomas Jones Barker, das „Das Geheimnis von Englands Größe“ offenbaren will. Das Ölgemälde zeigt noch jugendschön die britische Königin Victoria in ihrem königlichen Schloss zu Windsor, aufs Festlichste umgeben von ihrem Gemahl Albert und den beiden Premierministern Lord Palmerston und Lord John Russell. In schlichtes Weiß und Blau ist die Monarchin gekleidet, ein Diadem mit einer Feder im Haar. Vor ihr beugt ein dunkelhäutiger Mann mit viel Rot über seinem weißen Gewand die Knie, angetan ist er mit einem prächtigen Kopfputz, und in den ausgestreckten braunen Arm des unzweifelhaft afrikanischen Gesandten geruht die Königin auf allersouveränste Weise ein Buch zu legen. Das Bild sagt mehr als sein Titel: Nicht allein in der Bibel besteht Englands Größe – es ist die Unterwerfung der Völker unters britische Zepter.

Kaiserin von Indien

Königin Victoria, die nachmalige Kaiserin von Indien, herrschte in jenem fernen 19. Jahrhundert, als England nicht bloß die Wogen, sondern die halbe Welt regierte. Und da begann das Unglück.

Der englische Dichter Rupert Brooke besang 1914 dergestalt den britischen Soldaten:

If I should die, think only this of me:
That there's some corner of a foreign field
That is for ever England. There shall be
In that rich earth a richer dust concealed;
A dust whom England bore, shaped, made aware,
Gave, once, her flowers to love, her ways to roam,
A body of England's, breathing English air,
Washed by the rivers, blest by suns of home.

[beste Blut- und Boden-Dichtung, Anm. Dikigoros]

Im vorigen November verplauderte sich der britische Außenminister Jack Straw im Gespräch mit dem New Statesman und sagte einmal ganz undiplomatisch die Wahrheit: „Ein großer Teil der Probleme, die uns heute zu schaffen machen, ist eine Folge unserer Kolonialvergangenheit.“ Als Beispiele zählte er Indien und Pakistan auf: „einige schwere Fehler“. Und Afghanistan: „Unsere Rolle dort war nicht besonders glanzvoll.“ Und Irak: „Die krummen Grenzen wurden von den Briten gezogen. Die Balfour-Deklaration und eine Reihe ihr widersprechender Garantien gingen an Palästinenser und Israelis gleichzeitig. Auch das eine interessante Geschichte, wenn auch keine unbedingt ehrenhafte.“ Straw vergaß auch nicht Robert Mugabes mörderische Nationalpolitik in Simbabwe. „Wenn ein Afrikaner erklärt, Land sei entscheidend, dann spricht er wie die frühen Kolonisatoren.“

Das ist die Tradition. Statt der spanischen und portugiesischen Konquistadoren kamen im 19. Jahrhundert zu allem entschlossene Soldaten, Ingenieure und Kaufleute. Viele von ihnen starben am Hindukusch, in Khartum, in Gallipoli, und der Dichter Rupert Brooke hat ihr Lied gesungen. Bei aller Liebe zu England ging es aber nie um etwas anderes als um die Ausweitung der Macht, und drohte bei der Bagdadbahn nicht erbitterte Konkurrenz von den Deutschen?

Eine einzige Legende ist das Leben von T.ELawrence, und noch mehr der Tod, der Sturz mit der Brough Superior, 1935 auf einer Landstraße, englische Erde. War es wirklich ein Unfall? Selbstmord? Wurde er nicht doch umgebracht? Wusste, wollte er zuviel? Dass er die Araber mehr geliebt hätte als ihre kleidsame Tracht, ist leider doch nicht erwiesen. Sicherlich war er befangen in jugendlichen Träumen von einem anderen Reich, das nicht von dieser Welt, sondern mit dem Mittelalter versunken war, dem Reich der Kreuzritter. Als loyaler Diener des neuen Imperiums befolgte er seinen Auftrag, die türkische Eisenbahn und damit den Verbündeten der Deutschen zu sabotieren. „El Aurens“ versprach den Arabern, die er mit viel Geld zum Aufstand anstachelte, das Blaue vom Himmel, sogar die Einheit in Unabhängigkeit. Nach London berichtete er als Aufklärungsoffizier: „Wenn wir formal als Waffenbrüder auftreten, können wir sie ohne Gewalt führen, wohin es uns beliebt. Die Zukunft Mesopotamiens ist so unermesslich, dass wir, wenn es einmal ganz und gar auf unserer Seite ist, damit den ganzen Vorderen Orient herüberziehen können.“ Mesopotamien, so weltmachtträumte der so genannte „Lawrence von Arabien“, könnte das erste „dunkelhäutige Dominium“ des Empire werden, von dort aus ließe sich der gesamte Nahe Osten zivilisieren. Mesopotamien heißt heute Irak und leidet wieder unter der Aufgabe, die Botschaft von der Überlegenheit des Reiches in die Nachbarvölker auszustrahlen.

Lawrence begleitete den König Faisal 1919 nach Paris zur Friedenskonferenz, aber das eben erwachte Arabien wurde doch, wie im Sykes-Picot-Geheimabkommen beschlossen, zwischen Frankreich und England aufgeteilt.

Bei Rupert Brooke geht es weiter:

And think, this heart, all evil shed away,
A pulse in the eternal mind, no less
Gives somewhere back the thoughts by England given;
Her sights and sounds; dreams happy as her day;
And laughter, learnt of friends; and gentleness,
In hearts at peace, under an English heaven.

Eine rote Landkarte

Die Engländer vergrößerten ihr Reich, färbten, wie sie gern sagten, „die Landkarte rot“. Das great game des vorigen Jahrhunderts konnte großartig fortgesetzt werden. Nur die Araber fühlten sich betrogen. Aber was verschlug das, Mesopotamiens Zukunft schwamm im Öl. Das benachbarte Persien ließ sich bequemerweise durch die Anglo-Persian Oil Company beherrschen. Schließlich lag in dem fetten Boden ein noch fetterer Staub verborgen. „Aus strategischer Sicht“, so verkündete die britische Admiralität schon 1922, „ist es entscheidend, dass Großbritannien die Gebiete kontrolliert, in denen sich Öl befindet.“

Der Imperialist Rudyard Kipling hat einst das Hohelied des Kolonialismus gesungen. Es ist eher eine masochistische Klage, denn die „Bürde des Weißen Mannes“ besteht nicht zuletzt darin, dass „die Besiegten einem die Schuld geben und die Bewachten einen hassen“. Wie können sie nur, undankbares Gesindel! Zumindest Mahatma Gandhi war dann doch nicht mehr von Englands Größe zu überzeugen; 1947 musste Indien nach jahrzehntelangem Kampf in die Unabhängigkeit entlassen werden.

Nur wenige Wochen vorher erfand man sich ein Pakistan, in dem die muslimische Bevölkerung unterkommen sollte. Die absurde Konstruktion eines durch ganz Indien halbierten Staates endete erst 1971 in der Sezession von Bangladesh mit nachfolgendem Bürgerkrieg. Der Krieg hat seither auf dem indischen Subkontinent nicht mehr aufgehört, er greift über nach Kaschmir und hat in einem besinnungslosen Wettrüsten sowohl Indien wie Pakistan zu Atommächten befördert. Soviel Bürde.

Am schwersten hatte England in Afrika an des Weißen Mannes Bürde zu tragen. Nach und nach wurden die Kolonien – kaum vorbereitet – in Unabhängigkeit entlassen. In Südafrika musste man am längsten an die politische Bibel der seligen Victoria glauben. Die Apartheid war schließlich genau das, was der hygienebewusste Kipling empfohlen hatte: „Lasst die Weißen zu den Weißen gehen und die Schwarzen zu den Schwarzen.“

Und dann der Nahe Osten. Bei den Pariser Vorort-Verträgen wurden 1919 nicht nur die Reparationen fürs Deutsche Reich, sondern gleich eine neue Weltordnung festgelegt. Das Ottomanische Reich war zerschlagen; es musste nur noch aufgeteilt werden. England, in seiner gottgefälligen Größe, nahm sich den Löwenanteil, das Empire erlebte seinen letzten expansiven Schub. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson eben erst erfunden, galt schon wieder nichts. Die Araber sollten kein Volk sein dürfen. Winston Churchill warnte vor den Folgen, warnte vergeblich vor einem „ewigen Krieg“ mit der islamischen Welt. Der amerikanische Präsident Eisenhower, so beliebt wegen seiner Naivität, stellte die Frage aller Fragen: „Warum hassen sie uns so? - Ja, warum?

Auf fremdem Feld

Großbritannien hat mit seinem Kolonialreich „die moderne Welt geschaffen“, wie Niall Ferguson im Untertitel seines Buches „Empire“ erklärt. Die USA drängten schließlich darauf, dass England auf seine Kolonien verzichtet. Die Kolonien sind fort, der Schaden bleibt. „Die Ursprünge eines Imperiums sind oft Anlass für Kummer; seine Auflösung immer“, heißt es bei Evelyn Waugh. Für Ferguson lebt das Weltreich unter neuem Namen fort. „Wie zuvor das Britische Empire handelt auch das amerikanische im Namen der Freiheit, auch wenn die eigenen Interessen natürlich im Vordergrund stehen.“

Henryk M. Broder hat zur Beendigung des Nahostkonflikts vorgeschlagen, dass sich beide, die Palästinenser wie die Israelis, wegen erwiesener politischer Unfähigkeit wieder unter britische Mandatsherrschaft begeben sollten. Die in Europa verfolgten Juden sollten in Palästina eine Heimstatt erhalten, versicherten ihnen die Engländer. Die Araber sollten bleiben dürfen, versprachen die Engländer. Im Ersten Weltkrieg kämpfte einst eine jüdisch-arabische Brigade gegen die Türken, und noch am Anfang der fünfziger Jahre gab es in Israel Kibbuzim, in denen Juden und Araber zusammenlebten. Aber das ist lange her, und außerdem ist Krieg. Er begann mit dem Empire, und er darf noch immer nicht aufhören. Englisch auf ewig. Irgendwo, auf fremdem Feld.


Anmerkung Dikigoros:
Da könnte Henryk M. Broder Recht haben - aber wenn er nicht selber Jude wäre, dürfte er so etwas in Deutschland schwerlich ungestraft schreiben, ohne sich den Vorwurf der "Volksverhetzung" oder gar der Verunglimpfung des Staates Israel zuziehen. (Jürgen W. Möllemann hat weit weniger deutliche Worte kürzlich mit dem Leben bezahlt - aber das ist eine andere Geschichte.) Nun kann man trefflich darüber streiten, ob es unter englischer "Mandatsherrschaft" weniger Streit zwischen Hebräern und Arabern, zwischen Juden und Muslimen in Nahost gäbe als jetzt. Aber bemerkenswert ist sie schon, die These, daß es ein Fehler war, gewissen unbefriedeten Völkern gewisse "Freiheiten" zu geben - die sie oft nur als Freibrief verstanden, ihre Kriegs- und Mordlust zu be-friedigen (welch ein Wort)! -, nicht nur im Asien und Afrika, sondern auch und vor allem an der Schnittstelle dieser beiden Kontinente. Allerdings zeigt der jüngste Versuch der Angelsachsen, im Irak wieder so etwas wie eine "Mandatsherrschaft" aufzurichten, daß sich Henryk M. Broder das wohl doch etwas zu einfach vorgestellt hat. Womöglich hatte doch Rudyard Kipling Recht, daß man die "finsteren" Völker besser im eigenen Saft schmoren lassen sollte, da man von ihnen doch nichts anderes als Undankbarkeit zu erwarten hat?! Tja - wenn es denn nur der eigene Saft wäre... Aber der Saft, den sie dort zu ernten hoffen, ist mittlerweile zum Lebensblut und -elixier der westlichen Völker geworden, die in leichtsinniger Verblendung zugleich ihre Kohlebergwerke stillgelegt, ihre Atomkraftwerke abgeschaltet und sich dadurch mehr denn je von jenen wenig sympathischen Zeitgenossen abhängig gemacht haben, die zufällig in einer Wüste sitzen, unter deren Sand Erdöl fließt - es sei denn, sie wollten auf all die Bequemlichkeiten verzichten, die Energie kosten, und wer will das schon? Dikigoros schätzt, daß Kipling, wenn er heute lebte, auf diese Fragen geantwortet hätte: "Hört auf, Euch ein schlechtes Gewissen zu machen und Euch einzureden, daß Ihr jenen Völkern dort etwas Gutes tun, sie hätscheln und bei Laune halten müßtet - so manches der vorgenannten Länder wäre reicher, wenn es ärmer an eingeborener Bevölkerung wäre." But Kipling is dead and out... Ach so - Dikigoros persönliche Meinung? Nun, er glaubt nicht daran, daß die wilden Völker und Stämme des Nahen Ostens mit einem milden Christentum zu Toleranz und Friedfertigkeit erzogen werden können. Die können nur mit harter Hand ruhig gehalten werden, also entweder mit strengem Islam oder aber mit einem wehrhaften Zionismus, der dagegen hält. Dikigoros hält den letzteren für das geringere Übel; aber er glaubt nicht, daß er am Ende die Oberhand behalten wird. Die Muslime werden die Juden früher oder später ins Meer werfen - wenn sich nicht auch die Christen wieder auf ihre fundamentalen Werte, insbesondere auf ihre alte Wehrhaftigkeit besinnen, und den Juden aktiv und offensiv beistehen; aber das sieht Dikigoros nicht. Und in den Ländern Afrikas und Asiens, die vom Islam bedroht, z.T. sogar schon beherrscht werden? Dto - der Hinduismus wird sich seiner vielleicht noch eine Zeitlang erwehren können, vor allem wenn es den militanten Hindus des neuen Shiw Sená gelingen sollte, die Massen gegen die muslimische Flut zu mobilisieren; aber alle anderen werden, vom bürde- und würdelosen weißen Manne im Stich gelassen, für Erdöl verraten und verkauft, den islamischen Bach 'runter gehen.


zurück zu Lawrence von Arabien

zurück zu Die [un]schöne Welt der Illusionen

heim zu Reisen durch die Vergangenheit