Die verlorene Ehre der deutschen Geographie

Das kollektive Vergessen findet nicht statt

Seit den 1980er Jahren ist das Verhältnis von Geographie und Nationalsozialismus ein Thema intensiver Forschung

Von Ute Wardenga und Hans Böhm

Wie schafft man es, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in den Massenmedien unterzubringen? Die Antwort scheint einfach: man nehme ein sensibles, im gesellschaftlichen Diskurs mit hohem Aufmerksamkeitswert besetztes Thema. Die Analyse des Gegenstandes führe man dann so aus, dass sich deutliche Anhaltspunkte für Formen von Verschleierung, Verleugnung und Verdrängung der Vergangenheit ergeben. Nun lässt sich der Sachverhalt mit moralischer Kommunikation weiter aufladen, indem man Gut und Böse differenziert, Helden von Schurken unterscheidet, Täter outet und für die Opfer Solidarisierung anmahnt.

Die eigene Disziplin im Visier

Ein Paradebeispiel für eine derartige Vermarktung von Forschungsergebnissen hat Michael Fahlbusch in seinem Artikel "Die verlorene Ehre der deutschen Geographie" in der Frankfurter Rundschau vom 2. Oktober geliefert. Der 52. Deutsche Geographentag bot ihm den willkommenen Anlass, die eigene Disziplin ins Visier zu nehmen, um ihr einen gezielten Schrotschuss auf den Pelz zu brennen. Denn nach Fahlbuschs Meinung sind die Geographen allesamt Legastheniker in der Auseinandersetzung mit der fachspezifischen Vergangenheit, insbesondere der NS-Zeit. Sie können nicht lesen, was zu lesen notwendig wäre und wenn sie schreiben, dann werden Tatsachen verleugnet, Mittäterschaften verdrängt, Verstrickungen bagatellisiert und Völkermorde verklärt.

Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich, ob Fahlbusch, der jahrelang die wissenschaftliche Auseinandersetzung um eine Neugestaltung der Fachgeschichtsschreibung miterlebt und mitgestaltet hat, Opfer jener Amnesie geworden ist, die er jetzt der deutschen Geographenschaft kollektiv unterstellt. Denn schon seit Anfang der achtziger Jahre ist das Verhältnis von Geographie und Nationalsozialismus ein Thema intensiver, kritischer disziplinhistorischer Forschung.

Weder die "Machtergreifung" noch das Ende der Hitler-Diktatur stellten Brüche in der Fachentwicklung dar. Lange vor 1933 waren die in der NS-Zeit relevant werdenden Themen im weiten Umkreis der Lebensraumideologie fester Bestandteil des geographischen Weltbildes und sie blieben es unter dem Stichwort "Landschaftsgeographie" - freilich oberflächlich von der NS-Terminiologie gereinigt - auch über die "Stunde Null" hinaus. Diese von Hans-Dietrich Schultz in seiner Dissertation schon Ende der siebziger Jahre herausgestellten und dann in weiteren Untersuchungen von Klaus Kost, Gerhard Sandner, Astrid Mehmel und den Autoren dieses Artikels für die Hochschulgeographie untermauerten Befunde konnten durch Studien von Henning Heske und Heinz Peter Brogiato auch für die Schulgeographie bestätigt werden.

Schon vor 1933 enthielt die völkisch-nationale Grundkonzeption des Erdkundeunterrichts fast alle Motive, die dann zu Komponenten nationalsozialistischen Erdkundeunterrichts wurden: die emotional überfrachtete und mit Irrationalismen aufgeladene Heimatkunde, die als Instrument der Erziehung zum raumpolitischen Denken eingesetzte Politische Geographie ebenso wie die mit revisionistischen Forderungen getränkte Kolonialgeographie. Die Affinität des klassischen länderkundlichen Paradigmas mit NS-Theoremen trug erheblich dazu bei, dass Geographen dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstanden.

Anfang der neunziger Jahre hat Horst-Alfred Heinrich das Ausmaß der Zustimmung zur NS-Diktatur quantitativ untersucht. Die von ihm analysierten über 6000 Artikel der wichtigsten Fachzeitschriften zeigen, dass 88 Prozent der publizierenden Geographieprofessoren Ideen vertraten, die mit den Theoremen der Partei deckungsgleich waren. Sie befürworteten rassistische Denkmotive, traten für völkisches Gedankengut ein, plädierten für revanchistische Raumgliederungen und feierten das deutsche Großmachtstreben. Das sind nur Beispiele aus einem großen Spektrum von Forschungsergebnissen.

Weshalb Fahlbusch zu den Mitteln eines auf bloße Effekthascherei bauenden Journalismus greifen muss, weshalb er Forschungsleistungen, die er in seinen wissenschaftlichen Arbeiten ansonsten zitiert, verleugnet und statt dessen international hoch angesehene Kollegen diffamiert, bleibt unerfindlich. Auch die von Fahlbusch in seinem jüngst publizierten Buch über die sogenannten "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" vertretene These der institutionellen Verstrickung des Faches mit den Organisationen des Völkermords ist so neu nicht. Sie wurde bereits in den achtziger Jahren durch eine von Gerhard Sandner in Hamburg aufgebaute Arbeitsgruppe belegt.

So hat beispielsweise die von Fahlbusch immer wieder als Kronzeugin angeführte Mechtild Rössler mit Hilfe umfangreicher Archivstudien nicht nur nachgewiesen, dass sich eine Vielzahl von Fachvertretern dem NS-System offensichtlich freiwillig und ohne erkennbaren inneren Konflikt als Experten zur Verfügung gestellt hat. Sie hat auch gezeigt, dass das 1933 erstmals publizierte und in der Nachkriegszeit im Rahmen der Landes- und Raumplanung breit eingesetzte Christallersche Konzept der zentralen Orte von Christaller selbst noch während des Krieges modifiziert und auf die mit politischen Wunschvorstellungen durchsetzte Planungspraxis des NS-Staates bezogen wurde. In dieser Form stellte es dann auch eine der wesentlichen Vorarbeiten für den "Generalplan Ost" dar, im Zuge dessen 31 Millionen in Polen, dem Baltikum und der ehemaligen UdSSR lebende Menschen "ausgesiedelt" und 145 Millionen "eingedeutscht" werden sollten.

Was nach alledem bleibt, ist der Befund, dass Fahlbusch bereits vorhandene Belege radikalisiert und sie zur These ausbaut, es habe so etwas wie eine "nationalsozialistische Wissenschaftsgroßinstitution" gegeben, die, nach dem "Führerprinzip" organisiert, alle Forschungsaktivitäten bestimmt hat. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese These jedoch als ein bloßes Artefakt, das dazu dient, das von ihm gesammelte Quellenmaterial zu bewältigen. Denn gegen die Existenz eines solchen "Brain trusts" sprechen umfangreiche weitere Materialien in geographischen Archiven, die Fahlbusch nicht berücksichtigt hat. Weder werden hinreichend genau die bis ins Kaiserreich zurückreichenden Entstehungsbedingungen der Forschungsgemeinschaften offengelegt noch wird erklärt, warum sich Wissenschaftler so verhielten, wie sie sich verhalten haben. Daher überwiegt der fragwürdige Eindruck einer von der Leidenschaft zur Entlarvung diktierten Historiographie, die an zahllosen Stellen auf quellenkritische Interpretationen zugunsten allzu leichtfertiger, vorurteilsgeladener Unterstellungen verzichtet.

Trugbild eines Tunnelblicks

Die von Fahlbusch konstatierte "verlorene Ehre der deutschen Geographie" erweist sich als Trugbild eines allzu starren Tunnelblicks. Was bleibt, ist - um Heinrich Böll zu bemühen - vorerst nur "Doktor Fahlbuschs gesammeltes Treiben" und die Verwunderung darüber, wie man unter Instrumentalisierung vermeintlich wissenschaftlicher Reputation ein Rauschen im Blätterwald erzielen kann.

Ute Wardenga ist Sprecherin des Arbeitskreises "Geschichte der Geographie" und arbeitet am Institut für Länderkunde in Leipzig; Hans Böhm ist Professor für Geographie an der Universität Bonn.

 

Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 15.10.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 16.10.1999

Hier der Artikel von Fahlbusch, auf dem dieser Artikel basiert.

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