Schillers Geschichtsschreibung

von Jürgen Behn

A. Zur Geschichte der historischen Schreibweise und die Situation im 18. Jahrhundert

Geschichtsschreibung scheint es schon seit je gegeben zu haben. Homer, dessen Schriften zu den frühesten Zeugnissen der griechischen Kultur zählen, gehört zu den ersten Geschichtsschreibern und wiederum doch nicht zu ihnen, da "wahre" Historie und Fiktion in den Anfängen der Geschichtsschreibung nicht nur ineinander überlaufen, sondern eher der Heldendichtung zuzuordnen sind. Trotzdem besaß Homer einen erheblichen autoritativen Einfluß auf die "ersten": Herodot und Thukydides. Darstellungsziel Herodots war der "göttliche Ratschluß", Thukydides stellte großes menschliches Leiden in den Mittelpunkt. Geschichtswissenschaft und -schreibung wurde noch nicht differenziert, Geschichte gab es nicht einmal als eigenen Fachbereich, sie war eher eine poetische Disziplin und wurde von der Rhetorik "mitverwaltet". [1] Dementsprechend beziehen sich theoretische Erörterungen auch auf Vermittlungsfragen, so stellte Polybios (200 v. Chr.) die Frage, ob man Geschichte besser verstandes- oder gefühlsbezogen darstellen sollte; Aristoteles kam in einem Vergleich von Poetik und Geschichtsschreibung zu dem Ergebnis, daß die Poetik höher einzuschätzen sei [2], da Geschichtsschreibung zu sehr an besondere Situationen gebunden wäre. Die Poetik sei dagegen in der Lage, typische Situationen zu zeichnen: Damit wird der höhere Lerneffekt, der in typischen Situationen enthalten ist, als Unterscheidungskriterium verwendet. Und eine Geschichtsschreibung, die nichts weiter mitteile, als "wie oft der Weizen teuer gewesen und wann Mond und Sonne sich verfinstert hätten", so der ältere Cato, bedarf "keiner Kulturtradition" [3], brauche man im Grunde gar nicht.

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Dieser Spott, der den Annalen der römischen pontifices galt, wäre auch im Mittelalter angebracht gewesen, denn dort unterschied man die "ländliche Muse" (die Chronik), die "auf bescheidener Hirtenflöte gefeiert wird", währenddessen sich der Historienschreiber "kunstvoll und ausführlich verbreitet"[4] , bei der "ländlichen Muse" scheint sich der Einfluß der Rhetorik auf die Zuweisung zur unteren der drei Stilebenen zu reduzieren: "Wo man sich höhere Ziele steckt, knüpft man im Abendlande an die griechisch-römische Rhetorik an." [5] Auch in und nach der Zeit des Humanismus vegetierte die Geschichtswissenschaft nur vor sich hin, weil sie "im dienenden Gefolge anspruchsvoller Herrinnen, der Gottesgelahrtheit, der Jurisprudenz, der Philologie [...] unselbständig geblieben" [6] und im 18. Jahrhundert "fast ausschließlich zu einer Hilfswissenschaft des öffentlichen [d.h. feudal-aristokratischen] Rechts" geworden war.

Neben der Abhängigkeit der Geschichtswissenschaft von anderen Disziplinen war die ungünstige Sprachsituation ein zusätzlich hemmender Faktor für die Geschichtsschreibung, denn um l800 war die lateinische Sprache auf dem wissenschaftlichen Gebiet dominierend, daneben hatte lediglich die französische Sprache ihr Publikum. Selbst Johannes von Müller (1752-1809), der im Gebrauch der deutschen Sprache auch rhetorische Momente aufnahm, strebte "schülerhaft nach dem color latinus", daß sich "sein Deutsch [...] oft wie eine schlechte Übersetzung aus Sallust oder Tacitus" [7] liest. Die deutschschreibenden Forscher mußten sich nicht nur einer Sprache bedienen, die nur eine holprige Mixtur aus lateinischen und französischen Brocken darstellte, ihre Abhandlungen strahlten zu allem Überfluß noch "umständliche

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Breite" und "pedantische Gelehrsamkeit" [8] aus, in den allgemeinen Geschichtswerken und Unterrichtsbüchern findet man "neben trockenen Zahlen und Namen meist Anecdoten, gräulichen Wust, gelehrte und ungelehrte Conjecturen, alles durcheinander." [9] Zudem waren die damaligen Geschichtsschreiber in der Regel nicht in der Lage, Wichtiges von bloßem Ballast zu trennen, "über dem Einzelnen vergass man das Gesammte", [10] um von einer didaktischen oder kunstvollen Anordnung des Stoffes gar nicht zu reden.

Das war die Situation, der sich Schiller gegenübergestellt sah, allein die deutsche Sprache hatte sich gegenüber dem Jahrhundertbeginn entscheidend verbessert. [11]

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B. Schillers Geschichtsphilosophie

Frühe Arbeiten

Fast alle dramatischen Arbeiten Schillers haben historische Vorkommnisse zum Thema, abgesehen von seinem Erstling Die Räuber. Aber selbst dieses - von Schiller als politisches Kampfdrama konzipiert - ist von dem Mannheimer Intendanten von Dahlberg aus Zensurerwägungen [12] in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückverlegt worden. Trotz des berechtigten Einwandes Schillers, daß die Einheit des Stückes dadurch verloren ginge, verfehlte die Uraufführung die ursprüngliche Intention nicht: die Tumulte, die während der Aufführung entstanden und deren Zeuge Schiller wurde, bewiesen, daß Karl von Moors Reden auch in einem hundert Jahre älteren Gewand als Zeitkritik verstanden wurden; daß hier Anklage gegen die feudalistische Gesellschaft geführt wurde:

Da donnern sie Sanftmut und Duldung aus ihren Wolken und bringen dem Gott der Liebe Menschenopfer wie einem feuerarmigen Moloch [...] stürmen wider den Geiz und haben Peru um goldner Spangen willen entvölkert und die Heiden wie Zugvieh vor ihre Wagen gespannt [...] [13]
Und was er in den Räubern verhältnismäßig frei äußerte, konnte er auch unter den Augen des Herzogs nicht ganz unterlassen. Vorsichtig und doch unverblümt schrieb er:
Städte werden befestigt, Staaten errichtet, mit den Staaten entstehen bürgerliche Pflichten und
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Rechte, Künste, Ziffern, Gesetzbücher, schlaue Priester - und Götter. [14]


Dieses Zitat aus dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen beweist ebenfalls die hohe Bedeutung, die Schiller schon in jungen Jahren der Geschichte beigemessen hat; die Anwendung des Attributes "schlau" sowie des Plurals von "Gott" zeigen dazu, wie unabhängig er in seinen Vorstellungen von religiösen Auffassungen seiner Zeit war.[15] Daß die Religion besonders im Brennpunkt stand, erklärt sich aus der Tatsache, daß ihre theistische Form, d.h. die transzendente Gottesvorstellung noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts die alleinige Grundlage der Philosophie darstellte (und bis heute Grundlage der katholischen Kirche geblieben ist), jede geistig-aufklärerische Potenz gefangen hielt. Die aufklärerische Bewegung konnte sich davon befreien und gelangte zum deistischen

"Schöpfungsoptimismus", einer im Grunde unvereinbaren" Verbindung von "froher" Hoffnung und Wirklichkeitsnähe. Doch Schiller überwand auch diesen Standpunkt, "die Intention, die den Historiker Schiller leitete, war weniger die, die Vernünftigkeit der Geschichte zu beweisen [d. h. Schöpfungsoptimismus. Vorsehung], sondern weit mehr: die Geschichte auch noch vor der Vernunft zu rechtfertigen", [16] und er entwickelte die Vorstellung des Pantheismus, Schiller richtete sich nicht gegen die Religion überhaupt. So verteidigte Schlözer seine geschichtliche Aufklärungsarbeit auf dem Gebiet der Religion:

[Es] sage niemand, dass die Geschichte die Religion angreife, nein, sie reinigt sie von den Flecken, die sie dem denkenden Manne verächtlich machten. [17]
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Der Behandlung der Geschichte als Entlarvung der Gegenwart steht ihre epideiktische (lobrednerische) Verwendung in den beiden von Schiller gehaltenen Reden auf der Karlsschule (anläßlich des Geburtstages der Franziska von Hohenheim) gegenüber. [18] Hier wurde Geschichte dazu eingesetzt, um mit den Mitteln der Rede die Vorzüge und die Tugenden der Angeredeten mächtig herauszustreichen, indem die Größen" der alten Geschichte zwar nur aufgeführt werden, durch die Zusammenstellung aber einen Vergleich oktroyieren, um zu zeigen, daß die Angesprochene noch weit tugendhafter sei. Dieser Eindruck wird durch die Schlußwendung der narratio verbal bestätigt:

Aber was soll ich noch lange Geschichten voriger Zeiten durchirren, Muster echter Güte und Wohltätigkeit aus den Trümmern des Altertums hervorzugraben! [19]
Für den zeitlich distanzierten Beobachter verwischt sich trotz Schillers Ausruf: "Ihre Söhne haben nicht schmeicheln gelernt!" nicht der Eindruck "kriechender Schmeichelei". Immerhin hat er sich von dieser Sklavenberedsamkeit in seinen Dramen freimachen können. [20]
 
 

Plutarch - Schlözer

Zu den größten Einflüssen der Karlsschule auf Schiller zählt zweifellos der schon in den Räubern "verewigte" Plutarch. Schiller fand darin die Schilderung von

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"großen" und teilweise "edlen" Menschen [21], seiner Begeisterungsfähigkeit konnte er freien Lauf lassen und von dieser "personifizierenden" Geschichtsauffassung hat er sich nie befreien können. Doch Plutarch war weniger die Ursache, als vielmehr der Ausdruck einer humanistisch modifizierten Strömung, die ihn über seine Lehrer erreichte.

Was so im Anfang für alle angetreten ist, wird zum Privileg. "Die humanistisch-gelehrte Haltung versucht, den 'gemeinen' als unverständig und zum Urteilen nicht berechtigt auszuklammern." Eine Haltung, in der sich auch Schiller gefällt; er spricht verächtlich von "Gemeinen", vom "Pöbel" oder vom "gemeinen Haufen", der brandschatzt, mordet und plündert und damit der Reinheit der Idee schadet. [22]
Von den zeitgenössischen und systematischen Ansätzen ist Schlözer auch aus dem Grunde erwähnenswert, weil er auf der Karlsschule gelesen wurde. Schlözer, dem die bisherige Geschichte nur "ein Gemengsel von einigen historischen Datis" war, versuchte sie von einer bloßen "Hilfswissenschaft der biblischen und Proform-Philologie" [23] zu emanzipieren. Seine Geschichtssystematik begann mit der Einteilung aller Völker der Welt, und "dann erst, aber eher nicht, ein synchronistisches System von jedem Zeitalter." [24]

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Sein Ansatz - wie auch der Gatterers - zielte darauf ab, der historischen Stoff nach festgelegtem Plan und festgelegter Methode zu ordnen. [25]

Die Zusammenstellung der Weltbegebenheiten, und der allgemeine Blick, der alles auf einmal fasset, wird von jeder einzelnen Begebenheit eine weit richtigere, lebhaftere, und vollständigere Vorstellung bewirken, als wenn man sie insularisch und aus dem System herausgerissen denkt. Jede Specialgeschichte erscheint in einem andern Lichte, wenn sie mit andern, die sie entweder zunächst berühren, oder mit denen sie mittelbar zusammenhängt, verbunden wird. [26]
Ganz ähnliche Formulierungen finden sich in Schillers Antrittsrede. [27]

Die Frage nach dem Sinn in der Geschichte ließ Schlözer allerdings außer acht, er sah die Bewegung der Geschichte als ein richtungsloses Auf und Ab. Die Verbindung zur Gegenwart ist ohne Wert- und Wirkungszusammenhang, es ist wie ein "Anleimen" [28] der Vergangenheit an die Gegenwart.

Machiavelli

In den frühen Schriften Schillers finden sich Bemerkungen, die dem Problemkomplex der Abhängigkeit Individuum - Umwelt zuzuordnen sind. So schrieb er im fünften Brief über Don Carlos: "Man muß den Augenblick nutzen, sagt er zu sich selbst, der nur einmal kommt." [29] Und in der Einleitung zum Abfall der Niederlande heißt es:

Des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in einem höhern Bogen und nach einer ganz andern Richtung fort, als ihm von der Sehne gegeben war. [...] Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm gehört der
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Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall. [30]
Erich Brandenburg sah darin, daß Schiller vor der Beschäftigung mit Kant zu dem Glauben an ein "blind waltendes, unergründliches Fatum" [31] hinneige, dagegen sehe ich neben deistischen Strömungen den Einfluß des im 18. Jahrhunderts vielbesprochenen Machiavelli. Denn wenn man das letzte Zitat auch in dem von Brandenburg genannten Sinn deuten kann, so ist doch die dem vorletzten Zitat entsprechende Tendenz für Schillers Werk typischer: Der "Augenblick", den das Individuum "nutzen" muß; das findet seine Entsprechung in den polaren Begriffen Machiavellis: die individuelle Seite in virtù, die äußeren Bedingungen in fortuna. Virtù ist der aktive Teil im politischen Geschehen, fortuna die "Widerstrebende, das Hinzunehmende, das Unangreifbare". Fortuna ist aber keine völlig unwandelbare Größe (die unveränderbaren Teile darin nennt Machiavelli necessità, die Notwendigkeit), sie besteht aus einer Vielfalt z.T. ambivalenter Faktoren. Fortuna ist eine "verschwenderische Geberin, aber sie ist auch untreu, unberechenbar, oft sogar heimtückisch." Sie ist "Göttin und Ungeheuer zugleich." [32] Der Unterschied zwischen fatum und fortuna besteht darin, daß ersteres absolut dem Zufall überlassen bleibt und damit auch absolut unergründbar ist; fortuna dagegen ist zwar auch nicht ohne weiteres durchschaubar, jedoch lassen sich die Gesetze ihrer Veränderung in gewissem Rahmen erlernen. So läßt Schiller durch den Mund des Bataviers Claudius Civilis der fortuna Geheimnisse entreißen:
Jetzt, Batavier, ist der Augenblick unser. Nie lag Rom darnieder wie jetzt. Lasset euch diese
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Namen von Legionen nicht in Schrecken jagen; ihre Lager enthalten nichts als alte Männer und Beute. [33]
Bisher mußten die Batavier von einer Übermacht der Römer ausgehen, die zu diesem Zeitpunkt aus den verschiedensten Gründen - insbesondere die Überalterung der Besatzungen - nicht mehr bestand: fortuna hatte sich von einem "Ungeheuer" in eine "Göttin" verwandelt.

Schieder [34] weist in einem anderen Punkt auf Machiavelli hin: Entgegen der allgemeinen Auffassung im 18. Jahrhundert, daß gute Politik nicht gegen die Gesetze der Moral verstoßen dürfe, ging Schiller auf den machiavellischen Gebrauch zurück, der "gut" und "böse" in der Politik auf den funktionellen Sinn als Ermöglichung oder Schädigung politischer Existenz reduziert. Im Sinne Machiavellis stehen Schillers "Staatskunst" und "Staatsklugheit" außerhalb der ethischen Sphäre.

Voltaire - Montesquieu [35]

Die Phraseologie der früheren historischen Schriften erinnerte Fueter an Rousseaus contrat social, je mehr Schillers Ansichten dann "reiften, um so weniger

[blieb er] bei der unklaren und schwärmerischen Formulierung stehen." [36] Darüber hinaus sind besonders Voltaire und Montesquieu hervorzuheben. Montesquieus

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Schrift Sur la grandeur et décadance des Romains las Schiller mit großem Enthusiasmus, Montesquieu unternahm - als einer der ersten - darin den Versuch, in den Ursachen des Verfalls der römischen Republik allgemeine historische Entwicklungsgesetze zu erkennen. Mit der induktiven Methode versuchte er sich "in philosophischer Weise über das Einzelne der geschichtlichen Ereignisse [...] zu erheben", [37] und dieses damit für die Nachwelt fruchtbar zu machen.

Als Voltaires Hauptverdienst muß man es ansehen, daß er überall auf ein "eigenes, selbständiges Urtheil hinzielt" und die "Vernunftmässigkeit als oberstes Princip der Geschichtsschreibung" ansieht. So bestimmte er als erster mit Nachdruck, "dass man in der Geschichte nicht blos Könige und Länder betrachten, sondern auf das eigentlich Bestimmende, Eigenthümliche und Wesentliche in dem Gange der Weltbegebenheiten" [38] näher eingehen müsse.

Diese Ansichten Montesqieus und Voltaires haben schon den Abfall der Niederlande wesentlich geprägt.

Abfall der Niederlande

Dieses Fruchtbar-machen-wollen für die Nachwelt war auch Schillers Zielsetzung gewesen, als er in der Einleitung zum Abfall der Niederlande schrieb:

Die Kraft also, womit es [das niederländische Volk] handelte, ist unter uns nicht verschwunden; der glückliche Erfolg, der sein Wagestück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen. [39]
Überhaupt scheint sein erstes geschichtliches

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Hauptwerk auf den ersten Blick sehr untypisch für Schiller zu sein, weil es ihm in dieser Geschichte nicht "um hervorragende, kolossalische Menschen", auch nicht um "erstaunenswürdige Taten, die uns die Geschichte vergangener Zeiten in so reichlicher Fülle darbietet" [40] ging, sondern um ein Volk, das - wie Schiller sagte - von sich aus gar nicht heldenmütig veranlagt, unter dem Druck der spanischen Willkür und dem Terror der Inquisition einen großen Freiheitskampf unternahm. Die Art des Stoffes zwingt zwar dazu, das Volk in den Mittelpunkt zu stellen, doch hatte sich Schiller diesen selbst gewählt. Daß der Schlüssel geschichtlicher Veränderung trotzdem innerhalb des Individuums zu suchen ist - die klassische Auffassung, die er einige Jahre später in den Philosophischen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen niederschreibt - ersieht man u.a. aus den Stellen, wo er die "Spontaneität" der Niederländer brandmarkt: "Die gute Sache hat den schlimme» Weg der Rebellion wählen müssen." und aus seiner Ablehnung des Bildersturms, den er mit der Wendung: "viehische Unterdrückung müsse viehisch" machen immerhin entschuldigt. Daraus resultiert nach seiner später artikulierten Auffassung, daß der Mensch - als Individuum als auch als Gattung - nur dann politische Fortschritte erzielen kann, wenn alle Fähigkeiten und Neigungen ausgewogen berücksichtigt werden. [41] Eine Rebellion trägt aber in keiner Weise zu einer allseitigen Menschenbildung bei, im Gegenteil; Krieg, Rebellion (auch wenn sie berechtigt ist) ist ein Rückfall in den "Notstaat", d.h. der Mensch kommt nicht nur nicht vorwärts, sondern er fällt in sein Frühstadium, in dem er von den Instinkten geleitet wird, in die Dumpfheit zurück. Das zeigt aber auch, daß die

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Ablehnung von Rebellion und Bilderstürmerei nicht in einem konservativ legitimistischen Denken begründet ist [42], der niederländische Freiheitskampf zwar dem stürmischen, freiheitsliebenden Charakter Schillers entspricht, mit der sich bei ihm bildenden Theorie aber eigentlich unvereinbar ist. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner gab den Ausschlag zugunsten dieser Theorie. Auch die folgenden Jahre zeigen, daß das Individuum die zentrale Kategorie blieb: das Individuum als Einzelausgabe der Gattung, nicht als ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Veränderung seiner Kulturstufentheorie in den Jahren 1789-92 sind ein deutlicher Beweis dafür.

Die Jahre 1789-92

Die Anschauung, die der junge Schiller von seinem Jahrhundert hatte, ist bekannt: emotional bestimmte Ablehnung des "tintenklecksenden Säkulums". In dieser Weise äußert er sich auch im Abfall der Niederlande, also etwa 1787/88. Dann findet man erst wieder 1793 Einschätzungen, die zwar differenzierter, aber im Tenor doch mit den früheren identisch sind.[43] Im Januar 1793 schrieb er nämlich in seinen Marginalien zu Wilhelm v. Humboldts Über das Studium des Altertums und des griechischen insbesondere von drei "Momenten" (dem Hegelschen Dreierschritt: Thesis, Antithesis, Synthesis nicht unähnlich), die Schiller im Erfahrungsprozeß unterschied und mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit korrespondieren ließ:

1. Der Gegenstand steht ganz vor uns, aber
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verworren und ineinanderfließend.

2. Wir trennen einzelne Merkmale und unterscheiden. Unsere Erkenntnis ist deutlich, aber vereinzelt und borniert.

3. Wir verbinden das Getrennte, und das Ganze steht abermals vor uns, aber jetzt nicht mehr verworren, sondern von allen Seiten beleuchtet.

In der ersten Periode waren die Griechen.

In der zweiten stehen wir.

Die dritte ist also noch zu hoffen, und dann wird man die Griechen auch nicht mehr zurückwünschen. [44]

Die frühe erlebnis- und empfindungsbedingte Ablehnung weicht (nach 92) einer theoretisch fundierten Auffassung, die einen fragmentarischen Fortschritt gegenüber dem Altertum anerkennt und diesen noch unbefriedigenden Zustand als notwendiges Stadium begreift. [45]

Zwischen diesen beiden Phasen liegt ein deutlicher Bruch innerhalb der Schillerschen Auffassung. Die Gründe für diesen Bruch könnten darin liegen, daß die Wünsche des an den politischen Ereignissen anteilnehmenden Schiller in der ihm eigenen vehementen Art die Realität überholte: ein euphorischer Höhenflug, der durch die ersten Ereignisse der Französischen Revolution Bestätigung zu finden schien; eine Entwicklung, die durch Goethe und insbesondere durch dessen Iphigenie stark in diese Richtung gelenkt wurde. Goethe habe sich ganz "der griechischen Form zu bemächtigen gewußt" und sie "bis zur höchsten Verwechslung" [46] erreicht. Da sich Schiller zu der Zeit von den "modernen" Literatur abwenden

wollte, da sie nur vom Ich wegführe, muß schon von daher der Eindruck dieses Werkes besonders groß gewesen sein.

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Es gilt nun, diese Beobachtungen im Einzelnen zu untersuchen und den Nachweis für Schillers Umschwung zu führen, sowie die These einer Beeinflussung durch Goethes Werk zu untermauern.

In der Antrittsrede schrieb er folgende Sätze:

Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß haben. [47]
Diese Ausführung ist, aus dem Kontext heraus betrachtet, methodisch aufzufassen, kann aber, wenn man sie im Zusammenhang mit der Teleologie sehen will[48] , über diesen Rahmen hinausweisen. In der Tat sind diese Äußerungen - ohne daß man die unten erörterte Teleologie zu Rate ziehen muß - in Bezug auf die neue Zeiteinschätzung Schillers, eindeutig. Denn er sprach in einem Brief an Körner vom ,,Menschen in seiner jetzigen Vollkommenheit", das Gedicht Die Künstler gäbe ihm ,,Gelegenheit zu einer guten Schilderung dieses Jahrhunderts von seiner bessern Seite"[49] , die vorhergehenden Zeitalter hätten sich angestrengt, "unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen" [50] und sogar das dahinvegetierende Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Goethe im Faust verspottete [51], hält Schiller nun für eine positive Errungenschaft:

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Das Schattenbild des römischen Imperators, das sich diesseits der Apennien erhalten, leistet der Welt jetzt unendlich mehr Gutes als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom [...] [52]

In verzücktem Ton feiert er das Verhältnis der europäischen Staaten untereinander, sie seien mit ,,Innigkeit [...] ineinander verschlungen", durch ,,feierlichste Verträge verbrüdert", die europäische Staatengesellschaft scheine in eine ,,große Familie verwandelt", worin sich die Hausgenossen zwar anfeinden könnten, ,,aber nicht mehr zerfleischen." [53] 1791 waren die oben erwähnten ,,drei Momente" sogar anderen Kulturstufen zugeordnet: die Antike nach wie

vor als These, dagegen das Mittelalter als Antithese und seine Gegenwart als die Synthese. [54] Was er später in den Ästhetischen Briefen einer ferneren Zukunft zugedachte, wähnte er jetzt als schon erreicht: die in diesem Dreierschritt dialektisch überwundene Antike, so daß die Geschichte ,,uns von der übertriebenen Bewunderung des Altertums und von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten" heile. [55]

Zur genauen Analyse muß auf seine (Kunst-) Philosophie eingegangen werden, insbesondere auf den schon erwähnten 6. Ästhetischen Brief. Ziele und Möglichkeiten

- so schreibt er dort - klafften im antiken Griechenland kaum auseinander, so daß das allgemeine kulturelle Niveau keine

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erheblichen Differenzen aufwies.[56] Als Preis für die Einheit der antiken Kultur nannte er den ihr immanenten Verzicht bzw. die Unmöglichkeit, auf Wissensgebieten speziellere Erkenntnisse zu erlangen: jegliche Zielsetzungen lagen im erfüllbaren Bereich. Das änderte sich im Laufe der Jahrhunderte:

Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser. [57]

Das Ziel dieser kulturellen Entwicklung sei dann erreicht, wenn - man vergleiche mit dem dialektischen Dreierschritt - auf dem neuen Niveau der genauen Kenntnisse und Fähigkeiten der einzelne Mensch nicht mehr ,,Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft" [58] sei, sondern alle diese Ansätze in sich vereinigt habe. Und, beginnend mit den Individuen, müssen Dichter eine Kunst schaffen, die es dem Volk - genauer: dem wenig gebildeten Teil des Volkes [59] - ermöglicht, diesem Wege zu folgen: Volkskunst müsse die Gebildeten erfreuen und den Ungebildeten die Möglichkeit geben, durch einfache (d.h. klassische) Ausdrucksmittel, Bilder und dergleichen, den gleichen Weg der Abstraktion [60] von Inhalten, dem Verallgemeinern von besonderen Sachverhalten gehen zu können, wie es Gebildeten schon durch nicht - bzw. wenig-anschauliche Abhandlungen möglich ist. Damit würde eine Teilung in Gebildete und Ungebildete überwunden werden können.

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Unsere Welt ist die homerische nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen begegnen konnten. Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselbe ein sehr großer Abstand sichtbar, wovon die Ursache zum Teil schon darin liegt, daß Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredlung ein zusammenhängendes Ganzes ausmachen, mit dessen Bruchstücken nichts gewonnen wird. [61]
Und zu diesem Zeitpunkt schien es Goethe mit der Iphigenie gelungen, auf der ,,fragmentarischen Stufe" ein Werk zu schaffen, das nicht nur die bei den Griechen bewunderte Einheit aufwies, sondern diese sogar noch übertraf. [62]

Hier hat das Genie eines Dichters, der die Vergleichung mit keinem alten Tragiker fürchten darf, durch den Fortschritt der sittlichen Kultur und den milderen Ernst unserer Zeiten unterstützt, die feinste, edelste Blüte moralischer Verfeinerung mit der schönsten Blüte der Dichtkunst zu vereinigen gewußt und ein Gemälde entworfen, das mit dem entschiedensten Kunstsiege auch den weit schöneren Sieg der Gesinnungen verbindet und den Leser mit der höheren Art von Wollust durchströmt, an der der ganze Mensch teilnimmt, deren sanfter, wohltätiger Nachklang ihn lange noch im Leben begleitet. [63]

Die Folgerungen sind in sich konsequent: Was dem Individuum Goethe möglich war, mußte dem ganzen Volk in absehbarer Zeit auch möglich sein. Dazu sollte die klassische Literatur dienen, um das Niveau der Masse der Bevölkerung zu heben (Ästhetische Erziehung) und die Kultur damit "vom Individuum unvermerkt in die Gattung hinüberzuführen". Gestoppt wurde diese Gegenwartseuphorie durch die Ereignisse in

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Frankreich (Schreckensherrschaft, Hinrichtung Ludwigs XVI.), und die ihm als so günstig erschienene Perspektive der Individuen fand hier jäh einen Abschluß; die dritte Kulturstufe wurde wieder in die Ferne, in einen ,,Staat des schönen Scheins" entrückt.

Soviel zur Begründung der Persönlichkeitsorientierung als Ursache dieses Anschauungswechsels.

Kant

Die Lektüre der historischen Versuche Kants zählt zu den wichtigsten Einflüssen auf Schillers Geschichtsphilosophie[64] , wobei Voltaire und Montesquieu über Kant noch einmal wirkten. [65] Für seine These, ,,die Geschichte der Menschengattung im grossen als die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur an[zu]sehen" [66], wonach eine Staatsverfassung hervorgebracht werden würde, in der der Einzelne in möglichster Freiheit alle seine natürlichen Anlagen entfalten könne, setzte er das Axiom, daß man keine übernatürliche Leitung der Geschichte anzunehmen brauche. Diese Teleologie, die eines ,,begreifbaren und vernünftigen Sinn" entsprechen sollte, zeigt mit der Vernunftbetonung ihre alternative Stellung zur theistischen Religion, die in den Bereich der Mystik verbannt werden sollte. Das Problem lag darin, die ,,transzendente" Religionsauffassung mit Hilfe der Vernunft zu modifizieren: das Bild eines wundertätigen Gottes oder

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des korrigierend eingreifenden Arm Gottes wurde als Erklärungsmodell abgelehnt. Es galt, den Gedanken von der besten der möglichen Welten" (1. Modifikation des Theismus) in eine neue Form zu überführen, die einmal der Realität des aufkommenden bürgerlichen Denkens Rechnung trug, dazu aber nicht auf die Ersatzlösung des "Jenseits" verfallen mußte. Die Lösung war eine Teleologie, die in der Entwicklung hin zu einer besseren Welt den vernünftigen Erwägungen am meisten entsprach: eine Utopie, die, im Gegensatz zur "Jenseits" - Lösung, von der Gegenwart allein zeitliche Distanz besaß, wenn die Vorstellungen einmal verwirklicht werden konnten: "anstelle der theologisch-orthodoxen Transzendenz (wurde) die Immanenz der Humanität gesetzt." [67]

Der Unterschied zwischen Kants und Schillers Teleologieanschauungen besteht darin, daß sich bei Kant die Natur nach einem verborgenen Plan entwickelt, bei Schiller ,,die Vernunft der Geschichte [...] dem Menschen anvertraut" [68] ist. In beiden Ansätzen ist die Alternative zu jeder Handlung gewahrt [69], womit die Erfüllung der Teleologie eine unendliche Dimension erhält. Danach schreitet die Geschichte nicht geradewegs auf das Ziel zu, sondern ,,experimentiert mit den verschiedensten Formen" [70] , Seuchen sind danach beispielsweise kein Fluch Gottes mehr, sie dienen vielmehr auch dazu, die medizinischen Erkenntnisse voranzutreiben. Wahrung einer Handlungsalternative und Verlegung des Teleologieziels in die Unendlichkeit sind von essentieller Bedeutung, da es sich sonst nur um eine Umbenennung des Theismus gehandelt haben würde. So aber ist die Handlungsalternative Voraussetzung für eine rhetorisch orientierte Schreibweise, und die Aufgabe

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rhetorisch durchgearbeiteter Schriften liegt darin, den Gang der Geschichte zu ,,beschleunigen", die Zahl der Irrwege der Menschheit zu verringern, durch Aufklärung (docere) über und Affektbindung (movere) an die erstrebten (Fern-) Ziele.

Die Verbreitung der Teleologie war das Ende der Vorherrschaft der Religion über die Philosophie, die die Kirche noch wenige Jahrhunderte zuvor mit dem Scheiterhaufen verteidigt hatte und war somit ein mächtiger ideologischer Einschnitt. Das hinderte spätere Kritiker allerdings nicht daran, die ,,rächende Nemesis" - einer aus der antiken Religion entlehnten und dem Theismus entsprechenden Ideologie als Schillers Auffassung zu bezeichnen. [71] Wenn auch nicht bestritten werden kann, daß sich Schiller selbst dieses Ausdrucks bediente, so ist es aber unangebracht, hier textimmanent zu verfahren, da die Begrifflichkeit im 18. Jahrhundert zu ungenau ist. An einer Stelle spricht Schiller z. B. im Zusammenhang mit dem Tod Gustav Adolfs von der Nemesis [72] und meint zweifelsfrei den subjektiven Glauben des schwedischen Königs. Eine andere Stelle, im Zusammenhang mit Wallenstein, ist dagegen problematischer: ,,die rächende Nemesis wollte, daß der Undankbare unter den Streichen des Undanks erliegen sollte". [73] Die ideologische Position der ,,rächenden Nemesis" widerspricht eindeutig der Teleologie, außerdem ist die ,,große Natur", von der er im Zusammenhang mit Gustav Adolfs Tod spricht, ein Begriff aus Kants Teleologie. Daraus ergibt sich, daß es sich viel eher um die rhetorische Figur der personificatio handeln dürfte. [74]

Der Kantsche Analogieschluß, den Schiller in

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seiner Antrittsvorlesung mit äußerster Vorsicht empfiehlt, ist - welch Ironie für den Rhetorikverächter Kant - der Topik, einem Bereich der Rhetorik zuzuordnen. Eine zeitgenössische Definition von Sulzer lautet:

Es giebt überhaupt zwey Wege, eine Sache zu erweisen: die Erfahrung, und die Vernunftschlüsse. Beweise durch Vernunftschlüsse nennten die Alten überlegte, durch Kunst geführte Beweise, da sie die, welche aus der Erfahrung genommen werden, unkünstliche hießen. Diese sind Zeugnisse, Documente und Schriften. Die Quellen der andern sind mannigfaltig, und bedürfen einer nähern Erforschung. [75]
Johann Caspar Friedrich Manso (1760-1826) verspottete dagegen diese Methode in Schillers Abfall der Niederlande [76]: ,,Alles weiß er, als hätt' er im Rathe der Fürsten gesessen." [77] Der Analogieschluß ist ein ,,wichtiges Hilfsmittel", so Margarete Henschel, ,,stoffliche Diskontinuität grundsätzlich aufzuheben, die mit dem Geschichtsideal unverträglich ist" [78] und kein Subjektivismus, der die Lücke der Überlieferung mit den Gebilden der eigenen Phantasie ausfülle, wie Janssen gemeint hat.

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C. Rhetorische Aspekte der Schreibweise

Fester und Kluckhohn sind - wie gesagt - die Einzigen, die sich intensiver mit rhetorischen Phänomenen in Schillers historischen Schriften befaßt haben, beide aber mit einem unterschiedlich eingeschränkten Rhetorikbegriff. Fester reduziert ihn auf die Verwendung von Reden, Kluckhohn auf Schmuck (ornatus) und Pathos. Rhetorik muß aber bedeutend weiter gefaßt werden, so muß darunter auch besonders die Beachtung des Publikums subsumiert werden, (aptum bzw. decorum), der Wille zum Unterrichten, zur Motivationsfindung, zur Orientierungshilfe für gesellschaftliches Handeln. Das alles gibt Schiller in der Vorrede zu den Räubern an:

Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen [...] [79]
Dabei wollte er, wie er 1795 schrieb, den Stil so einrichten, daß sich keine Langeweile (taedium) einstellt, was die Forderung leichter Faßlichkeit einschließt:
Auch der Geschichtsschreiber [...] muß die produktive Einbildungskraft des Lesers ins Spiel zu setzen wissen, und bey der strengsten Wahrheit ihr den Genuß einer ganz freyen Dichtung verschaffen." [80]
Von Schiller selbst hergestellte formale Bezüge zur Rhetorik finden sich allerdings kaum, da die sogenannte ,,Genieästhetik" die bewußte Tradition der Rhetorik zurückgedrängt hat, ,,Chrien und rhetorische Topiken thun nicht einmal die Dienste der Gängelwägen" [81] war die Meinung, und Sulzer riet

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zur Verbannung der

[...] mühsamen und schwerfälligen Aufzählung und Erklärung [...] der Figuren. Diese Materie dienet zur Beredsamkeit gerade so viel, als eine scholastische Nomenclatur der Ontologie zur Erweiterung der Philosophie dienet. [82]
Mit bilderreicher (Schubarth) und rhetorisch geschickter Sprache (Sulzer) wurde das System der Rhetorik abgelehnt; das nur zum Beweis, daß mit der Ablehnung der Chrien die Kunst der Beredsamkeit nicht einfach abstirbt. In einem Brief Schillers, in dem er Körner zur Mitarbeit an Übersetzung und Herausgabe der historischen memoires auffordert, nennt er vier Prinzipien, nach denen das vorliegende Material gesichtet und bearbeitet werden soll, er

fordert

1) Alles herauszuwerfen, was in der Geschichte nichts aufklärt, was bloßes Geschwätz, oder pedantische Mikrologie oder dergl. ist.
Das Lernen, Erfahren steht oben an, dazu soll das Gedächtnis nicht mit Spitzfindigkeiten strapaziert werden.
2) Charakteristische Kleinigkeiten vorzugsweise zu erhalten [...],
um dem Gedächtnis eine Stütze, ein Gerüst zu geben, wonach der gesamte Gedankengang anhand solcher ,,Kleinigkeiten" wieder rekonstruiert werden kann. Bekanntlich wird dem Gedächtnis (memoria) ein besonderer Platz innerhalb der Rhetorik angewiesen.
3) Der Verständlichkeit des Textes mit historisch-kritischen Anmerkungen nachzuhelfen.
[und]
4) Mit Freiheit zu übersetzen, daß die wörtliche Treue der Gefälligkeit des Styls nachgesetzt wird. [83]
Letzteres ist besonders traditionsbehaftet, da der Einheit-

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lichkeit des Stils die wörtliche Treue geopfert wird. Das ist heute, aber auch schon zu Anfang des 19. Jahrhunderte, ausgeschlossen. Schließlich meinte Schiller, sei es die Aufgabe, ,,dass man seine Materialien so wählt und stellt, dass sie des Schmuckes nicht brauchen, um zu interessiren." [84] Das Auffinden (inventio) und das Anordnen (dispositio) des Stoffes gehören zum rhetorischen Handwerk, die Absage an den Schmuck (ornatus) zeigt sein Bestreben, den Inhalt nicht zugunsten ,,eloquenter Tiraden" vergessen zu lassen, Rhetorik bleibt ihm immer nur ein Mittel.

Dies sind Ansätze einer Rhetorik der historischen Schreibweise, die sich übrigens bei Schubarth und Sulzer nicht finden lassen, lediglich Eschenburg widmet der historischen Schreibweise ein Kapitel, dessen Inhalt sich mit den Vorstellungen Schillers praktisch deckt.

Zur dispositio (Anordnung des Stoffes) gehören die Einteilung in Großabschnitte, die sich auf drei reduzieren lassen: die Einleitung (exordium), der Hauptteil (narratio) und der Schluß (peroratio, conclusio usw.). Exordium und narratio lassen sich auch in Schillers historischer Schreibweise ohne weiteres nachweisen, wobei die Reihenfolge von der ordo naturalis bestimmt wird, d. h. der Aufbau ist chronologisch. Die peroratio ist eher verkümmert, wird ersetzt durch in den Text integrierte Sentenzen, aber auch, besonders zum Ende der Bücher des Dreißigjährigen Krieges mit einem auf Persönlichkeiten bezogenen epilogus.

Das exordium ist besonders im Abfall der Niederlande in zwei Teilen, Vorrede und Einleitung, vom Hauptteil abgetrennt. Die Vorrede enthält Schillers persönliche Motivierung, die Begründung einer längeren Ausführung der

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Vorgeschichte und eine Stellungnahme zur Quellensituation. Nur die Einleitung ist als das eigentliche exordium anzusehen, denn ,,Ziel des exordiums ist es, die Sympathie des Richters (oder im weiteren Sinn: des Publikums) für den (parteimäßig vertretenen) Redegegenstand zu gewinnen." [85] Schiller knüpft daher an den beliebten Stoff seiner Zeit an: ,,Wenn die schimmernden Taten der Ruhmsucht und einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen [...]", um seinen Gegenstand als gleich interessant, und sogar als interessanter und hochwertiger zu bezeichnen: ,,[...] wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt." Durch diesen Vergleich weiß er eine weitere Bedeutung für die Leser aufzuzeigen, um ihnen (die ja auch zur ,,bedrängten Menschheit" gehören) einen Weg aus dieser Bedrängnis zu zeigen und die zu erzeugenden Affekte gegen die Herrschaft Philipps II. in den Niederlanden für die eigene Sache zu mobilisieren (movere):

[...] die Hülfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf zu siegen. [Und] in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung. [86]
Mit größtem Geschick führte er durch, was auch Sulzer für die ,,Ankündigung" gefordert hat:
In redenden Künsten kann diese vortheilhafte Lage des Geistes durch eine geschikte Ankündigung des Inhalts hervorgebracht werden. Dadurch wird der Aufmerksamkeit die nöthige Spannung gegeben, und sie wird zugleich dahin, wo es die Absicht des Künstlers erfordert, gerichtet. [87]
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Eschenburg verlangt für den Beginn eines Geschichtsvortrags, daß er ,,zugleich ihre Aufmerksamkeit und Theilnehmung zu erregen sucht." [88] Wiese nimmt keine Unterscheidung von exordium und narratio vor, so registriert er jedoch Unterschiede:

Schillers Stilwille ist dann nicht mehr so eindeutig. Sentenzenhafte Deutung und rhetorische Akzentuierung verlieren an Bedeutung; der Erzähler überläßt den Leser mehr sich selbst und berichtet mit jenem sachlichen Realismus, der nicht mehr durch hinreißenden Vortrag bestechen will. [89]
Stilprobleme

Die Ausführung des Stoffes (narratio) ist im Abfall der Niederlande und im Dreißigjährigen Krieg sehr unterschiedlich. Die Begründung liegt nicht allein in dem unterschiedlichen Niveau (äußeres aptum), das er voraussetzt; es ist die Entwicklung seines Stils.

In Ansehung der Schreibart gehört die Erzählung [der Geschichte] mehrenteils zu der mittlern der oben angeführten drei Gattungen des Styls, die sich durch gemäßigten Schmuck über die niedre Schreibart erhebt, wenn sie sich gleich nicht bis zum Gebiete des erhabenen Ausdrucks hinauf schwingt. Jener Schmuck wird zum Theil schon durch die Beschaffenheit des historischen Stofs, durch die Gedanken und deren Wendung, veranlasst, theils durch die erforderlichen Schilderungen der Charaktere, der Scenen, wo die Begebenheiten verfielen, der dabei thätigen Gemüthsbewegungen, der rührendsten Situationen, u. s. f. [90]
Man müsse einräumen, schreibt Schiller 1788, daß es für ihn keine leichte Sache sei, sich ,,in der H i s t o r i e so schnell der p o e t i s c h e n Diktion zu entwöhnen" [91]

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und wenig später: ,,Mein eigener Stil ist noch nicht historisch und überhaupt noch nicht einfach". [92] Das bedeutet allerdings nicht, daß er sich von der Orientierung an rhetorische Gesichtspunkte lösen wollte bzw. löste. Die Veränderung seines Stils verläuft rhetorisch-immanent: Er verzichtet auf entbehrlichen Schmuck (seine rhetorische Manier), da dieser oft die Grenze zum Schwulst überschreitet (Verletzung des gestus, des inneren aptums), ohne auf notwendige schmückende Beiwörter (Epitheta) zu verzichten, sofern sie nicht verdunkeln, sondern den Stil erhellen. [93] Er vereinfacht dadurch seinen Stil, verlagert die Überzeugungsherstellung tendentiell von einem bildhafteren zu einem mehr argumentatorischen Stil.

An die Stelle des dramatischen Pathos und die sympathisierende Identifizierung des Dichters mit seinen Helden tritt auch hier das objektive Verständnis für die wechselvollen Bedingungen und Notwendigkeiten, denen beide Seiten unterworfen sind. [94]
Schiller strebt vom ,,asianischen" zum ,,klassischen" Stil, wenn man antike Kategorien in Anwendung bringen will. Anhand der Kürzungen in den Neuauflagen des Abfalls der Niederlande (1801) und des Dreißigjährigen Krieges (1802) läßt sich diese Stilveränderung sehr gut verfolgen. [95]

Im Streben nach Verdeutlichung und Vereinfachung des Ausdrucks werden pathetisch klingende Worte ersetzt, z.B. ,,verwegener Geist" durch ,,unruhigen Geist", die beiden weiteren Beispiele erwecken allerdings den Verdacht einer

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politischen Kurskorrektur: ,,damals der ritterliche Geist des Adels" wird durch ,,kriegerische Politik jener Zeiten" und ,,Die Geistlichkeit erschlich sich unvermerkt ein souveränes Dasein" durch ,,errang sich bald ein eigenes unabhängiges Dasein". [96]

Insbesondere wurden die gehäuften Appositionen gestrichen: "so reif (so kühn und so herrlich)", ,,den hundertsten (und tausendsten) Teil", die ,,weitläufigsten (und lautesten) Anstalten" [97] usw.

Überflüssige Epitheta, wie ,,die (fürchtende) Argwohn" [98] fielen auch unter die Kürzungen.

Am sorgfältigsten hat Schiller die Charakteristiken vorgenommen, denen sein Hauptinteresse galt, die darum 1788 besonders viel rhetorischen Schmuck erhalten hatten und in denen nun am meisten zu streichen war. [99]
Es ist jedoch nicht alles, was diesen Kürzungen entsprach, ausgemerzt worden. Eine von einem Rezensenten der Allgemeinen Litteratur Zeitung beanstandete Wendung, die ihre Tendenz überscharf betont, blieb stehen: ,,in dem schlammigten Schoß einer verworfenen Pöbelseele". [100]

So ergibt die Sichtung dieser Änderung aus dem Abfall der Niederlande (die Änderungen im Dreißigjährigen Krieg sind ähnlich, ihre Anzahl jedoch geringer), daß ,,überladene Bilder, pathetische Epitheta, pleonastische Sätze und anderes mehr" [101] nach wie vor enthalten sind. Warum er manche Änderung nicht vorgenommen hat, begründet er in der Vorrede zu einer Neuauflage (1792) der kleinen prosaischen Schriften, in die auch die kleinen historischen Schriften aufgenommen worden sind:

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Bei den mehresten der hier abgedruckten Aufsätze möchte, wie ich gar wohl einsehe, eine strengere Feile nicht überflüssig gewesen sein; und es war auch anfangs meine Absicht, Ton und Inhalt meiner gegenwärtigen Vorstellungsart gemäßer zu machen; aber ein veränderter Geschmack ist nicht immer ein besserer, und vielleicht hätte die zweite Hand ihnen gerade dasjenige genommen, wodurch sie bei ihrer ersten Erscheinung Beifall gefunden haben. [102]
Von den Kürzungen, wovon jetzt noch einige Sätze erwähnt werden sollen, ist im Abfall der Niederlande eine größere "Abschweifung" (digressio) über das Konzil zu Trient betroffen, in der Regel treffen die Satzkürzungen auch nur den nicht erforderlichen Schmuck, wie z. B. diesen sentenzartigen Satz:
Der Weg, auf welchem sie dahin gelangte, war der nämliche, den die Pest aus dem Oriente geht, den Weisheit und Torheit zu uns wandeln - der Weg des Handels. [103]
oder diesen halb verdunkelnden, halb allegorischen Satz:
Unglücklicherweise hatte der Kaiser, da er seinem Sohn die herrliche Blume pflanzte, auch schon den Wurm mit erzogen, der ihre Blüte zernagte. [104]
Es wurde auch ein Satz gestrichen, der weniger überflüssigen Schmuck, als vielmehr eine deutliche movere - Tendenz enthält:
Die Kraft also, womit es [das niederländische Volk] handelte, ist unter uns nicht verschwunden; der glückliche Erfolg, der sein Wagestück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen. [105]
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Und eine Streichung, die nach folgendem Satz folgt:

Die wiederholten Schauspiele der Marter und des Todes hatten die zarten Fäden der Sittlichkeit zerrissen und dem Charakter der Nation eine unnatürliche Härte gegeben. [106]
ist allerdings unverständlich, da hier kein Pleonasmus vorliegt:
Dadurch, daß sie alle Schrecken der menschlichen Natur auf diesen Henkerbühnen zur Schau stellte, und die Gemüter damit vertraut werden ließ, verscherzte die Regierung ihren mächtigsten Talisman, die Furcht des Verborgenen. Jetzt hatte das Verbrechen keine Schrecken mehr im Hinterhalt; das Auge zählt sie, Gewohnheit entwaffnet sie, und die Vernunft konnte sie wägen. [107]
Vielleicht fällt es aber auch unter das ,,zu taktische". [108]

Inkonsequenzen lassen sich allerdings auch daraus erklären, daß man ,,ein festes Verhältnis zur Rhetorik", [109] sprich: Stil, von Schiller nicht erwarten darf, da es ihm an einem festen Vorbild fehlte [110] und ihm daher oft unter dem Eindruck seiner jeweiligen Lektüre mit seinem Stil experimentierte. Als Beispiel führe ich zwei Sätze an, die sonst gemiedene Latinismen enthalten:

Mehrere Prinzen und auswärtige Gesandte waren mit ihm in dieser Stadt erschienen, um der Größe Gustav Adolfs zu huldigen, seine Gunst anzuflehn oder seinen Zorn zu besänftigen. [111] [...] entriß [Gustav Adolf] erst die Reichsstadt Augsburg dem bayrischen Joche, nahm ihre Bürger in Pflichten und versicherte sich ihrer Treue durch eine zurückgelaßne Besatzung. [112]
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Wenn man das im zweiten Beispiel stehende ,,Bürger in Pflichten nehmen" als Eindeutschung akzeptieren kann, erinnert das ,,versicherte sich ihrer Treue [...] durch Besatzung" sehr an die zynische Siegerdiktion Cäsars, der feindliche Dörfer überfiel, zerstörte und das befrieden (pacatus) nannte.

Einige rhetorische Figuren

Um auf die Eigenheiten der bei Schiller vorhandenen Stilelemente einzugehen, seien hier einige wichtige Figuren näher beleuchtet.

Die wichtigste bei Schiller zu betrachtende Figur ist das ,,Bild", das zudem zahlreiche Unterformen besitzt: Gleichnis, Beispiel, Vergleich, Symbol, Metapher, Allegorie, Parabel usw.

Die Bilder veranlassen ein anschauendes Erkenntniß der abgebildeten Sachen; sie geben den abstrakten Vorstellungen einen Körper, wodurch sie faßlich werden. Gedanken, die wegen der Menge der dazu gehörigen Begriffe schwerlich mit einem Blik könnten übersehen werden, lassen sich dadurch festhalten. Also dienen die Bilder überhaupt, die verschiedenen Verrichtungen des Geistes zu erleichtern. Hiezu kömmt noch, daß das Vergnügen, welches allemal aus Bemerkung der Aehnlichkeit zwischen dem Bild und dem Gegenbilde entsteht, die Eindrüke desto lebhafter und unvergeßlicher macht. [113]
Durch das Bemühen um Allgemeinverständlichkeit machte Schiller die historischen Schriften auch weniger Gebildeten zugänglich, eine heutige Definition verschließt sich jedoch gegenüber dieser Dimension: das Bild wird dem ,,theoretischen Schrifttum" vorenthalten und auf das ,,Sprachkunstwerk" beschränkt. ,,Bildhaftigkeit", so schreibt Wilpert, ,,gestattet

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e[ine] eigene Dingwelt in lebendiger Fülle, und zwar e[iner] Welt, die sich ohne äußere Realität erst durch sie und in ihr entfaltet." [114] Das trifft für Schillers Schreibweise eindeutig nicht zu, da Wilpert sprachliche Bilder zu einem gedanklichen Fluchtraum reduziert. Den Bildern kommt nach dieser germanistischen Ideologie keine Lernfunktion zu, lediglich der ornatus bleibt mit einer imaginären Dimension. Durch Schillers Verwendung der Bilder gewinnen die Texte zwar an Anschaulichkeit, verlieren aber auch, und das haben schon die Zeitgenossen Schiller angelastet, an Exaktheit des Inhalts.

Von den Sonderformen des Bildes sei zunächst die personificatio erwähnt, die in einer teils formalen, teils inhaltlichen Beziehung zur Persönlichkeitsdarstellung und zur personifizierenden Geschichtsauffassung steht. Letztere sind aber wegen ihrer besonderen Problematik in einem getrennten Abschnitt behandelt. Die personificatio ist eine ,,Vermenschlichung" schwer vorstellbarer Abstrakta, sie ,,verleiht [u.a.] stummen Dingen Rede und Bewegung" [115] und findet sich in großem Umfang in Mythologien und in primitiven Religionen: Donnergott und die Musen, die richtende Nemesis und der allgewaltige Arm Gottes zählen zu den vielfältigen Modifikationen. Auf niedriger kultureller Stufe dienen sie zur Fixierung unerklärlicher (Natur-) Phänomene und der Absorbtion von Ängsten, [116] auf höherer Kulturstufe verbleibt ihr lediglich noch die Schmuckfunktion. In den ästhetischen Vorlesungen gibt Schiller selbst eine erschöpfende Definition der personificatio:

Der Dichter hält sich an das Sinnliche, um das Nichtsinnliche anschaulich zu machen, und sucht durch ähnliche Bilder ähnliche Gemütszustände
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zu erregen [...]. Personalität ist ferner der Ersatz, welcher dem Naturgegenstande für das gegeben wird, was er durch die abstrakte Sprache einbüßt. Die Sprache, die an solchen Personifizierungen reich ist, ist eine dichterische Sprache. So stellte die griechische Mythologie fast alle Handlungen der Natur als Handlungen freier Wesen dar und ist der Dichtkunst beinah unentbehrlich geworden. [117]
Ein Beispiel ist der Satz: ,,Der erste Gesetzgeber ist die Not"[118] , auch: ,,Dennoch würde die Empörung nur schüchtern und still am Boden gekrochen sein, hätte [...]" [119] und:

,,Dem geringen Mann erscheint [die Religion] als Trösterin, als Erretterin". [120] So führt Schiller auch die ,,richtende Nemesis" als Stilelement, als personificatio, ein und verwirrt damit seine späteren Interpreten. [121]

Das Beispiel und der Vergleich bilden die wohl verbreitetsten Formen des ,,Bildes".

In der engern Bedeutung aber ist es [das Beispiel] ein besonderer Fall, in der Absicht angeführt, daß das Allgemeine der Art oder Gattung, wozu er gehört, mit Vortheil daraus erkennt werde. [...] Im Grunde ist es eine Beweisart durch Induction, und die beste Art zu überzeugen. [122]
Während das Beispiel meist ein Sonderfall eines Vorfalls ist, erhellt der Vergleich den Sachverhalt durch bestimmte Ähnlichkeiten in der Struktur eines sonst anders gelagerten Falles. An der Stelle, an der Schiller den Unterschied in der Finanzierung des Krieges durch Philipp II. einerseits und die Niederländer andererseits erläutert, beendet er die Ausführung mit einem Vergleich; dem einen als bloßes Vergnügen, dem andern als Verständnishilfe in politischer

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Ökonomie:

Spanien führte diesen kostbaren Krieg mit totem unfruchtbarem Golde, das nie in die Hand zurückkehrte, die es weggab, aber den Preis aller Bedürfnisse erhöhte. Die Schatzkammer der Republik waren Arbeitsamkeit und Handel. Jenes verminderte, diese vervielfältigte die Zeit. In eben dem Maße, wie sich die Hülfsmittel der Regierung bei der langen Fortdauer des Krieges erschöpften, fing die Republik eigentlich erst an, Ernte zu halten. Es war eine gesparte dankbare Aussaat, die spät, aber hundertfältig wiedergab; der Baum, von welchem Philipp sich Früchte brach, war ein umgehauener Stamm und grünte nicht wieder. [123]
Durch Assoziationen an den Tod, hervorgerufen durch den umgehauenen Baum, werden noch zusätzliche Emotionen geweckt. Überhaupt ist der ganze Abfall der Niederlande durch die Art, wie Schiller diesen Kampf vermittelt, wie er von möglicher Nachahmung spricht, auch insgesamt als ,,Beispiel" anzusehen.

Es gibt auch Sätze, in denen - von der rhetorischen Theorie her betrachtet - ein Konglomerat von Figuren (Allegorie und Synekdoche) sentenzartig verknüpft ist:

Der Soldat (um das Elend jener Zeit in ein einziges Wort zu pressen), der Soldat herrschte, und dieser brutalste der Despoten ließ seine eignen Führer nicht selten seine Obermacht fühlen. [124]
Im Grunde ist auch die Anekdote als ein Beispiel besonderer Art anzusehen, zu Wallensteins Tod bringt er einig Anekdoten zur Charakterveranschaulichung. [125]

Die Sentenz ist ,,ein kurzer in der Rede beyläufig angebrachter Satz, der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthält", [126] dem Epimythion (fabula docet) der antiken Fabel entsprechend. Relativ oft fällt eine Sentenz

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den Streichungen zum Opfer, so etwa im Abfall der Niederlande:

Von diesem Charakter, wußte er, konnte man mehr erhalten, wenn man ihn wahrnehmen ließ, daß man mehr von ihm erwarte [...] [127]

Andere gestrichene Sentenzen haben dagegen einen stark abschweifenden Charakter (digressio), so daß sich nicht einmal die ornatus - Funktion erfüllt. [128]

In einer Vorlesung über die Gesetzgebungen Lykurgs und Solons findet sich eine Figur, die außerordentlich stark auf die Zuhörer gewirkt haben mag, da er in der Schilderung der Vorzüge des Lykurgischen Entwurfs eine Überzeugungsübereinstimmung simuliert, die durch die folgende ,,Richtigstellung" zu (selbst-) kritischem Denken erzieht, begleitet und betont durch Emotionalität der Betroffenen durch das sich aufdrängende Gefühl des Reingefallen-seins. Es ist die correctio, [129] und zwar die Richtigstellung im nachhinein: correctio postquam dixeris. [130]

Man muß also eingestehen, daß nichts Zweckmäßigers, nichts durchdachter sein kann als diese Staatsverfassung, daß sie in ihrer Art ein vollendetes Kunstwerk vorstellt und, in ihrer ganzen Strenge befolgt, notwendig auf sich selbst hätte ruhen müssen. Wäre aber meine Schilderung hier zu Ende, so würde ich mich eines
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sehr großen Irrtums schuldig gemacht haben. Diese bewundrungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich, und nichts Traurigers könnte der Menschheit begegnen, als wenn alle Staaten nach diesem Muster wären gegründet worden. Es wird uns nicht schwerfallen, uns von dieser Behauptung zu überzeugen. [131]
Ganz offensichtlich geht die rhetorische Durchkonstruierung der Stücke so weit, daß sich sogar der Satzbau an den Inhalt anpaßt. Wiese untersucht die Sprache anläßlich des Bildersturms im Abfall der Niederlande:
Die Schilderung des Bildersturms setzt mit einer weit ausholenden Periode ein und steigert sich dann zu höchster Konkretheit, Satz wird mit Satz parataktisch lose verbunden, so daß die Ereignisse geradezu wie Keulenschläge auf den Leser niederprasseln. Im dritten und vierten Buch finden sich sonst weit kompliziertere Satzgebilde, die einem verwickelteren Geschehen entsprechen. [132]
Soweit einige wichtige der von Schiller verwendeten Figuren, mit dem nachfolgenden Abschnitt über Persönlichkeitsdarstellung wird dieser Komplex vervollständigt.

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D. Persönlichkeitsdarstellung

Problematik

Die persönlichkeitsorientierte Schreibweise - infolge ihrer Anschaulichkeit besonders geschätzt - war in der Antike innerhalb der historischen Schreibweise zumindest bedeutend, wenn nicht sogar dominierend. Zu den Gründen dieser Dominanz zählt besonders der Stand der Technik, insbesondere der der Kriegstechnik. Weit entfernt von anonymen Materialschlachten besaß der Feldherr, dessen taktische und strategische Pläne offensichtlich Mut verrieten, als Individuum Einfluß auf das Geschehen; wenn er zudem im Kampfe in erster Linie tapfer seinen Mann stand, konnte seine persönliche Bedeutung erheblich sein. Ein weiterer Grund, der sich auf die antiken Republiken beschränkt, ist die Bedeutung des Redners. Wer auf den Versammlungen gut reden, d. h. überzeugen konnte, sicherte sich damit einen großen Einfluß; eine Kombination aus Feldherr und Redner war besonders günstig. Gut-reden-können ist aber nicht nur in einem technizistischen Sinn zu verstehen, Voraussetzung war die persönliche Integrität des Sprechenden. Zur Ausbildung dieser Eigenschaften gab es die Rednerschulen, die in den rhetorischen Techniken unterwiesen und den Schüler nicht nur zu einem Redner (in dem heutigen eingeschränkten Sinn) ausbildeten; Ziel dieser Erziehung war eine wahrhaftige Persönlichkeit mit allseitiger Bildung: der vir bonus. Plutarch illustrierte an zwei Anekdoten, für wie wichtig diese Allseitigkeit gehalten wurde.

[Antisthenes sagt,] als er hörte, daß Ismenias ein trefflicher Flötenspieler wäre, sehr fein: ,,Er ist gewiß ein schlechter Mensch, denn sonst wäre er nicht ein so trefflicher Flötenspieler." Und Philipp sagte zu seinem Sohne, dem Alexander, der bey einem Gastmahle sehr anmuthig und kunstgemäß die Zither spielte: ,,Ey, schämst du dich nicht, so schön zu spielen?" [133]
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Man ging davon aus, daß der, der sich mit ,,niedrigen, geringfügigen Künsten" abgab, verrate, ,,daß er sich um das Gute und Schöne wenig bekümmert." [134] Die große Relevanz des Individuums in der Antike zog die Wertschätzung der Persönlichkeitsdarstellungen nach sich. So wird in der antiken Geschichtsschreibung Persönlichkeits- und Gesellschaftsdarstellung verwoben, was auf Grund der politischen Verhältnisse zu rechtfertigen war. Was aber in den antiken Republiken dem Abbild des Gemeinwesens entsprochen haben mag, wurde zur Ideologie. [135] Eine heute allerdings sehr verbreitete Ideologie, die, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, in der Erstellung eines Psychogramms Hitlers das Phänomen des III. Reiches, des Faschismus und des 2. Weltkrieges zu ergründen glaubt und meint, durch Ereignisse, die eine starke Beziehung zu persönlichen Auffassungen Hitlers besitzen (Judenverfolgungen), diesen Ansatz rechtfertigen zu können. Die Erkenntnis, daß dieser Ansatz falsch ist, ist keineswegs neu. Wesendonck berichtet das ,,ergötzliche" [136] Beispiel eines 1773 in zehnter Auflage erschienenen Lehrbuchs eines gewissen Essig, in dem die Verschwörung Catilinas so geschildert wird,

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dass ein verfluchter Mensch, Catilina, weil er nicht Bürgermeister worden, Rom in Brand zu stecken versuchte, dass aber die Verschwörung, von einer Hure Fulvia verrathen, durch Ciceronis Sorgfalt gedämpft sei. [137]
Wesendonck kritisiert, daß von den ,,krankhaften Verhältnissen" des römischen Staates und den ,,damaligen verdorbenen Zuständen der bürgerlichen Gesellschaft" in Rom, keine Rede sei, obwohl das Wissen um diese Zustände zur Beurteilung der Verschwörung unerläßlich sei. Die Kategorien eines Polybios: Machtgier, Eigennutz, Haß usw. reichen zur Beurteilung politischer Erscheinungen nicht mehr aus; neben dem Individuellen spielt das Gemeinwesen, die Gesellschaft eine zunehmend größere Rolle: das subjektive Moment in der Geschichte verliert an Bedeutung. In begrenztem Maße ist sich Schiller über dieses Problem klargewesen: er behält seine individuenorientierte Perspektive, die von ihm registrierte gegenseitige Abhängigkeit drückt er durch die polaren Begriffe ,,Freiheit" (das Individuum betreffend) und ,,Notwendigkeit" (bezogen auf natürliche und gesellschaftliche Bedingungen) aus. Die Bevorzugung des Individuellen läßt sich aus den politischen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts heraus erklären. Einmal ist es darin begründet, daß dem Bürgertum jede Möglichkeit politischer Praxis verschlossen war, da der Adel die Macht noch fest in der Hand hatte. Als Ausweg bot sich die individuelle Lösung an: Bildung und Sittlichkeit des Einzelnen als Vorstufe politischer Emanzipation. Dazu kam der große Einfluß des adeligen Erziehungsideals, das unter frühbürgerlichem Einfluß des Humanismus entstanden ist. Aus der

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steigenden Abhängigkeit des Adels vom reichen Bürgertum entstanden begrenzte Konzessionen an das Bürgertum, so die Tendenz einer Wandlung vom ,,Geburtsadel" zum "Leistungsadel", die bei den betreffenden bürgerlichen Schichten zur ,,Adaption feudaler Lebensweisen" führte. Die frühbürgerliche Bewegung selbst fand aus dem Mangel an bürgerlicher Selbsterfahrung, Mangel einer ,,eigenen, von ihr gestalteten Geschichte" [138] in den Idealen der antiken Republiken, in den Vorstellungen Ciceros und Quintilians ihre Vorbilder, und auf diesem Wege gelangten die antiken Erziehungsideale in die höfische Kultur. Das rhetorische Erziehungsideal des vir bonus wurde zu einer harmonischen Ausbildung aller Anlagen des Einzelnen. Innerhalb dieser ,,neuhöfischen" Kulturanschauung vollzog sich die Erziehung Schillers auf der Karlsschule und

[...] wird einen entscheidenden Einfluß auf das später von Schiller ,wieder-entworfene' Bildungsideal gehabt haben, seine Quintilian-lektüre könnte die Konsequenz solcher Erziehung sein. Denn eben jenes in der Institutio oratoria dargestellte Bildungsideal der Rhetorik hat durch Vermittlung der Popularphilosophie (Garve, Adelung) und des Humanismus überhaupt in das Erziehungsprogramm der Karlsschule Eingang gefunden und wird Schiller vor allem über seinen Lehrer Abel erreicht haben. [139]
Eine Literatur, die diesen Vorstellungen entsprach, mußte vorn gesellschaftlichen Ideal des Hofmanns, des Weltmannes handeln. Plutarch zählte nicht zuletzt deshalb zum Lieblingsschriftsteller des ancient régime, weil er diese Beschreibung - großer - Menschen lieferte. [140]

Die Mittelpunktstellung des Individuums entsteht also einmal aus der aktuellen Einsicht der politischen Machtlosigkeit des Bürgertums, die die Privatisierung

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des bürgerlichen Individuums einleitet; [141] zweitens aus der in der Geschichte schon stattgefundenen Anpassung, der Aristokratisierung des Bürgertums.

Dazu treten Momente, die in der Methodik der historischen Schreibweise begründet ist {sind}. Was die Methodik angeht, so lassen sich Vorgänge wie z. B. Wirtschaftsmechanismen in beteiligten und betroffenen Personen viel anschaulicher gestalten [142] und - sofern von der konkreten Darstellung abstrahiert werden kann - erzeugt sie auch nicht notwendig ein falsches Bewußtsein. Die personale Schilderung von Verhältnissen kann auch das Individuum als Brennpunkt, als ensemble der gesellschaftlichen Kräfte begreifen.

Zur Frage, wie Schillers Persönlichkeitsdarstellung auf dem Hintergrund dieser Problemstellung einzuschätzen ist, zeigt sich, daß etliche Kritiker überhaupt kein Problem sehen. Bonjour plaudert von der ,,Einzelpersönlichkeit" als dem ,,eigentlichen Sauerteig der Geschichte, Schiller ahne, ,,was aus den geheimen Tiefen der Persönlichkeit elementar aufsteigt." [143] Wiese begnügt sich mit dem Hinweis, daß Schiller "die Darstellung der Ereignisse in geschichtlichen Persönlichkeiten [...] konzentriert." [144] Fueter macht die Zuordnung zu einer ,,Schule" zur Scheinbegründung: ,,Er stellte wie die Klassizisten die Individuen in den Vordergrund." [145] Golo Mann löst das Problem fast

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ganz in ein künstlerisches auf: Schillers Bemerkung, daß mit dem Tode Gustav Adolfs und Wallensteins [146] die Einheit der Handlung verloren ginge und die folgenden vierzehn Jahre eine ausführliche Darstellung nicht verlohnten, zeige ihm, ,,wie sehr ihn auch in der Geschichte nach künstlerischer Einheit verlangte", und ,,wie ihm diese Einheit, dieser Sinn von den Helden kam". [147] Fricke geriet die Anmerkung zu diesem Punkt[148] zu einem Führerhymnus, der wenig mit Schiller, viel dafür mit unvergessener Vergangenheit zu tun hat.

Dieser Bereich des Politischen ist recht eigentlich das Feld, auf dem die großen und kleinen Leidenschaften Ehrgeiz, Machttrieb und Herrschsucht, Intrige, List, Täuschung und Verrat miteinander streiten. Aber in diesem Chaos selbst süchtiger Triebe und skrupelloser Mittel schlummern die großen Möglichkeiten für den, der überlegen an Geist und Kraft, zur Tat geboren und zur Herrschaft bestimmt, die Stunde ergreift und sich dienstbar macht. [149]
Dem gegenüber nehmen Kritiker des 19. Jahrhunderts, Wesendonck, Tomaschek und Überweg diesen Umstand sehr kritisch zur Kenntnis. Überweg schreibt, daß Schiller den Persönlichkeiten Lykurgs und Solons [150] manches zuschreibt, ,,was in der Volkssitte und in alten Rechtsgewohnheiten wurzelte". [151] Tomaschek nimmt eine genaue Einschätzung am Beispiel des Regierungswechsels im Spanien des 16. Jahrhunderts vor.
[Es ist richtig,] daß das persönliche Verhältniß des Monarchen zu den Niederländern unter Karl V. ein anderes gewesen, als dasjenige unter Philipp II. Aber schon eine ganz unrichtige
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Schlußweise ist es, wenn sofort der Grund dieser Erscheinung in rein persönlichen Eigenthümlichkeiten gesucht wird. Wir wissen gegenwärtig, wie die Unzufriedenheit des niederländischen Adels besonders daraus ihren Ursprung genommen hat, daß der wesentliche Einfluß auf Hof und Regierung, der unter Karl V. von den Niederlanden geübt ward, unter Philipp II. fast ausschließlich auf Spanien überging. [152]
Diese Kritik muß insofern eingeschränkt werden, als daß die Unzufriedenheit über den Einflußverlust des Adels - von Schiller übrigens berücksichtigt - ja ursächlich mit dem Regierungsantritt zu tun hat.

Darstellung

In der formalen Gestaltung der geschichtlichen Persönlichkeiten hat sich Schiller an die Tradition angelehnt. Im Abfall der Niederlande herrscht noch die Form der notatio vor, der Charakterbeschreibung an der Stelle, wo diese Person zum ersten Mal erwähnt wird; sie ist die weniger kunstvolle Form der Charakterbeschreibung, weil mit ihr der Handlungsablauf leicht gebrochen erscheinen kann. Die notatio ist in der Antike und im Mittelalter eine typische rhetorische Schreib- und Redeübung gewesen und stand der epideiktischen Beredsamkeit nahe; im Mittelalter wurde darin nicht das Charakterbild eines lebenden Menschen gezeichnet, sondern "das Ideal eines mit allen christlichen Tugenden geschmückten" [153] Menschen. Curtius sieht dagegen die notatio des Mittelalters mehr mit der Topik der Gerichtsrede verwandt. [154] Schiller ist der Epideiktik zwar nicht abgeneigt, [155] doch seiner aufklärerischen Einstellung entspricht die Gattung der Gerichtsrede. Als deutlichen Beweis dafür kann die Kurzgeschichte Verbrecher

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aus verlorener Ehre[156] gelten, worin vor der Verbrechensschilderung nicht nur die Entstehung des Verbrechens als dialektischer Prozeß persönlicher und gesellschaftlicher Einflüsse geschildert wird, sondern die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens betont und zum Verständnis der Entstehung des Verbrechens als unerläßlich bezeichnet wird. So kann Schiller zwar das persönliche Verhalten Philipps II. nachvollziehen, indem er seine Erziehung beschreibt; nachvollziehen - d. h. verstehen, was keine Billigung der resultierenden Taten einschließt. Beispiel für den ,,richtenden" Charakter einer notatio ist auch die Behandlung Granvellas: dieser ,,besaß alle Eigenschaften eines vollendeten Staatsmannes für Monarchien, die sich dem Despotismus nähern, aber durchaus keine für Republiken, die Könige haben." [157]

Mit dieser Verwandtschaft zur Gattung der Gerichtsrede entscheidet sich auch, ob die direkte oder die indirekte Form der notatio Anwendung findet, wobei zu bemerken ist, daß diese beiden Bezeichnungen aus der antiken Nomenklatur für heute zu undifferenziert sind, da sie viel stärker mit Inhalten verbunden sind, als die Bezeichnungen ahnen lassen. Der direkten Charakterisierung [158] entsprach die Zuordnung ,,böser" oder ,,guter" Eigenschaften, auch der ,,verfluchte Mensch Catilina" gehört dazu, d.h. undifferenziert wertende und aufklärerischem Bestreben entgegenlaufende Kategorien. Die indirekte Methode [159] - schwieriger und methodisch anspruchsvoller - verrät dagegen die Wertmaßstäbe des Verfassers, ist in der Einschätzbarkeit überhaupt unabhängiger vom jeweilige Autoren, da Umstände und Verhaltensweisen beschrieben werden, die im Fall der direkten Charakterisierung subjektiven Interpretationen weichen, die ,,der herrschende Wahn in jedem

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Jahrhundert anders verfälscht". [160] Im nachfolgenden Beispiel verbindet Schiller die direkte mit der indirekten Charakterisierung, was einer Aufhebung der verdunkelnden Tendenz der direkten bewirkt; der indirekte Teil ist in eine Anekdote [161] gekleidet:

[Wallenstein] übte die Folgsamkeit der Trupp durch eigensinnige Verordnungen und belohnte die Willigkeit, ihm zu gehorchen, auch in Kleinigkeiten mit Verschwendung, weil er den Gehorsam höher als den Gegenstand schätzte. [Soweit die direkte]

Einsmals ließ er bei Lebensstrafe verbieten, daß in der ganzen Armee keine andre als rote Feldbinden getragen werden sollten. Ein Rittmeister hatte diesen Befehl kaum vernommen, als er seine mit Gold durchwirkte Feldbinde abnahm und mit Füßen trat. Wallenstein, dem man es hinterbrachte, machte ihn auf der Stelle zum Obersten. [162]

Der Vergleich des Abfalls der Niederlande mit dem Dreißigjährigen Krieg ergibt, daß die ,,Porträts der führenden Gestalten [...] nicht mehr am Anfang, dort wo sie zum ersten Mal auftreten", erscheinen, sondern ,,durch die Handlung selbst herausgearbeitet" [163] werden, meist als Epilog (elogium) ein Schlußurteil darstellen. Dabei werden die Taten des Betroffenen oft moralisch gerichtet, wie z. B. im Falle Wallensteins: ,,bei allen seinen Mängeln noch groß und bewundernswert, unübertrefflich, wenn er Maß gehalten hätte." [164] Da der Epilog gegenüber der notatio als die schwierigere Form gilt, ist somit eine Vervollkommnung der historischen Schreibweise festzustellen. Zum interessantesten und meistbesprochensten Epilog Schillers gehört der zum Tode Gustav Adolfs. Das

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unangemessen große Lob Schillers für den Monarchen ist kritisiert worden, weil die Tendenz im Epilog von den wirklichen Motiven Gustav Adolfs weit entfernt ist. Es heißt dort u. a.:

Gestern noch der belebende Geist, der große und einzige Beweger seiner Schöpfung - heute in seinem Adlerfluge unerbittlich dahingestürzt, herausgerissen aus einer Welt von Entwürfen, von der reifenden Saat seiner Hoffnungen ungestüm abgerufen, läßt er seine verwaiste Partei trostlos hinter sich, und in Trümmern fällt der stolze Bau seiner vergänglichen Größe. Schwer entwöhnt sich die protestantische Welt von den Hoffnungen, die sie auf diesen unüberwindlichen Anführer setzte, und mit ihm fürchtet sie ihr ganzes voriges Glück zu begraben. [165]
Und dann folgt die bemerkenswerte Wendung innerhalb des Epilogs, in dem die persönlichen Motive des schwedischen Königs [166] in ein ganz anderes Licht gestellt werden.
Aber es war nicht mehr der Wohltäter Deutschlands, der bei Lützen sank. Die wohltätige Hälfte seiner Laufbahn hatte Gustav Adolf geendigt, und der größte Dienst, den er der Freiheit des Deutschen Reichs noch erzeigen kann, ist - zu sterben. [...] Unverkennbar strebte der Ehrgeiz des schwedischen Monarchen nach einer Gewalt in Deutschland, die mit der Freiheit der Stände unvereinbar war [...] Sein Ziel war der Kaiserthron; und diese Würde [...] war in seiner Hand einem weit größern Mißbrauch ausgesetzt, als man von dem österreichischen Geschlechte zu befürchten hatte. [167]
Das Nebeneinander von Lob und Tadel in diesem Epilog dient allein der Ausgewogenheit der Darstellung; die jähe Wendung zu einem so kritischen Abschluß läßt sich nicht zuletzt aus einem mehr technischen Grund erklären. Der Dreißigjährige Krieg erschien in drei Teilen von 1791 bis 93, was im

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ersten Teil bereits gedruckt war, konnte - wenn durch weitere Lektüre andere Erkenntnisse hinzugekommen waren - nur im Nachhinein durch anderslautende Ausführungen geändert werden, was hier auch geschehen ist. Damit der Widerspruch zwischen der frühen Darstellung und dem Epilog nicht zu krass erschien, wurde die frühere Tendenz auch in den Epilog eingearbeitet und mit neuen Erkenntnissen abgeschlossen. Daß trotz dieser abschließenden Kritik an Gustav Adolf Schiller durchgängig eine zu positive Haltung gegenüber dem schwedischen König vorgeworfen wird, ist verwunderlich, zumal sich das auch auf diejenigen Kritiker bezieht, die Schillers historischen Arbeiten unvoreingenommen gegenübertreten. Es mag an der oft schwierigen Entschlüsselung der von Schiller benutzten Chiffren liegen, die im Grunde nichts anderes als einen rhetorischen Gebrauch der Sprache widerspiegeln, womit man aber schon im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr vertraut war; so konnte beispielsweise eine in eine epideiktische Floskel eingearbeitete Kritik leicht übersehen werden. Anhand des Epilogs über Gustav Adolf soll das verdeutlicht werden: In diesem Epilog bleibt Schiller mit Recht bei der Anerkennung der wichtigen Rolle Schwedens im Dreißigjährigen Krieg, weil dem Expansionsbestreben des Hauses Österreich damit Einhalt geboten wurde. Der höfliche, fast lasch wirkende Satz: die ,,wohltätige Hälfte seiner Laufbahn" mit dem Tode zu beenden, heißt übersetzt, daß sich das subjektive Interesse des Schweden mit den fortschrittlichen Interessen der deutschen Gegner des Hauses Österreich deckten, nämlich: Bekämpfung des Großmachtbestrebens der Habsburger, zugleich Bekämpfung einer rückschrittlichen, theistischen Ideologie, dem Katholizismus. Der Zufall des Todes vom schwedischen Monarchen ist - bezogen auf die Auswirkungen - insofern ,,große Natur" [168] , weil sich der Tod

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in dem Moment ereignet, von dem an die Möglichkeit der Entlarvung der Großmachtinteressen Schwedens besteht, die ,,große Natur" dient also dem Ansehen des Gustav Adolfs bei den Menschen, die die ,,zarten Spinneweben" des Ereignisses nicht ,,durch die ganze Dehnung des Weltsystems laufen" sehen. ,,Große Natur" aber auch und gerade deshalb, weil der nun fehlende Nimbus Gustav Adolfs schwedische Machtpolitik zwar nicht verhindert, aber einen entscheidenden Rückschlag für sie darstellt, zugunsten der ,,Freiheit der Stände" und der ,,Heiligkeit der deutschen Verfassung."

Indizien für den bewußten Einsatz rhetorischer Mittel bringt auch der letzte Punkt in diesem Abschnitt, die synkrisis. Die synkrisis, [169] hier auf Doppelbildnis oder Personenvergleich eingeschränkt, fand Schiller in ,,seinem Plutarch", letzterer schilderte jeweils einen Griechen und einen Römer, im Anschluß daran verglich er beide Charaktere abwägend. In Schillers historischen Schriften finden sich viele derartige Vergleiche, die, wenn man die Kunst beherrscht, äußerst kunstvoll und dankbar zu gestalten sind. U. a. finden wir den Vergleich des Lykurg mit Solon, Gustav Adolf mit Wallenstein, Wilhelm von Oranien mit dem Grafen Egmont. Ziel der synkrisis ist es, ,,die Eigenart einer Einzelfigur an der kontrastierenden Eigenart einer Gegenfigur" [170] deutlich zu machen. Wenn man auch besonders hier inhaltliche Vorbehalte anmelden muß, scheint Schiller hier die größten Fähigkeiten seiner Darstellungskunst zu entwickeln. Hier ein Beispiel aus der besonders gelungenen synkrisis Karl V. mit seinem Sohn Philipp II. von Spanien.

Karl [...] war in den Niederlanden geboren und liebte die Nation, in deren Schoß er
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erwachsen war. Ihre Sitten gefielen ihm, das Natürliche ihres Charakters und Umgangs gab ihm eine angenehme Erholung von der strengen spanischen Gravität. [...] Das drückende Zeremoniell, die unnatürliche Scheidewand zwischen und Volk, war aus Brüssel verbannt. [171]
Freundliche Haltung und brutale Wirklichkeit, letzteres unterschlägt Schiller nicht: Während Karl V. mit diesen ,,Kunstgriffen" die ,,Liebe des Volkes" gewann, traten seine Armeen die Saatfelder nieder, ,,schlachten" die ,,Nachrichter" der Inquisition. [172]
Philipp der Zweite war in allem, was menschlich ist, das Gegenbild seines Vaters. [...] In Spanien geboren und unter der eisernen Zuchtrute des Mönchtums erwachsen, forderte er auch von andern die traurige Einförmigkeit und den Zwang, die sein Charakter geworden waren. [...] Karl der Fünfte eiferte rar die Religion, weil die Religion für ihn arbeitete; Philipp tat es, weil er wirklich an sie glaubte. Jener ließ um des Dogma willen mit Feuer und Schwert gegen Tausende wüten, und er selbst verspottete in der Person des Papsts, seines Gefangenen, den Lehrsatz, dem er Menschenblut opferte; Philipp entschließt sich zu dem gerechtesten Kriege gegen diesen nur mit Widerwillen und Gewissensfurcht und begibt sich aller Früchte seines Sieges, wie ein reuiger Missetäter seines Raubes. Der Kaiser war Barbar aus Berechnung, sein Sohn aus Empfindung. Der erste war ein starker und aufgeklärter Geist, aber vielleicht ein desto schlimmerer Mensch; der zweite war ein beschränkter und schwacher Kopf, aber er war [subjektiv] gerechter. [173]
Eine besondere Wirkung erzielt dieser Vergleich aus der Gegenüberstellung gleicher Taten, die aber aus unterschiedlichen Motiven erfolgen. Eine andere, schon in der Antike und im Mittelalter geübte, Modifikation ist der

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Vergleich mit bekannten Figuren aus der Geschichte, aber auch aus der Literatur: "Nennen wir jemand eine Hamlet-Natur oder einen zweiten Napoleon [...]" [174] Und bei Schiller: ,,So weigert sich der Agamemnon des griechischen Trauerspiels, auf den Purpur zu treten, den die Ehrfurcht zu seinen Füßen ausbreitet." [175]

Zur Einstimmung und aus das - movere - betreffenden Erwägungen heraus, schildert Schiller in der Einleitung zum Abfall der Niederlande in einer synkrisis den Kampf der Vorfahren der Niederländer, der Batavier, gegen die Römer. Dieser Kampf ging ähnlich aus wie der der Niederländer gegen Spanien. Und in direkter inhaltlicher Linie folgt dann der (später gestrichene) Passus, daß die Kraft ,,nicht verschwunden", der ,,glückliche Erfolg [...] uns nicht versagt" ist, wenn ,,ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen." Während der Vergleich von gleichzeitig lebenden Persönlichkeiten eher der Menschenkenntnis (docere) dienen dürfte, erzielt Schiller mit dem geschichtlichen Vergleich nicht nur eine movere - Tendenz, sondern auch durch die Anapher, d. h. Wiederholung des Wortes ,,ähnlich", wodurch die ähnliche Situation mit sprachlichen Mitteln mit der ähnlichen resultierenden Tat verklammert wird.


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