Die Gleich- und Ausschaltung SCHILLERs

von Georg Ruppelt (Leibniz-Bibliothek Hannover)

(Bilder, Links und Anmerkungen: Nikolas Dikigoros)

1. Das Schiller Jahr 1934

Der 10. November 1934 war der Tag, an dem sich der Geburtstag Friedrich Schillers das 175. Mal jährte. Deshalb kommt dem Jahr 1934 herausragende Bedeutung für die Erforschung der Wirkung und Rezeption Schillers zu.

Die Feiern, die in diesem Jahr zu Ehren Schillers veranstaltet wurden, heben sich aus der Menge ähnlicher Veranstaltungen durch die besondere Aufmerksamkeit hervor, die die Staatsorgane und die der herrschenden Partei ihnen widmeten.

Öffentliche Feiern, Staatsakte und Massenveranstaltungen hatten eine wichtige Funktion in der Regie des öffentlichen Lebens im nationalsozialistischen Staat zu erfüllen. Neben der Befriedigung eines den Volksmassen unterstellten Wunsches nach »circenses« sollten sie vor allem das Gemeinschaftsbewußtsein der Volksgemeinschaft wecken und stärken. Die Empfindung, die viele Teilnehmer an einer Massenveranstaltung ergriff, war die der Zugehörigkeit, womit ein Ziel der Veranstalter erreicht war: der einzelne sollte sich mit der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft identifizieren. Diese politischen Absichten überdeckten oft den eigentlichen Anlaß der Veranstaltung, so daß sich Feiern, die aus verschiedensten Anlässen veranstaltet wurden, nach äußerem Rahmen und Inhalt der Festreden dennoch sehr ähnelten.

Einige Veranstaltungen, die 1934 zu Ehren des Schiller-Geburtstages stattfanden, lassen die politische Prioritätensetzung der Veranstalter deutlich erkennen. Gewisse gigantomanische Züge, die vielen nationalsozialistischen Massenveranstaltungen eigen waren, prägten auch die Schiller-Feiern.

Die erste größere Schiller-Feier des Jahres fand am 21. Juni in Marbach am Neckar statt. An diesem Tag huldigte die Jugend Deutschlands einem, wie der "Völkische Beobachter" schrieb, »Paten des 3. Reiches«. Eine Stafette von 18.000 Jungen aus allen deutschen Gauen trug Blumen zum Marbacher Schiller-Denkmal. Eine andere Stafette aus dem Ruhrgebiet trug zur Entfachung eines Holzstoßes, der »zum Zeichen der Wiederauferstehung des heldischen deutschen Geistes Schillers in unserer Zeit« entflammen sollte, ein Feuer nach Marbach, das an der »ewigen Schlageter-Flamme« entzündet worden war.

In den folgenden Monaten, vor allem aber im November, fanden in allen größeren Städten des Deutschen Reiches Feiern unter starker Anteilnahme der örtlichen Prominenz aus Staat und Partei statt. Berlin ehrte den Dichter mit einer von bekannten Schauspielern gestalteten Morgenfeier und einer über den Tag verteilten vielstündigen Aufführung des gesamten Wallenstein; Frankfurt als »Stadt des Schillerfreundes Goethe« beging eine Festwoche, die der anwesende Präsident der Reichstheaterkammer, Otto Laubinger, in das Zeichen des revolutionären und politischen Schiller stellte; die Schiller-Woche in Bochum stand unter dem Motto »Schillers deutsche Sendung«; Erfurts Bühnen führten zu Ehren Schillers nationalsozialistische Tendenzstücke und Wagners Tristan und Isolde auf; München ehrte die »2 hohen Feiern«, nämlich den »Tag der Feldherrnhalle« (am 9. November 1923 unternahm Hitler seinen Putschversuch) und den Schiller-Geburtstag, mit Wilhelm Tell.

Die Universität zu Jena wurde in »Friedrich-Schiller-Universität« umbenannt; Stuttgart weihte ein Schiller-Haus ein (das Haus, in dem Schiller bei einem Besuch in der Heimat im März 1794 Quartier nahm). Eine Jubiläumslotterie erinnerte ebenso an den Geburtstag wie zwei nach einer Steinzeichnung Karl Bauers (1905) angefertigte Sonderbriefmarken der Reichspost, die ein Porträt Schillers im Lorbeerkranz zeigen.

Der Rundfunk machte Schillers Schauspiele zu Hörspielen und trug sie so in die Wohnstuben. Insgesamt wurden 1934 von den einzelnen Sendern sämtliche Stücke Schillers übertragen.

Am Sonnabend, dem 10. November 1934, übertrugen ab 20.15 Uhr alle Sender des Reiches eine zweistündige Schiller-Feier. Die im folgenden wiedergegebene Sendefolge kann als Beispiel für eine große Zahl überall im Deutschen Reich veranstalteter ähnlicher Feiern gelten:

1. Das Lied an die Freude, im Volkston
2. Ouvertüre zu "Iphigenie in Aulis", von Gluck-Wagner
3. Vorspruch von Heynicke
4. Dichter der Nation (Von Walter von der Vogelweide bis Friedrich Schiller)
5. Der Pilgrim, von Schubert
6. An die Hoffnung, Chorsatz von Reichardt (1752-1814)
7. Die Worte des Wahns
8. Die Worte des Glaubens, Chorsatz von Reichardt
9. Die Teilung der Erde
10. Jupiter-Sinfonie, 4. Satz, von Mozart
11. Huldigung, von Hans Heinrich Ehrler
12. Morgenlied, vertont für Männerchor, von Becker
13. Die Macht des Gesanges
14. An den Frühling, Männerchor von Schubert
15. Ewige Worte (Aus dem Werke Schillers)
16. Reiterlied aus "Wallensteins Lager", Männerchor mit Feldmusik, von Zahn. Aus der Pastorale (Sinfonie Nr. 6), von Beethoven
18. Widmung zu "Wilhelm Tell"
19. "Wilhelm Tell": Rütli-Szene. Ausklang

Mitwirkende: Gustaf Gründgens, Paul Hartmann, Friedrich Kayßler, Eugen Klöpfer, Hermine Körner, Lothar Müthel, Emmy Sonnemann, Julius Patzak, Margarete Teschemacher.

In der zur besten Sendezeit am Samstagabend unter Mitwirkung bekannter Künstler von Theater und Film von der Stuttgarter Liederhalle aus verbreiteten Schiller-Feier wurde nicht auf die zu dieser Zeit am meisten zitierten Texte aus Schillers Werk verzichtet.

Texte von »Dichtern der Nation« (Programmpunkt 4) wurden kommentarlos vorgetragen und mit einem Sprechchor Ans Vaterland ans teure, schließ dich an umrahmt. Unter »Ewige Worte« (Programmpunkt 15) faßte man Textstellen aus dem Werk zusammen, in denen von der »Ehre des Krieges« und vom »Glück des Friedens« die Rede ist. Das Reiterlied fehlt ebensowenig wie das Karl Theodor von Dalberg gewidmete Gedicht zum Wilhelm Tell und der Rütlischwur. Zum "Ausklang" wurde nochmals der Sprechchor Ans Vaterland wiederholt und beide Nationalhymnen gesendet. (Das Horst-Wessel-Lied wurde als zweite Nationalhymne bezeichnet.)

Am Vormittag desselben Tages hatte der Rundfunk bereits die Schiller-Feier aus Marbach übertragen, die nach den Feierlichkeiten in Weimar das herausragende Ereignis dieser Tage darstellte.10 Die Marbacher Feier, an der einige Tausend mit Sonderzügen der Reichsbahn angereiste Festgäste teilnahmen, trug betont politischen Charakter, wofür nicht zuletzt die Ausgestaltung der Feier durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verantwortlich war.

Die offizielle Rednerliste wies nur einen Namen auf, dessen Träger nicht wenigstens ein Parteiamt innehatte; aber auch der Geheimrat Prof. Dr. Otto von Güntter betonte in seiner Rede wie seine Vor- und Nachredner die Bedeutung Schillers für die nationalsozialistische Gegenwart und wies auf die Übereinstimmung von Schillers Weltanschauung und der des Nationalsozialismus hin. Im Verlauf der Marbacher Schiller-Feier, die außerhalb des offiziellen Teiles Volksfestcharakter trug, wurde oft »vieltausendstimmig« das Reiterlied gesungen. Den Höhepunkt der Veranstaltungen zu Ehren Schillers aber bildete die »Reichsschillerwoche« in Weimar.

b) Der Staatsakt der Reichsregierung in Weimar

Die »Reichsschillerwoche« in Weimar begann am 7. November mit einer Freilichtveranstaltung, während der Wallensteins Lager aufgeführt wurde, ein 600köpfiger Knabenchor das Reiterlied sang, der thüringische Minister Wächtler eine Rede hielt (Schillers Wort "Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein" muß mit Adolf Hitlers Ruf "Du bist nichts, dein Volk ist alles" leuchtendes Geleitwort für die deutsche Jugend sein.«) und ein Fackelzug zur Fürstengruft führte.

An diese Eröffnungsfeierlichkeiten schlossen sich zahlreiche Theateraufführungen, Festreden, Kranzniederlegungen und Gedenkakte an. Im Mittelpunkt aller Festlichkeiten stand der Staatsakt der Reichsregierung am 10. November im Weimarer Nationaltheater.

Viel Prominenz aus Staat und Partei fand sich zu diesem Tag in Weimar ein, an ihrer Spitze der Führer und Reichkanzler, der so »Friedrich von Schiller ehrte, in dem der deutsche Genius des 20. Jahrhunderts sich beugt vor dem Genius des 18. Jahrhunderts«. Der "Völkische Beobachter" berichtete über den Ablauf des Staatsaktes an hervorragender Stelle auf der ersten Seite. Das nebenstehende Foto zeigt Hitler beim Verlassen des Schiller-Hauses - in Zivil, Hut in der Hand -, dem er einen Besuch abstattete. Hitler - im Frack - war auch beim Staatsakt am Abend des 10. November im Weimarer Nationaltheater anwesend. Höhepunkt des Staatsaktes war die Rede des Ministers für Volksaufklärung und Propaganda.

In dieser Rede stellt Goebbels zunächst eine Beziehung zwischen der Gegenwart und Schiller her und nennt Schiller - die Bibel zitierend - »Blut von unserem Blut und Fleisch von unserem Fleische«. Zweifellos wäre nach Meinung des Ministers Schiller, hätte er im 20. Jahrhundert gelebt, ein Vorkämpfer der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Mit dieser Äußerung befindet sich Goebbels in Einklang mit später von ihm zurückgewiesenen Bestrebungen, nach denen die deutsche Vergangenheit mit nationalsozialistischen Maßstäben gemessen werden sollte. Das aus Goethes Epilog zu Schillers Glocke stammende »Denn er war unser« wird auch am Schluß dieser Rede zitiert; der oft angeführte Satz könnte als Überschrift über der gesamten Rede stehen.

An zwei Stellen seiner Rede bescheinigt der Minister Schiller »nicht nur Genie, sondern auch Charakter«, der es ihm ermöglicht habe, zeitnah zu sein, ohne in der Zeit unterzugehen. Diese Feststellung gibt Goebbels Gelegenheit für einen Seitenhieb gegen die nach der Machtübernahme entstandenen Theaterstücke der sogenannten »Konjunkturritter«, die aus Opportunismus eine Vielzahl politisch tendenziöser Stücke produzierten. Das Fehlen nationalsozialistisch ausgerichteter Theaterstücke, die sowohl künstlerischen wie ideologischen Ansprüchen genügt hätten, war ein von der Kulturführung ständig beklagter Mißstand.

Früheren und gegenwärtigen Dilettanten hält Goebbels mit einem Jesus-Wort den »berufenen und auserwählten« (Matth. 20,16) Schiller entgegen. Dieser habe die Fähigkeit besessen, aus zeitlich und räumlich entfernt liegenden Stoffen zeitnahe Kunstwerke zu schaffen. Auch für die gegenwärtige Epoche sei Schiller der zeitnächste dramatische Gestalter, weil seine Figuren den Zug des ewig Menschlichen an sich trügen.

Nach diesem Rückgriff auf einen Topos aus der »liberalistischen« Schiller-Deutung vergißt Goebbels nicht, die Schiller-Deutung vor 1933 zu schmähen (»Heer der Schwätzer«). Anschließend zeichnet Goebbels in schwungvoller und bilderreicher Rede ein Porträt des Dichtergenies Schiller, der in seinem leid- und arbeitsvollen Leben »mit seinem Pfunde wucherte« (Luk. 19, 12). Im neuen Deutschland erlebe Schiller eine Wiedergeburt, zu ihm bekenne sich das ganze deutsche Volk durch den Mund des Propagandaministers.

c) Die Bedeutung der Schiller-Feiern für die Staats- und Parteiführung

Die Presse begleitete die Feiern zu Schillers Geburtstag mit zahlreichen Artikeln über Schiller, zu denen auch noch eine kaum übersehbare Menge von Theaterkritiken zu rechnen ist. Auch der "Völkische Beobachter", das Zentralorgan der NSDAP, räumte 1934 Schiller viel Platz in seinen Spalten ein. Am 13. November erschien eine Schiller-Würdigung an einer Stelle, die sonst der Besprechung aktueller politischer Ereignisse vorbehalten blieb. Kein anderer Literaturproduzent hat nach 1933 eine derartige Herausstellung durch dieses Blatt erfahren.

Betrachtet man den Artikel aber im Rahmen der politischen Dimension der Schiller-Ehrung von 1934, so verliert er seinen Ausnahmecharakter auf dem Platz in der Zeitung, der der Erörterung für wichtig gehaltener politischer Aktualitäten vorbehalten war.

Sämtliche Presseorgane der NSDAP hatten Schiller-Würdigungen in ihr redactionelles Programm aufzunehmen. Unter der Überschrift »Rufen wir ihn zu neuem Leben! Schiller und die Gegenwart« widmete die Nationalsozialistische Partei Korrespondenz. Pressedienst der NSDAP< ihre 265. Folge dem 10. November 1934.

Das so durch die Parteipresse bekundete große Interesse der nationalsozialistischen Führung an Schiller ist nicht allein ableitbar aus den Erklärungen nationalsozialistisch orientierter Schiller-Deuter, nach denen man Schiller als einen Urahnen des Nationalsozialismus verehren müsse. Da in den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Ruf nach Politisierung aller Volksschichten und Lebensbereiche besonders laut war, wird man die Gründe für den Aufwand um die Schiller-Feiern auch im politisch-taktischen Kalkül der Führung zu suchen haben.

Der Tag vor Schillers Geburtstagsjubiläum, der 9. November, galt als heiligster Tag in dem an Gedenktagen reichen nationalsozialistischen Jahreslauf. An diesem Tag wurde alljährlich an die »Blutzeugen der Bewegung«, die getöteten Teilnehmer am Hitler-Putsch von 1923, erinnert. Am 9. November 1934 wurden die Gedenkfeierlichkeiten in München jedoch nicht von der gleichen Begeisterung begleitet wie im Vorjahr; die Erinnerungen der versammelten Parteimitglieder, besonders der SA-Männer, an die Ereignisse vom 30. Juni desselben Jahres waren noch frisch. Hitlers Vorgehen im Sommer gegen die angeblichen Verschwörer um Ernst Röhm und sonstige Regimegegner hatte 150-200 Menschenopfer gefordert, auf die Hitler in seiner Rede auch als »Blutzeugen« anspielte.

Die Aktionen vom Juni waren blanker Terror, ein Hohn auf alle Rechtsstaatlichkeit gewesen. Indem sich die für den Terror verantwortliche Regierung aber zu einem prominenten Vertreter klassischer deutscher Humanität bekannte, hoffte sie wohl auch, die durch das staatlich sanktionierte Morden hervorgerufene Skepsis in bürgerlichen Kreisen etwas neutralisieren zu können. Die zeitliche Nachbarschaft des Schiller-Geburtstages zum größten nationalsozialistischen Feiertag erlaubte es dem reisefreudigen Hitler, sich an dem einen Tag in München uniformiert in der Eigenschaft als Führer seiner braunen Armee auszustellen, um am nächsten Tag als seriöser Staatsmann im Frack seine Verehrung für Schiller in Weimar zu bekunden. Schon in diesen Äußerlichkeiten wird der Versuch spürbar, eine direkte Verbindungslinie zu ziehen zwischen Schiller und den Protagonisten des Nationalsozialismus.

Die stetige Berufung auf Schiller durch Publizisten und Festredner, die leitende 'Funktionen in Staat und Partei innehatten, legt daher den Schluß nahe, daß es den Veranstaltern der Feierlichkeiten vor allem um propagandistische Effekte ging bei jenen, für die Schiller noch eine maßgebende politische und moralische Instanz war.

Ein weiteres Ziel, auf das sich die propagandistischen Bemühungen richteten, lag im westlichen Ausland. Dem Vorwurf, der in der ausländischen Presse und von Emigranten gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik im Anschluß an die Bücherverbrennungen und die Verfolgung nichtarischer und politisch andersdenkender Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller erhoben wurde, der Nationalsozialismus sei barbarisch und ungeistig, versuchte man durch den Hinweis auf die Ehre, die man Schiller und damit dem kulturellen Erbe erweise, zu begegnen. Sogar auf die problematische außenpolitische Situation des Deutschen Reiches erhoffte sich ein Festredner günstigen Einfluß durch die Schiller-Ehrung. »Wenn heute ein gewisser Teil der Welt glaubt, uns nicht anerkennen zu müssen, so appellieren wir an diese Welt draußen im Namen des Genius Friedrich Schillers.«

Wie bei keiner anderen Gelegenheit zeigte sich während der Schiller-Feiern von 1934 das Bemühen der herrschenden Partei, sich als würdige Erbin deutscher Kulturtradition auszuweisen. Die Feiern vom November 1934, besonders der Staatsakt der Reichsregierung in Weimar, und der am 21. März 1933 veranstaltete »Tag von Potsdam« sind in Zielsetzung und Durchführung wesensgleich. Hier wie dort ging es der nationalsozialistischen Führung darum, sich als Folgeglied in Traditionsketten darzustellen, die eng mit zwei Ortsnamen, Potsdam und Weimar, verbunden sind.

Indem sich der Nationalsozialismus aber auf der einen Seite in der Rolle des Nachfahren preußischen Deutschtums und auf der anderen Seite als Bewahrer des besten deutschen Dichter- und Denkertums gefiel, erhob er auch den Anspruch, die beiden - oft als Gegensätze aufgefaßten - Geisteshaltungen, die in den Namen Potsdam und Weimar symbolisiert waren, in sich zu vereinen.

Wird bei der Erörterung der Schiller-Feiern von 1934 dieser politische Hintergrund berücksichtigt, so kann die Frage, ob der Nationalsozialismus sich tatsächlich in den Ideen Schillers wiedererkannte, wie ständig behauptet wurde, nur negativ beantwortet werden. Schiller wurde nicht in diesem überdimensionalen Maße von der nationalsozialistischen Führung gefeiert, weil sein Gedankengut mit der nationalsozialistischen Weltanschauung kongruent war, sondern weil die Berufung auf den schon allein durch die zeitliche Entfernung politisch unverdächtigen, aber innerhalb und außerhalb Deutschlands populären Klassiker Friedrich Schiller Aussichten auf propagandistische Erfolge auch bei skeptischen Adressaten bot.

Fünf Jahre nachdem Schillers Name in der Verfolgung propagandistischer Ziele von der nationalsozialistischen Führung mit großer Lautstärke angerufen worden war, zitierte der Propagandaapparat Schiller in einer geheimen Presseanweisung zum Kriegseinsatz.

2. Schiller in der Kriegspropaganda

Um die Kontrolle über das Zeitschriftenwesen lückenlos zu gewährleisten, wurde seit 1936 der vertrauliche >Zeitschriften-Dienst< monatlich und seit 1939 wöchentlich von der Abteilung »Zeitschriften und Kulturpresse« in der Presseabteilung der Reichsregierung in Verbindung mit dem Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda herausgegeben. Die im Zeitschriften-Dienst gegebenen Anweisungen stellten »nach dem Willen der Presseführung für jede deutsche Zeitschrift das obligatorische Informationsmaterial« dar.

Das Lenkungsmaterial unterlag strengen Geheimhaltungsvorschriften, auf die die Empfänger in jeder Ausgabe hingewiesen wurden. Der Zeitschriften-Dienst war nur zum persönlichen Gebrauch des Hauptschriftleiters bestimmt. Dieser durfte keinen Mitarbeiter von der Existenz des Lenkungsmaterials in Kenntnis setzen; er sollte vielmehr die Weisungen so weitergeben, als formuliere er eigene Ansichten und Anordnungen.

Die Anweisung Nr. 917 der 23. Ausgabe des Zeitschriften-Dienstes vom 7. Oktober erteilte Direktiven über die Beschäftigung mit Schiller aus Anlaß seines 180. Geburtstages. Der Text der Anweisung gibt Aufschlüsse darüber, was die nationalsozialistische Führung aus Schillers Biographie und Werk für die eigene Propaganda für verwertbar erachtete. Diese aber stand ganz im Zeichen des 37 Tage alten Krieges.

Betont werden soll laut Anweisung das Nationalbewußtsein des Dichters; zu vermeiden seien hingegen Hinweise auf seinen Idealismus und seinen Kosmopolitismus. Außer den bekannten Zitaten - der Tell wird noch als »deutsche Nationaldichtung« bezeichnet - , die als Stärkungsmittel für das eigene Nationalbewußtsein empfohlen werden, enthält der Katalog der Themen und Anregungen Vorschläge für die Behandlung Schillers, in.denen sich die außenpolitische Situation des kriegführenden Reiches widerspiegelt.

Der Kriegsgegner England soll anhand der Figur des Talbot aus der Jungfrau von Orleans als materialistische, ideenfeindliche Macht hingestellt werden.24 Die Besprechung des Demetrius soll herausarbeiten, daß Rußland ein von den Polen bedrohtes Land sei. Ein von nicht genannter Hand ergänztes Schiller-Zitat aus dem Dramenfragment soll der Untermauerung der Behauptung dienen, nach der Polen den Krieg gegen Deutschland begonnen hat: »den ersten Anlaß nimmt er [der Pole], kühnen Muts den Krieg in unseren Grenzen anzuzünden«.25 Den politischen Hintergrund für diese Interpretationsanregung bilden der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt (23. 8.1939), der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag (28. 9.1939) und der Überfall Deutschlands auf Polen, der als Reaktion auf einen polnischen Angriff bezeichnet wurde. (»Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!«)

Schillers Beziehung zu Dänemark soll hervorgehoben werden. Den Grund für die Herausstellung der freundschaftlichen Beziehungen des Dichters zu dänischen Gönnern wird man außer in der Absicht der Verfasser der Anweisung, auf Schillers »nordische« Verbindung aufmerksam zu machen, auch in der Tatsache suchen müssen, daß Deutschland einen Nichtangriffspakt mit Dänemark (31.5.1939) geschlossen hatte.

In der Reihe der politisch motivierten Erwähnungen von Beziehungen Schillers zum Ausland fehlt auch das Thema »Schiller und Italien« nicht. (»Stahlpakt« zwischen Deutschland und Italien am 22.5.1939.) Mit Hinweisen auf das Bild des Soldaten und Führer im Wallenstein und Schillers Opposition gegen den Machthunger der - vom Nationalsozialismus wenig geschätzten - katholischen Kirche schließt der Katalog der politischen Themen.

In der Liste der sozialen Themen wird ein Vergleich angeregt zwischen der mangelhaften Existenzgrundlage Schillers und der Fürsorge und Unterstützung, die der nationalsozialistische Staat seinen Künstlern angedeihen läßt.

Im folgenden weist sich der - wie üblich - nicht genannte Verfasser der Anweisung (es können auch mehrere Verfasser gewesen sein) als Kenner literarhistorischer und philosophischer Fakten und Zusammenhänge aus, der in die rassische Themenstellung - im Gegensatz zu sonstigen Gepflogenheiten - nur den Aspekt des Elternerbes einbringt.

Bemerkenswert an den anschließenden Schrifttumshinweisen ist, daß die jüngste Veröffentlichung aus dem Jahre 1930 stammt.27 Der Grund für die Zurückhaltung gegenüber der Schiller-Literatur der Gegenwart, aus der viel für propagandistische Zwecke Nützliches hätte verwertet werden können, bleibt im Dunkeln. Möglich wäre, daß der Autor die neuesten Veröffentlichungen nicht kennt oder aber, daß er politisch neutrale und allgemein bekannte Literatur aus dem ersten Viertel des Jahrhunderts vorzieht, um den Adressaten die Möglichkeit zu geben, die politisch-propagandistischen Absichten zu verschleiern.

Die Propaganda-Anweisung zeigt ebenso wie die Schiller-Feiern vom Jahr 1934, wie hoch die nationalsozialistische Führung die Effektivität einer mit dem Namen Schillers durchgeführten Propagandaaktion einschätzte. Die auf höchste Wirksamkeit ausgerichtete nationalsozialistische Propaganda gibt damit auch einen Hinweis auf den Grad der Bekanntheit Schillers in jener Zeit und das Maß der Verehrung, das ihm entgegengebracht wurde.

Die große Verehrung, die Schiller und seine Werke genossen, hinderte Adolf Hitler jedoch nicht daran, 1941 ein Schauspiel des Dichters durch einen persönlichen Befehl verbieten zu lassen.

3. Der »Fall« Wilhelm Tell

In den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Wilhelm Tell als National- und Führerdrama hochgeschätzt. Neben den seit dem 19. Jahrhundert gern zitierten Worten des alten Attinghausen »Ans Vaterland, ans teure, . . .« (II/1) gehörte nun auch der Stauffacher-Satz »Unser ist durch tausendjährigen Besitz/Der Boden - « (11/2) zu den am meisten gebrauchten geflügelten Worten in Reden und Aufsätzen. Der in den Jahren 1933 und 1934 am häufigsten zitierte Schiller-Text überhaupt war der Rütlischwur (II/1), der als mahnende Forderung gedeutet wurde, die in Deutschland nunmehr durch den Führer gewonnene geistig-politische Einheit zu stärken und nicht mehr aufzugeben.

Als Beispiel für zahlreiche Veranstaltungen, in denen der Rütlischwur eingeflochten ist in eine politische Kundgebung zu Ehren Adolf Hitlers, darf die »Sonderveranstaltung der NSDAP« am 20. April 1933 im Landes-Theater zu Braunschweig gelten, die mit der Programmfolge endete: »... Horst-Wessellied./ Wilhelm Teil. Rütli-Szene./ Deutschlandlied.«

Auf den Bühnen des Deutschen Reiches war der »Teil« in den Spielzeiten 1933/ 34, 1934/35 und 1938/39 das meistgespielte Stück von Schiller. Die Zeitschrift >Die Literatur< forderte 1937 einen »Denkmalschutz für Wilhelm Tell« wegen zu häufiger Aufführung und wegen zu »Plattheiten« herabgewürdigter Sentenzen aus dem Stück.

In den Oberschulen und Mittelschulen war der Tell das erste, in den Volksschulen meist das einzige von den 14- bis 15jährigen Schülern zu lesende Drama. Einige Lieder und »Kernsprüche« aus dem Tell waren in den Lesebüchern für alle Schularten zu finden.

Trotz dieser starken Präsenz des letzten vollendeten Schiller-Dramas im öffentlichen Leben des nationalsozialistisch regierten Deutschland meldeten außer den radikalen Schiller-Gegnern auch Schiller-Verehrer schon früh ihre Bedenken gegen den »Teil« an. Neben Einwänden gegen den individualistisch handelnden und im Grunde unpolitischen Titelhelden begegnete man auch Kritik an der im Schauspiel verherrlichten Loslösung eines Reichsgebietes vom Reich.

Es sei Schiller als ein Versagen anzurechnen, daß er ein Stück geschaffen habe, das »den Verlust eines wertvollen Gebietes für das deutsche Reich« zum Gegenstand habe und daher für den »deutschen Gedanken ganz unfruchtbar« sei. Der »Abfall eines deutschen Stammes vom Reich« dürfe nicht mit Freude, sondern müsse mit Schmerz betrachtet werden.31a Der Dramatiker Eberhard Wolfgang Möller wies darauf hin, daß schon Bismarck dieses »Drama des Separatismus« wenig gemocht habe. [Bismarck hatte es gerade nötig: Die Schweiz gehörte den Habsburgern, und wer hatte Österreich, Böhmen und Mähren 1866 aus Deutschland hinausgeworfen, als er den Deutschen Bund zerstörte, um später das "kleindeutsche" Reich von Preußens Gnaden gründen zu können? Bismarck! Anm. Dikigoros]

Die politisch motivierten Bedenken gegenüber dem Tell äußerten sich auch in einem Sinken der Aufführungsziffern in den Spielzeiten 1939/40 und 1940/41. Diese Aversionen spürend beschwor der Schiller-Biograph Reinhard Buchwald die »Unersetzlichkeit« der Tell-Dichtung. Seine Sorgen um den Tell erwiesen sich als berechtigt.

Am 3. Juni 1941 verließ ein von Reichsleiter Martin Bormann persönlich unterzeichnetes »streng vertrauliches« Schriftstück das Führerhauptquartier, in dem es hieß: »Der Führer wünscht, daß Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell" nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.« Das mit der Bitte um Weiterleitung an den Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers gerichtete Schreiben löste einen regen Briefwechsel aus zwischen vier Reichsministern und einem einflußreichen Parteifunktionär.34 Minister Lammers gab am 7. Juni 1941 die Verbotsanordnung an den Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und an den Minister für Volksaufklärung und Propaganda weiter.

Goebbels reagierte sofort. Die Reichstheaterkammer übersandte allen deutschen Theatern ein »streng vertrauliches, umgehend zu beantwortendes« Rundschreiben, in dem es hieß:

Ich ersuche alle Theaterleiter, mir sofort schriftliche Meldung [...] darüber zu machen

1. ob zurzeit "Wilhelm Tell" von Friedrich von Schiller auf dem Spielplan ist
2. ob das Stück für eine spätere Aufführung vorgesehen ist.
3. Auch Fehlanzeige muß erstattet werden.«

Verantwortlich für das Schreiben zeichnete der Reichsdramaturg Schlösser.

Die darauf folgende Verbotsanordnung ging nur den Theaterleitern zu, doch sickerten Gerüchte über die »Unerwünschtheit« des Tell auch zu anderen Theaterleuten durch. Die Spielzeit 1941/42 erlebte nicht eine Tell-Aufführung im Reich oder in den besetzten Gebieten.

Die Durchführung des Verbotes im Schulbereich machte dagegen erheblich mehr Schwierigkeiten. Erst im Dezember 1941, nachdem Lammers beim Führer nachgefragt hatte, ob »Kernsprüche« und Lieder aus dem Tell noch in die Schullesebücher aufgenommen werden dürften, konnte der Chef der Reichskanzlei seinem Kollegen, dem Reichs- und preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, und dem Leiter der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums und Chef der Kanzlei des Führers der NSDAP, Philipp Bouhler, die endgültigen Anweisungen übermitteln. Vorausgegangen war ein von Machtkämpfen und Kompetenzstreitigkeiten gezeichneter Briefwechsel zwischen Bouhler und Rust, die auch Lammers und Bormann ihre Ansichten im Falle Tell darlegten.

Diskutiert wurde in diesem Briefwechsel die Frage, in welcher Form das Verbot an die Schulen weitergegeben werden sollte und ob Zitate aus dem Tell aus den Schullesebüchern zu entfernen seien. Rust hatte zunächst einen Erlaß konzipiert, der die Unterrichtsverwaltungen der einzelnen Länder und Gaue unter der Geheimhaltungsstufe »Geheim« anwies, in ihrem Bereich dafür Sorge zu tragen, daß der Tell in den Schulen nicht mehr behandelt und aus Lehrer- und Schülerbüchereien nicht mehr entliehen werde.

Bouhler äußerte daraufhin in Briefen an Rust und Bormann seine Bedenken gegen dieses Verfahren, da der geheime Charakter der Anweisung seiner Meinung nach erst recht zu Diskussionen führen werde; diese aber seien in der gegenwärtigen Kriegszeit absolut unerwünscht. Rust gab nun im August 1941 das Verbot an die Unterrichtsminister der Länder, die Reichsstatthalter, die preußischen Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten und die Direktoren der Lehrerbildungsanstalten in »streng vertraulichen« Schreiben weiter. Die Form der Übermittlung stellte er in das Ermessen der nachgeordneten Dienststellen: »Ich bitte, dies den Schulleitern in Ihnen geeignet erscheinender, der politischen Bedeutung der Angelegenheit angemessenen Form mitzuteilen.«

Seinen Erlaß verteidigte Rust in einem Brief an Lammers mit dem Hinweis auf das »richtige Verständnis der politisch wachsamen Erzieherschaft«.

Bouhler hatte auch Stellung bezogen zur Frage nach Texten aus dem Tell in Schullesebüchern:

Wenn das Schauspiel "Wilhelm Tell" aus einer Reihe von Gründen nicht mehr zur Darstellung gegenwartsnaher Probleme herangezogen und aus denselben Gründen pädagogisch nicht mehr verwendet werden kann, dann ist es notwendig und folgerichtig, daß in den Schulbüchern auch Zitate und Kernsätze aus dem Werk eliminiert werden.

Denn es hätte wenig Zweck, die Behandlung einer Dichtung auszuschalten, andererseits aber durch Zitate und Kernsätze auf sie wieder aufmerksam zu machen. Der Sinn der Maßnahme kann ja nur der sein, eine in mehrfacher Hinsicht schiefe Auswirkung, die von der Dichtung ausgeht, vollständig zu beseitigen und die Dichtung selbst in den rein historischen Raum, in dem sie ihre Berechtigung hat, zu verweisen.

Die herbeigeführte Führerentscheidung lief schließlich darauf hinaus, daß bei Neuauflagen oder bei der Herausgabe neuer Schulbücher keine Texte aus dem Tell mehr aufgenommen werden sollten.

Die oben hervorgehobenen Bemerkungen Bouhlers lassen den Schluß zu, daß man sich zumindest in der gehobenen Klasse der Parteifunktionäre über die Gründe im klaren war, die den Führer bewogen hatten, das Schauspiel aus Theater und Klassenzimmer zu verbannen.

Welcher Art diese Gründe aber waren, geht aus dem geheimen Briefwechsel nicht hervor. Auch nach 1945 ist wenig über das Tell-Verbot bekanntgeworden. Gelegentliche Vermutungen, nach denen demonstrative Beifallsäußerungen oder die Furcht vor der revolutionären Sprengkraft des Stückes das Verbot des Stückes ausgelöst hätten, entbehren der Beweise.

Daß einer der Gründe für das Tell-Verbot in dem im Schauspiel gestalteten Tyrannenmord zu finden ist, scheint dagegen der Wahrheit nahezukommen. Die Frage des Tyrannenmordes ist in Schillers Schauspiel zugunsten der moralisch berechtigten Tötung des Tyrannen entschieden worden, so daß Hitler, der zu Recht um seine persönliche Sicherheit sehr besorgt war, sich durch Tell-Nachahmer bedroht fühlen konnte. Drei Indizien sprechen für diese Annahme.

Außer Wilhelm Tell war Anfang der vierziger Jahre auch Schillers Fiesco politisch mißliebig geworden. Auch im Fiesco geht es um die Tötung eines Gewaltherrschers, des alten und - in der 1. und 3. Fassung - auch des zukünftigen.

Das zweite Indiz findet sich in einer Äußerung Hitlers, die im Zusammenhang längerer Ausführungen über die deutsche Kaisergeschichte fällt. In einem Tischgespräch am Abend des 4. Februar 1942 klagte der Diktator:

Wir haben nur ein Unglück: daß wir bisher nicht den Dramatiker gefunden haben, der in die deutsche Kaisergeschichte hineingeht. Ausgerechnet Schiller mußte diesen Schweizer Heckenschützen verherrlichen. Die Engländer haben ihren Shakespeare, dabei haben sie in ihrer Geschichte doch nur Wüteriche oder Nullen. [Deshalb hat Shakespeare die englischen Herrscher ja auch durchweg als Wüteriche bzw. Nullen dargestellt; die Helden seiner Dramen waren überwiegend Ausländer, Anm. Dikigoros]

Erst zwei Monate vorher hatte Hitler die Aufnahme von »Kernsprüchen« und Liedern aus dem Tell in allen neuen Schullesebüchern untersagt. Die zeitlich nicht allzu große Entfernung zwischen der Äußerung bei Tisch und der endgültigen Verbotsanordnung deuten auf ein hohes Maß an Aufmerksamkeit hin, das der mächtigste Mann Europas einem fast 140 Jahre alten Bühnenstück in diesen Monaten widmete.

Auf ein drittes Indiz, das für die Abneigung Hitlers gegenüber dem Tell aus Angst vor »Heckenschützen« spricht, hat jetzt Rolf Hochhuth aufmerksam gemacht. Hochhuth hat den Lebensweg des Schweizer Theologiestudenten Maurice Bavaud erforscht, der 1938 mehrfach versuchte, Hitler zu töten, entdeckt, verhaftet und 1939 zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde am 18. Mai 1941 vollstreckt. Die Hinrichtung Bavauds und das die Verbotsanordnung betreffende Bormann-Schreiben vom 3. Juni 1941 stehen in enger zeitlicher Nachbarschaft. Die Meldung über den Vollzug der Hinrichtung - der Fall Bavaud wurde geheimgehalten - könnte der Anlaß für das Tell-Verbot durch Hitler gewesen sein, dessen Abneigung - wie auch die der oben zitierten Kulturfunktionäre - gegen den Tell jedoch mehrfach motiviert war.

In der o. e. Hitler-Äußerung über den Tell klingen auch die bekannten Vorbehalte gegen Wilhelm Tell als »Separationsdrama« an. Im Tell wurden in den Augen Hitlers Unternehmungen verherrlicht, die den eigenen Zielen, nämlich u. a. »Heimholung« aller ehemaligen Reichsgebiete ins Reich, genau entgegengesetzt waren. Bis auf einen Staat mit deutschsprachigem Bevölkerungsanteil in der Mitte Kontinentaleuropas war dieses Vorhaben im Sommer 1941 schon durchgeführt. »Die Wiedergeburt der Reichsidee stellt das Verhältnis der Schweiz zum Reich in die erste Linie der Schweizer Existenz. Einmal, weil die Schweiz früher ein Teil des Reiches war, dann, weil sie im unmittelbaren Kraftfeld des Reiches liegt.«44

Die Schweiz aber zeigte - bis auf nationalsozialistisch orientierte Kreise - kein Interesse an einem Anschluß an das Deutsche Reich. Sie ließ auch keinen Zweifel daran offen, daß sie gegebenenfalls ihre Neutralität auch mit kriegerischen Mitteln verteidigen würde. In dieser Haltung der Schweiz gegenüber dem Reich liegt ein weiterer Grund für Hitlers Einschreiten gegen den Tell im Sommer 1941.

In der Schweiz, die sich an allen Landesgrenzen mit dem kriegerischen Potential der Achsenmächte konfrontiert sah, war Wilhelm Tell schon vor dem Krieg, als Deutschland zu immer mehr Expansionsunternehmen schritt, zu einer Symbolfigur für den Behauptungswillen gegenüber dem Reich geworden. Die auch durch diese abweisende Haltung der Schweiz hervorgerufenen Animositäten in Deutschland äußerten sich in drohenden Presseartikeln gegen den neutralen Staat. Im Jahr 1941, in dem der Tell in Deutschland verboten wurde, feierte die Schweiz den 650. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft, von dem man in Deutschland von offizieller Seite keine Notiz nahm.

Das Verbot des Wilhelm Tell muß also auch vor dem Hintergrund der außenpolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches zur Schweiz gesehen werden. Neben Antipathien des Führers gegen den »Heckenschützen« Wilhelm Tell, der fast einen Nachfolger in einem Schweizer Theologiestudenten gefunden hatte, und gegen die Existenz des Schweizer Staates überhaupt ist ein weiterer Grund für die Eliminierung des Schillerschen Schauspiels aus dem öffentlichen Leben Deutschlands im gespannten Verhältnis der Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz zu sehen.

Das Verbot des Wilhelm Tell durch den Diktator Adolf Hitler ist ein extremes Beispiel für mögliche Wirkungen von Literatur in die pragmatische Politik. Zwar ist es von jeher nicht ungewöhnlich, daß literarische Erzeugnisse der Staatsgewalt als so bedrohlich erscheinen, daß sie sich genötigt fühlt, ihre Verbreitung zu verhindern, im Falle des Tell aber sollte eine Dichtung aus dem öffentlichen Bewußtsein gedrängt und die nachwachsenden Generationen von jedem Kontakt mit ihr ferngehalten werden, die in Deutschland seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und volkstümlichsten Literaturwerken überhaupt gehörte.

Das rigorose Vorgehen gegen den Wilhelm Tell im nationalsozialistischen Diktaturstaat offenbart die überzeitliche Aktualität des Schauspiels, das noch nach fast 140 Jahren als politische Herausforderung wirkt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Buch "Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung.", Stuttgart 1979. S. 33-45., erschienen im J. B. Metzler Verlag.

Dr. Georg Ruppelt ist Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
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