Brauchen wir überhaupt noch Schiller? Zugegeben, eine ketzerische, und, wie sich nach kurzem
Nachdenken herausstellen dürfte, überflüssige Frage. Denn Schiller hat vieles
vorweggenommen und steht der Gegenwart näher als manch anderer Dichter und
Denker. Immerhin hat er Themen und Fragen aufgegriffen, die sich in jeder
Gesellschaft und in jeder Zeit neu stellen, wie etwa die Frage nach der
Gültigkeit von Autoritäten und Institutionen. Seine Hoffnung auf den
erzieherischen Einfluss der Kunst, sein Konzept einer ganzheitlichen Humanität,
sein Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen und an das Fortschreiten
humanen Denkens, seine hohe Meinung von der Freiheit und nicht zuletzt sein
"Lied an die Freude" in der Vertonung Beethovens im europäischen Stimmenchor
entfalten erst jetzt ihre vollständige Wirkung. Es lohnt sich also, Schiller
wieder zu lesen oder neu zu entdecken, zumal uns der Zugang zu seinen Werken
durch kommentierte Gesamtausgaben, die zu seinem zweihundertsten Todestag neu
herausgegeben wurden, verhältnismäßig leicht gemacht wird.
Da wäre
beispielsweise die umfassende und gut kommentierte Klassiker-Verlagsausgabe, die
zehnbändige "Berliner Ausgabe" des Aufbau-Verlags, der freilich die Briefe
fehlen. Ferner gibt es die bewährte und aktualisierte Hanser-Ausgabe, die zwar
dreieinhalbtausend Seiten weniger enthält als die Berliner Ausgabe, die aber
trotzdem, abgesehen von den Briefen, sämtliche Werke sowie ausgezeichnete
Kommentare bietet und die im Deutschen Taschenbuchverlag seitenidentisch weitaus
billiger zu haben ist als bei Hanser. Und da wäre, nicht zu vergessen, die 1943
begonnene und auch zu Schillers Todestag noch nicht abgeschlossene voluminöse
"Nationalausgabe" für versierte Kenner und gewiefte Experten.
Auf die Nationalausgabe und die Berliner Ausgabe des Aufbau-Verlags trifft überdies der
lateinische Ausspruch zu: "Habent sua fata libelli - Bücher haben ihre
Schicksale." Denn beide weisen eine von politischen Entwicklungen nicht
unbeeinträchtigte Geschichte auf.
Gegründet wurde die Schiller-Nationalausgabe im Februar 1940 "in finsterer Zeit". Im Krieg erschien nur der erste Band, dem,
nach Aussage des heutigen Herausgebers Norbert Oellers, längst nicht mehr
anzusehen sei, wie politisch er damals war. Nach dem Zusammenbruch arbeitete man
in Ost und West - selbst während der Zeit des Kalten Krieges - gemeinsam an der
Herausgabe der Schillerschen Werke: die einen in Marbach, die anderen in Weimar.
Mehr oder weniger arbeitete man im Schatten der Politik, und das war nicht immer
leicht, da jedes Manuskript aus dem Westen von der Zensur in Ost-Berlin
daraufhin geprüft wurde, ob es in der DDR veröffentlicht werden durfte. Im
übrigen lautete seinerzeit bei den westdeutschen Mitarbeitern die Devise, wie
Oellers in einem Gespräch erklärte: "Keine Sacherläuterungen, an denen etwa ein
sozialistischer Literaturwissenschaftler der DDR etwas aussetzen konnte, keine
ideologisch wie auch immer gefärbte Darstellung!" Gleichwohl blieben große
wissenschaftliche Differenzen zwischen Ost und West nicht aus.
Der zehnbändigen Berliner Ausgabe des Aufbau-Verlags, die noch tausend Subskribenten
braucht, um im April 2005 erscheinen zu können, war ein ähnliches Schicksal
beschieden. Im Jahr 1980 hatte in Ostberlin Hans-Günther Thalheim mit der
Ausgabe begonnen. Aber nach dem Erscheinen des fünften Bandes im Jahr 1990 war
an eine kontinuierliche Weiterarbeit mit dem bestehenden Team nicht mehr zu
denken. Viele Bearbeiter hatten inzwischen andere Aufgaben übernommen oder
konnten die aufwändige Editionsarbeit ohne Verlagsauftrag nicht mehr leisten.
Hinzu kamen die anfänglich unübersichtlichen Wirren der deutschen Wende. Daher
blieb ein sechster Band, obwohl er schon im Manuskript fertig war, jahrelang im
Lektoratsregal liegen.
Erst 1994 gewann
der Verlag den promovierten Schiller-Forscher Barthold Pelzer als Bearbeiter für
die noch ausstehenden Bände, so dass nun aus dem Torso ein Ganzes werden und
damit 25 Jahre Editionsarbeit zu einem gesamtdeutschen Abschluss kommen könnten.
Wünschenswert wäre es allemal, gewährt doch die chronologisch angeordnete und
systematisch kommentierte Berliner Ausgabe, durch die Verwendung von Erstdrucken
und Originalhandschriften als Vorlagen, ein differenziertes Bild von Schillers
geistiger und künstlerischer Entwicklung. So sind beispielsweise Schillers
Räuber in drei Druckversionen aufgeführt, mit deren Hilfe man die
Entstehung des Stückes verfolgen kann. Auch Schillers Tätigkeit als Rezensent,
Redakteur, Herausgeber und sein Wirken als Geschichtsprofessor in Jena sind
überschaubar dokumentiert.
Vor allem Band zehn belegt mit
seinen "Vermischten Schriften" die Vielfalt und oft unterschätzte Bandbreite von
Schillers Aktivitäten, auch seine Verdienste als Mediziner. Gerade diesen hat
die Literaturwissenschaft lange sträflich vernachlässigt, obwohl Schiller in
jungen Jahren für seine medizinischen Leistungen mit Prämien bedacht worden ist.
Erst in der Nationalausgabe wurden Schillers medizinische Schriften und
Leistungen angemessen gewürdigt. Der Aufbau-Verlag hat sich - wie auch der
Deutsche Klassiker Verlag und der Hanser Verlag - daran ein Beispiel genommen
und eine der drei von Schiller nach Ende seines Medizinstudiums eingereichten
Abschlussarbeiten in lateinischer Sprache und deutscher Übersetzung abgedruckt.
Sie trägt den Titel: "Über den Unterschied zwischen den entzündlichen und
fauligen Fiebern. Abhandlung von Johann Christoph Friedrich Schiller, Medicinae
Candidatus 1780".
Einige Texte in diesem Band ergänzen und bereichern
unsere Vorstellung von Schillers Persönlichkeit. An manchen Stellen erscheint
diese sonderbar gebrochen. So passt die fast demütige Widmung des ersten Heftes
der
Rheinischen Thalia an den Herzog Karl August von Weimar nicht so
recht zum populären Bild des auf seine Unabhängigkeit pochenden Autors, der in
seiner Zeitschrift trotzig ankündigte: "Ich schreibe als Weltbürger, der keinem
Fürsten dient."
Ferner sehen wir Schiller schon als Zwanzigjährigen
zuweilen die Grenze des Verletzenden überschreiten, wenn er unerbittlich und
aggressiv gegen literarische Widersacher polemisiert, während er später schwache
Werke anderer Autoren zuweilen nur zum Anlass nimmt, um die eigene ästhetische
Position zu formulieren. Auch vermitteln seine mitunter verzweifelten
Bemühungen, sich als freier Schriftsteller durch publizistische Tätigkeit ein
geregeltes Einkommen zu verschaffen - noch sein aufreibendes Engagement für
Die Horen war davon bestimmt -, einen Eindruck von den Bedingungen, unter
denen selbst ein so genialer und fleißiger Schriftsteller wie Schiller im
Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts existierte. Gleichwohl war er bei
diesen Unternehmungen nie zu Konzessionen bereit, die auf Kosten des Inhalts
ihre Popularität vergrößert hätten.
Zunächst betätigte sich Schiller, wie
wir aus dem Aufbau-Band weiter erfahren, als Publizist, um nach seinem Abschluss
an der Akademie im Dezember 1780 (die Doktorprüfung in Tübingen hat er nicht
mehr abgelegt) seine geringen Einkünfte als Medikus eines Stuttgarter Regiments
aufzubessern. Später gab er Zeitschriften heraus, darunter die
Horen,
deren hohes Niveau durch Beiträge von Goethe, Herder, Humboldt und August
Wilhelm Schlegel und Schiller selbst gewährleistet war. Das Gros seiner
Publikationen zwischen 1787 und 1793 sind jedoch Werke zur Geschichte, die
deutlich Schillers Rang als Denker bezeugen.
Zweifellos ist die Berliner
Schiller-Ausgabe demnächst genau so wichtig und empfehlenswert wie die
Frankfurter Ausgabe im Klassiker Verlag und die Münchner Ausgabe im Hanser
Verlag, insbesondere für Leser, die den Anhang gern etwas ausführlicher hätten
als bei Hanser und denen die große Edition des Deutschen Klassiker Verlages zu
kostspielig ist.
Wenn alles gut geht, werden die Bände bis zu Schillers
200. Todestag am 9. Mai ausgeliefert. Der Verleger Bernd F. Lunkewitz hofft
sogar, zu Schillers 250. Geburtstag im Jahr 2009 wieder nachdrucken zu können.
Außerdem profitierten die Käufer dieser Ausgabe nach Ansicht des Verlegers von
der Kulturpolitik der DDR, die solche Projekte stets unterstützt habe. Doch sei
nicht verschwiegen, dass die zu DDR-Zeiten erschienenen fünf Bände unverändert
in die zehnbändige Sammlung mit aufgenommen wurden und dass, wer diese früher
schon erworben hat und jetzt die gesamte Ausgabe besitzen möchte, gezwungen ist,
diese Bände nochmals zu erstehen, da die Bücher nicht einzeln abgegeben
werden.
In einem weitaus ruhigeren Fahrwasser als die Geschichte der
Nationalausgabe und der Berliner Ausgabe des Aufbau-Verlags, verlief die
Entwicklung der Edition der Schiller-Werke im Münchner Carl Hanser Verlag, die
zunächst von Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert und Herbert Stubenrauch betreut
wurde. Diese Edition erfreut sich seit fünfzig Jahren großer Beliebtheit, wie
man an ihren insgesamt zehn Auflagen (zuletzt im Jahr 2000) unschwer erkennen
kann. Helmut Koopmann attestierte ihr noch 1998, "allen Ansprüchen an eine
kommentierte Gesamtausgabe" zu genügen.
Dieses Lob verdient gewiss auch
die im Herbst 2004 in fünf starken Dünndruckbänden herausgegebene Sammlung. Sie
ist handlich, sorgfältig ausgestattet mit Zeittafeln, Inhaltsverzeichnissen,
einem Namensverzeichnis zur antiken Mythologie im ersten Band, und für Schule
und Studium ebenso geeignet wie für die Lektüre interessierter Schillerfreunde.
Alle Texte des Dichters wurden von namhaften Wissenschaftlern gründlich
revidiert und neu kommentiert. Hinzu kommen Textfunde, die hier erstmals
veröffentlicht werden, sowie Anmerkungen zu den einzelnen Werken, in die der
heutige Forschungsstand eingegangen ist. Zuweilen wurde, insbesondere bei der
Kommentierung der Dramen, auf umfassende Erläuterungen der
Schiller-Nationalausgabe zurückgegriffen. Manches wurde umgeschrieben,
überarbeitet, ergänzt oder gestrafft und Marginales ausgeschieden.
Offensichtlich waren die Herausgeber bemüht, sowohl den veränderten
Bildungsvoraussetzungen beim Lesepublikum als auch dem gewandelten Schillerbild
der letzten Jahrzehnte Rechnung zu tragen.
Wie üblich beginnt die Ausgabe
mit Schillers Lyrik, die in zwei Hauptgruppen unterteilt wird: in die "frühen"
Gedichte bis 1788 und die späteren ab 1788. Die Balladen wiederum stehen in der
von Schiller beabsichtigten Ordnung, während die Gruppe "Parabeln und Rätsel"
auf einen sachorientierten Reihungsvorschlag von Rudolf Alexander Schröder
zurückgeht. Natürlich fehlen auch die "Philosophischen Gedichte" mit "Die Götter
Griechenlands", die Elegien und die überwiegend zwischen Oktober 1795 und
September 1796 entstandenen "Xenien" nicht, mit denen Schiller und Goethe auf
satirische Weise das Publikum im Geiste der klassizistischen Autonomie-Ästhetik
zu disziplinieren versucht haben.
Während Schillers
Originalmanuskripte der vollendeten Dramen verloren sind, hat sich ein Großteil
der Vorarbeiten, Exzerpte und Skizzen zu den Fragmenten erhalten. In dieser
Laune der Überlieferung liegen Reiz und Bedeutung der Entwürfe für ein
Verständnis seiner klassischen Dramatik. Bemerkenswert ist - wie Band drei
deutlich macht - das Themenspektrum der Entwürfe, das im Vergleich zu den
abgeschlossenen Dramen manche Überraschung und etliche Experimente mit neuen,
oft konträren Formen und Stoffen bereithält.
Das
verfeinerte Individuum
Band vier enthält Schillers historische
Schriften, Vorlesungen, darunter auch seine berühmte Antrittsrede "Was heißt und
zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" sowie den Essay "Etwas über
die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde", in
dem Schiller, angeregt durch Kants Abhandlung "Mutmaßlicher Anfang der
Menschengeschichte" (1786) zu beweisen sucht, dass die Entwicklung des
Individuums unter dem Gesetz einer fortschreitenden Verfeinerung seiner
Vernunftfertigkeiten vonstatten geht, deren Bedingung gerade die Vertreibung aus
dem Paradies war.
Seine philosophischen Schriften der 1780er Jahre
wiederum kleidete Schiller durchweg in ein narratives Gewand. Sie stehen sowohl
in der literarischen Tradition des in erster Linie durch Voltaire vertretenen
conte philosophique wie zugleich in der philosophischen des "platonischen
Dialogs", den die Aufklärung ebenfalls als diskursive Form
schätzte.
Soweit ein kleiner Einblick in die Themen und Kommentare der
aktualisierten Hanser-Ausgabe, die mit ihren ungemein aufschlussreichen
Anmerkungen und hilfreichen Erläuterungen den Weg zu einem vielseitigen Schiller
ebnet.
Rechtzeitig zum Schillerjahr schloss der Deutsche Klassiker Verlag
in Frankfurt am Main seine im Jahr 1988 begonnene zwölfbändige Ausgabe ab. Jeder
Band stellt eine kleine Kostbarkeit dar, so schön, umfassend und glänzend
kommentiert, dass kaum eine andere Schiller-Edition mithalten kann. Die
Begeisterung eines Schiller-Experten wie Helmut Koopmann hält sich indes in
Grenzen: "Die Bände bieten neben den Schiller-Texten und dem Üblichen
(Überlieferung, Entstehungsgeschichte, Zeugnisse zur Wirkung, Stellenkommentare)
auch ,Deutungsaspekte' in unterschiedlicher Qualität, die teilweise die
Forschung gut nachzeichnen, zum Teil aber auch etwas apodiktisch ausfallen und
manchmal von unzureichender Kürze sind - zu Wilhelm Tell finden sich ganze
sieben Seiten in einem Kommentar von insgesamt 115 Seiten", merkt Koopmann im
Schiller-Handbuch kritisch an, fügt aber hinzu: "Diese Ausgabe macht
keine der anderen überflüssig, aber sie bietet vor allem in den
Stellenkommentaren teilweise mehr als die früh erschienenen oder unter DDR-Bürde
entstandenen Bände der Schiller-Nationalausgabe."
Fraglos repräsentiert
die umfangreiche Frankfurter Studienausgabe einen modernen philologischen
Standard der Schiller-Forschung. Die Gedichte erscheinen in der vom Dichter
selbst konzipierten Anordnung der "Prachtausgabe" von 1804 / 5. In anderen
Bänden werden die einzelnen Dramen in ihren verschiedenen Fassungen vollständig
wieder gegeben. In Band vier wird
Wallenstein, das berühmteste deutsche
Geschichtsdrama, mit Varianten einschließlich der Hamburger Bühnenfassung nach
Erstdruck und Handschriften ediert, entstehungs- und wirkungsgeschichtlich
dokumentiert und ausführlich erläutert.
Die historischen Schriften
wiederum werden, in Band sechs und sieben, in chronologischer Folge aus der
Sicht des Geschichtsforschers expliziert. Dabei kommt Schillers existentielle
Wende zur Geschichtsschreibung im Alter von 28 Jahren klar zum Ausdruck, als er
nach einem Aufsehen erregenden Erfolg als Dramatiker das dichterische Schaffen
hinten anstellte, um sich ganz der Geschichtsschreibung zu widmen. Damit
eröffneten sich neue Perspektiven, Verbindungen und Einkünfte für den
mittellosen Dichter, der seit seiner Flucht vom Posten eines herzoglichen
Militärarztes in Stuttgart und einer kurzfristigen Anstellung als Theaterdichter
in Mannheim, ohne Einkommen und hochverschuldet war.
Anfangs glaubte
Schiller, beflügelt von den revolutionären Pariser Ereignissen, seine
historiographische Produktivität weiter steigern und einen "deutschen Plutarch"
schreiben zu können. Doch ein gesundheitlicher Zusammenbruch im Januar 1791
veranlasste ihn, seinen historiographischen Ehrgeiz zu zügeln. Er widmete sich
fortan ästhetisch-anthropologischen Fragen, bis er sich ab 1796, nicht zuletzt
durch die Freundschaft mit Goethe, wieder ganz der Dichtung und Dramatik
zuwandte.
Foucault
avant la lettre
In den Kommentaren zu den historischen Schriften wird
insbesondere die Bedeutung Schillers als Historiker im Kontext seiner Epoche neu
beleuchtet und gewichtet. Denn lange Zeit wurde Schiller nicht nur als
Mediziner, sondern auch als Historiker verkannt und unterschätzt. Die einen
verbannten seine historiographischen Texte in die Vorhöfe der ordentlichen
Geschichtsschreibung, andere beschränkten den Historiker auf das Intervall von
1787 und 1792. Dabei war Schillers Interesse an Geschichte und Geschichten
keineswegs auf jene fünf Jahre begrenzt. Schon in seiner Stuttgarter Zeit
faszinierten ihn Geschichten aus dem Leben, deren Echtheit verbürgt war.
Überdies zeigen seine Texte zu Fragen der Historik, wie der Herausgeber Otto
Dann zu verstehen gibt, eine bemerkenswert moderne Position. Schiller plädierte
nämlich schon für eine konsequent struktur-, sozial- und
mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Geschichtsschreibung und nahm in vielem
Michel Foucault vorweg. "An der Geschichte als dem zentralen Erfahrungsraum, der
nicht nur den philosophischen Kopf, sondern auch den Dichter und Dramatiker
herausfordert", habe Schiller, schreibt Dann, zeitlebens festgehalten.
Auch hier besticht der weite Horizont und der aktuelle Bezug des
Betrachters und Kommentators, der gleich zu Beginn seiner Einführung darauf
hinweist, dass man in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die ihre Geschichte
als belastet empfindet, sicher nicht ohne weiteres deutlich machen könne, dass
Geschichte auch als eine Eröffnung von Freiheit erfahren werden kann. "Nur unter
dieser Prämisse aber ist Schiller in seinem Verhältnis zur Geschichte zu
verstehen."
Die ästhetischen Schriften sind in der Frankfurter Edition
gleichfalls vollständig versammelt und in ihren systematischen Zusammenhängen
aufeinander bezogen. Auch Schillers Bearbeitungen für die Bühne wurden auf den
neuesten Stand gebracht.
Der dramatische
Nachlass des Dichters mit sechzehn mehr oder weniger ausführlich erarbeiteten
Fragmenten lohnt ebenfalls eine längere Betrachtung. Denn an ihnen wird lesbar,
womit der Dichter, der Historiker, der Ästhetiker nicht fertig geworden ist. Es
sind Texte, in denen das Ungelöste hervortritt, gerade so, als materialisierten
sich in den Stofffetzen und Formtrümmern die Überreste der Revolution, offene
Fragen, bürgerliche Traumata, die sich nicht abschütteln
ließen.
Abgerundet wird die Edition durch eine großzügige Briefauswahl in
zwei Bänden mit rund 890 Briefen, ausgewählt aus über 2 200 überlieferten Briefe
von Schillers Hand. Allesamt sind Dokumente einer gedanklichen
Selbstvergewisserung, Selbstreflexion, Zeugnisse des Bemühens, "alles in Geist
zu verwandeln" und darin sich selbst zu finden.
Von Jugend an - auch das
geht aus den Briefen hervor - bestimmen Freundschaft, Enthusiasmus und Poesie
nachhaltig Schillers Leben. Man spürt aber auch: Hier schreibt ein Kranker, dem
die Zeit für die Vollendung seiner Werke davon läuft, der sich jedoch nie in
Larmoyanz erging.
Die Herausgeber der Deutschen Klassiker Ausgabe haben
allesamt meisterhaft gearbeitet. Es ist eine wahre Freude, sich anhand dieser
mustergültigen, mit großer Sorgfalt erarbeiteten Edition mit all ihren
Registern, die für Überblick sorgen, ihren kenntnisreichen Kommentaren, in denen
aktuelle Bezüge nicht fehlen, und ihren zahlreichen Literaturhinweisen, einen
neuen Zugang zu Schiller zu verschaffen. Der Aufmerksamkeit der Kommentatoren
dürfte nichts entgangen zu sein, so dass auch der wissbegierigste Bücherfreund
auf seine Kosten kommt, ohne dass bei aller Fachkompetenz der "Normalleser"
vernachlässigt würde. Obendrein wird für einen gegenwartsnahen Schiller
geworben, den unsere Zeit bitter nötig hat.
Kurzum, die opulente Ausgabe gewährt, auch dank ihrer leserfreundlichen Schrift, in jedem Band intellektuellen Gewinn und ästhetischen Genuss.
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