Reichstagsbrand

Vom Fanal zum Skandal

Melitta Wiedemann

»Die Zeit« nennt Melitta Wiedemanns Lebenslauf "farbig". Das ist ein "understatement". In St. Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreiches (1900) als Tochter des Direktors einer Orientbank und habilitierten Orientalisten geboren, in Teheran aufgewachsen und erzogen, sind ihr die Kultursprachen des Ostens so vertraut wie seine Philosophie und Denkart. Eine so dynamische und aufgeschlossene Frau wie sie konnte an der politisch-weltanschaulichen Bewegung, die zwischen den beiden Weltkriegen Deutschland umgestaltete, nicht vorbeisehen. Aber schon im März 1931, als andere, sogar führende Nationalsozialisten der NSDAP erst beitraten, kehrte sie der Partei den Rücken, um ihre ganze Kraft der Abwendung dessen zu widmen, was sie auf unser Volk zukommen sah. Das führte sie an die Seite derjenigen, die sie - in ihren bisher nur als Manuskript vorliegenden Memoiren - "meine Freunde von der SS" nennt, in den Widerstand und in die Hände der Gestapo. Heute lebt Melitta Wiedemann als »freie« Schriftstellerin - und wenn auf irgend jemand von der Zunft dies Adjektiv zutrifft, so auf sie! - in München. Politisch setzt sie sich für die »Grünen« ein. Schon im März 1977, also zweieinhalb Jahre vor der »Zeit«-Veröffentlichung, wandte sie sich in Sachen Reichstagsbrand mit einem offenen Brief an den führenden Mitarbeiter des »Luxemburger Komitees«, Prof. Dr. Walther Hofer, in dem sie einleitend schrieb: "Zunehmend wächst das Mißtrauen gegen den demokratischen Staat, der nicht in der Lage ist, ein wissenschaftlich gesichertes Bild der jüngsten deutschen Vergangenheit, vor allem der Hitlerjahre, durch den Unterricht in Schulen, Berufsschulen und Universitäten sowie in den Darbietungen der Massenmedien zu vermitteln. Der geistig interessierten jungen Generation fehlen damit reale Ansatzpunkte für einen besseren Weg in die politische Zukunft. Selbstverständlich wird es in einer pluralistischen Gesellschaft stets divergierende Meinungen geben. Aber wissenschaftlich geklärte Sachverhalte, gerade historische Sachverhalte, müssen zu einem Konsens führen; unbelegte und unbewiesene Gegenbehauptungen oder gar Scharlatanerien dürfen auch als ideologische Dogmen von den Fachleuten, denen die Öffentlichkeit meint Vertrauen entgegenbringen zu dürfen, nicht über Jahre hin gefördert werden.« Mit diesen knappen Sätzen ist die Problemstellung des folgenden Beitrages wie dieser unserer Ausgabe umrissen.


Einen "politischen und wissenschaftlichen Skandal" nennt die Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« die Wiederaufrollung der Reichstagsbrandaffäre von 1933. Ihr umfangreiches Dossier über die Hintergründe der totalen Verwirrung der deutschen und internationalen Öffentlichkeit bei Beurteilung des historischen Vorganges vom 27.2.1933 veröffentlichte sie in vier Folgen (14.9.-5.10.1979) unter dem Titel: »Kabalen um den Reichstagsbrand - Geschichte aus der Dunkelkammer. Eine unvermeidliche Enthüllung.« Als Vorspann schreibt »Die Zeit«: »Der Reichstagsbrand von 1933, ursprünglich ein Symbol der Nazi-Diktatur, ist zum Gegenstand haßerfüllter Kontroversen unter den Historikern geworden. Angeheizt wird der Streit seit zehn Jahren von dem mysteriösen Generalsekretär eines ›Luxemburger Komitees‹. Sein Name: Edouard Calic. Er inszeniert eine Forschungsposse mit erstklassiger Besetzung: Politiker, Professoren und Publizisten spielen mit, ob sie wollen oder nicht. Niemand weiß, was den Mann bewegt: Fanatismus, Geltungsdrang, politische Überzeugung? Calic verwirrt die Öffentlichkeit mit fabelhaften Geschichten. Fälschungen und Intrigen drohen den guten Ruf der deutschen Geschichtsforschung zu ruinieren. In das Gewirr von Desinformation wird ›Die Zeit‹ in dieser und den nächsten Folgen eine Schneise schlagen."

Der Verfasser, Dr. Karl-Heinz Janssen, seit sechzehn Jahren Redakteur der Zeitung, hat ein Jahr lang daran gearbeitet, die "Fälschungen und Intrigen" zu entlarven. Deutsche, die den intakten Rechtsstaat - der durch die Möglichkeit eines solchen Skandals gefährdet ist - für die unersetzbare Grundlage aller sonstigen Strukturen nationaler Existenz halten, schulden der »Zeit« Dank, ungeachtet aller zahlreichen divergierenden Tendenzen. Deutsches Verständnis von Ehre fordert ein solches Verhalten.

Bei Beurteilung der Enthüllungen der »Zeit« gilt der Einwand nicht, daß solche Diskussionen im legitimen Freiheitsraum der Wissenschaft oft stattfinden und stattfinden sollen. Denn im Fall »Reichstagsbrand« wurde ein seit einem Jahrzehnt wissenschaftlich unangreifbares Werk (»Der - Reichstagebrand - Legende und Wirklichkeit«) und sein Verfasser, Fritz Tobias, mit politischen Diffamierungen angegriffen, die sich in geradezu fantastischem Umfang auf Verfälschungen, Fälschungen und Erfindungen des Calic stützen; es handelt sich um mehr als Ordnungswidrigkeiten, die Grenze zum Kriminellen ist überschritten.

Um so erschreckender ist die Feststellung der »Zeit«: »Hoch angesehene deutsche und ausländische Politiker, Publizisten und Professoren haben sich durch ihn (Calic) verleiten lassen, Haupt- und Nebenrollen zu übernehmen, sei es aus Ahnungslosigkeit, Leichtgläubigkeit oder aus Voreingenommenheit: Die Sozialdemokraten Willy Brandt, Herbert Wehner, Egon Bahr, Arno Scholz (öd); der ehemalige luxemburgische Außenminister und Parlamentspräsident Pierre Gregoire; der Berner Historiker Walther Hofer, Mitglied des Europarats und Schweizer Nationalrats; die Professoren Golo Mann, Eugen Kogon, Dietrich Bracher, Ernst Fraenkel (t), Emil Dovifat (öd) und andere; der Frankfurter Rechtsanwalt Robert Kempner, ehemaliger Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Am Rande mitbetroffen sind auch das Auswärtige Amt, das Bundespresseamt, die Bundeszentrale für Politische Bildung (früher Heimatdienst), das Kulturamt der Stadt Oberhausen. Diese Institutionen halfen, Calics Forschungen und Werbeveranstaltungen zu finanzieren. Man kann über diesen Fall schon deswegen nicht schweigen, weil im Laufe der letzten drei Jahre gegen den Generalsekretär, Prof. Dr. Calic, ehrenrührige Vorwürfe erhoben worden sind, verbreitet durch offene Briefe, deren Inhalt vielen Redaktionen und Institutionen, auch Politikern und Gelehrten in der Bundesrepublik bekannt ist. Den einen Brief richtete der angegriffene Ministerialrat a. D. Fritz Tobias an den sowjetischen Journalisten Lew Besymenski, den anderen die Münchner Publizistin Melitta Wiedemann an Professor Walther Hofer.« Soweit »Die Zeit«.

Führende Politiker antworten - handeln aber nicht

Ich kann dazu ergänzen, daß ich die Fotokopie meines Hofer-Briefes an Willy Brandt sogar zweimal geschickt habe, einmal in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SPD, dann an den Bundestagsabgeordneten; außerdem neben einer Anzahl weiterer Sozialdemokraten u. a. an Dr. Manfred Geßner, MdB, der antwortete, von Calics Arbeiten "außerordentlich beeindruckt zu sein", und als ich mit konkreten Hinweisen nachstieß, den Briefwechsel ausdrücklich verweigerte - ein Abgeordneter! Besonders betroffen war ich von der Antwort des einst so brillanten Münchner Oberbürgermeisters Dr. Vogel als Bundesjustizminister, der ein Mißverständnis konstruierte, um sich einer sachlichen Stellungnahme entziehen zu können. So gut wie alle Briefe wurden beantwortet, aber kein Minister, kein Parlamentarier und kein Fachhistoriker aus der Gefolgschaft des »Generalsekretärs« Calic hielt es für nötig, meine Angaben nachzuprüfen.

Auch an eine Reihe führender Herren der Opposition allerdings eine Minderheit - ging mein Brief (übrigens immer eingeschrieben). Sie antworteten ebenfalls freundlich, rührten aber keinen Finger.

Die Vorgeschichte in Stichworten

Nach dem Reichstagsbrand am 27.2.1933 hatte das Reichsgericht im gleichen Herbst den am Tatort gefaßten und eindringlich geständigen, auf seine Tat stolzen van der Lubbe zum Tode verurteilt, außerdem aber die Schuld der Kommunisten - nicht einzelner Personen unter ihnen - als gegeben festgestellt.

Da die junge Koalitionsregierung Hitler noch Gegner unter Reaktionären wie natürlich innerhalb der SPD und KPD hatte, wurden durch den Londoner »Gegenprozeß« in Sachen Reichstagsbrand, den der kommunistische Agitator Münzenberg inszenierte, und die dazu gehörenden Braunbücher und Flugblätter vorhandene und nun dazugekommene Gerüchte im In- und Ausland verbreitet, die Nationalsozialisten selbst hätten den Reichstag in Brand gesetzt. Sie gerieten aber bald, vor allem durch das Kriegsgeschehen, in Vergessenheit.

Nach 1945 wurden diese vagen Gerüchte im Zuge der allgemeinen Anschuldigungen gegen den Nationalsozialismus zum lautstarken Chor. Doch eine glaubwürdige, bewiesene Aufklärung erfolgte nicht.

Ein Sozialdemokrat kämpft für geschichtliche Wahrheit

Ein Sozialdemokrat, der 1933 "als Auswirkung des Reichstagsbrandes« - wie auch sein Vater Beruf, Stellung und Heim verloren hatte, Fritz Tobias, begann privat Unterlagen zu sammeln, da, wie er im Vorwort zu seinem Buch schreibt, »von berufener Seite eine Aufklärung kaum mehr zu erwarten stand". Seine Arbeit hatte Erfolg. Immer mehr Unverständliches wurde klar.

1956 legte die Bundeszentrale für Politische Bildung (damals: für Heimatdienst) in Bonn den »Forschungsbericht« des Dr. Richard Wobt über den Reichstagsbrand am 18.1.1956 als Beilage zu »Das Parlament" der Öffentlichkeit vor. Er enthielt die alten, unbewiesenen Gerüchte und war völlig ungeeignet, der Aufklärung zu dienen. Tobias mußte feststellen, daß seine eigene Arbeit unvergleichbar mehr sichere Informationen und Beweise zusammengetragen hatte. Ein zufälliges Gespräch darüber führte zu der eindringlichen Bitte eines maßgebenden Vertreters der Bundeszentrale, diese zuverlässigen Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Aber erst nach einem erneuten, dringenden schriftlichen Appell an seine "Verpflichtung gegenüber der historischen Wahrheit« erfüllte Tobias die ihm zugedachte Aufgabe. Zuerst erschien eine Auswahl seines Materials unter dem Titel »Stehen Sie auf, van der Lubbe« im »Spiegel« mit dem Kommentar des Herausgebers Rudolf Augstein, dies sei »das letzte Wort" in dieser Sache. 1962 lag Tobias' Werk selbst mit allen Beweisen und Belegen vor. Professor Hans Mommsen erstellte ein positives Fachgutachten für das Münchner Institut für Zeitgeschichte, Professor Rothfels, damals Direktor des Instituts, stimmte zu, und im Laufe der Zeit wurden es rund sechzig in- und ausländische Fachhistoriker, die Tobias' Forschungsergebnisse anerkannten, darunter der hochangesehene Brite, Professor Allan Bullock. Damit war ein wichtiges historisches Ereignis sachlich geklärt. Die Lehrer an den Schulen wußten, woran sie waren.

Aber der Regierungsbeginn der sozialliberalen Koalition brachte eine neue Wendung: Zurück zu den Braunbüchern Münzenbergs, zurück zu den Propaganda-Thesen der alten KPD! Mit ihren Unterschriften gaben Willy Brandt und Horst Ehmke dem Calic und seinem »Luxemburger Komitee" grünes Licht für ihr Verwirrspiel und über einige (von der »Zeit« genannte) Bundesinstitutionen auch das benötigte Geld.

Da es aussichtslos ist, die Überfülle an Tatsachenmaterial, das »Die Zeit« über Calics Betätigung als »Historiker« zusammengetragen hat, auch nur in Stichworten hier wiederzugeben, sollte sich jeder an der historischen Wahrheit Interessierte die »Zeit«-Serie beschaffen, möglichst Sonderdrucke anregen und soweit als irgend denkbar verbreiten, da nicht nur die gleichgeschaltete linksgedrallte Presse, sondern auch oppositionelle und sogar sogenannte »rechte« Blätter sich in Schweigen hüllen; soweit ich erfahren konnte, aus kommerziellen Gründen. So schwer hat es in der Bundesrepublik die Wahrheit!

Ausgestattet mit Wiedergutmachungsgeld, dem Doktorgrad und dem tätigen Wohlwollen der Mächtigen im Staate verfaßte Calic sein Buch »Ohne Maske" über den angeblichen Inhalt von Gesprächen Hitlers (rund zwei Jahre vor Beginn seiner Kanzlerschaft) mit dem angesehenen Leipziger Chefredakteur und Zeitungsbesitzer Breiting, einem Bürgerlichen. »Die Zeit« bezeichnet dieses Buch als reine der unverfrorensten Geschichtsfälschungen dieses Jahrhunderts« und hat diese Fälschungen und Erfindungen im einzelnen nachgewiesen. Aus diesen Produkten seiner Fantasie hat Calic später zahlreiche »Beweise« für seine »Widerlegung« der Forschungsergebnisse von Tobias und Professor Hans Mommsen destilliert. Später fand er im unerschöpflichen Nachlaß Breitings bei seiner Tochter, die in der DDR, in Leipzig lebt, immer neues, immer fantastischeres Material in Sachen Reichstagsbrand, wie er es gerade benötigte. Erst in allerletzter Zeit, als sein Gewerbe bereits aufgeflogen war, erklärte er dieses so prächtig ausgeschlachtete Material für »uninteressant«, wichtig seien nur die von ihm herbeigezauberten »neuen« Zeugen, die geheimnisvollerweise seit 1945 und länger geschwiegen hatten. Hier möchte ich aus meinem Hofer-Brief vom 5. 3. 1977 ein Beispiel mitteilen, wie Calic - und leider nicht ganz im Alleingang - solche Zeugen beschafft.

Wie Calic »Zeugen« fabrizierte

Beim Reichstagsbrand hatte es mehrere Zufallszeugen gegeben, darunter einen Studenten, Flöter, der noch vor dem Prozeß gegen van der Lubbe, aber nach seiner Vernehmung im Ermittlungsverfahren der NSDAP beigetreten war und dies auf eine Frage Dimitrows - unter Eid leugnete, sowie den Setzer Thaler, der mit seiner ganzen Familie Hitlergegner war. Im Krieg Mitarbeiter im »Einsatzstab Rosenberg«, gab sich Flöter nach 1945 als Widerstandskämpfer aus und wurde - vermutlich aus Geltungssucht - Mitarbeiter und »Zeuge« in Calics Diensten. Dabei log er den Mitzeugen Thaler zum fanatischen »Nazi« um; dessen Familie klagte daraufhin. Calic spürte inzwischen die längst verheiratete Witwe Thalers auf, der im Kriege verstorben war; sie hatte inzwischen auch ihren zweiten Mann verloren; an ihr praktizierte er seine »Zeugenbeschaffungsmethode«. Er lud die Dame in ein öffentliches Lokal ein und legte ihr einen von ihm fertig geschriebenen Brief zur Unterschrift vor, als angebliche Antwort auf eine nie geschriebene Anfrage von Prof. Hofer. Inhalt des Calic-Schreibens zur Unterschrift für die Witwe Thalers: Ihr verstorbener Mann habe ihr »des öfteren erzählt, daß er die SA-Brandstifter mit eigenen Augen im Reichstag gesehen habe". Die Dame protestierte gegen die ihr unterschobene Lüge, korrigierte entsprechend den Text, vergaß aber in der Aufregung, die Lügen zu streichen. Mit diesem - zumindest versuchten Prozeßbetrug hoffte Calic eine »Kronzeugin« für die »Nazi-Täterschaft« produziert zu haben; am Schluß des Briefes fügte sie auf Calics Bitten hinzu: "geschrieben nach meinem Diktat.« Diesen erschwindelten Brief legte Flöter in seinem Prozeß dem Gericht vor. Die verschiedenen Datumsfälschungen in den Briefen kann ich übergehen. Jedenfalls bedankte sich Professor Hofer auf Briefbogen der Universität Bern am 27.9.1976 bei der »Zeugin« für den ergaunerten »Antwortbrief« auf seine nie gestellte Anfrage.

Doch der Schwindel war bereits aufgeflogen. Und Prof. Hofer erhielt von der Witwe Thalers ein Schreiben vom 5.11.1976, in dem es u.a. hieß: »Ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich mich von dem Diktat von Herrn Ca(r)lic, das er mir zur Unterschrift vorgelegt hat, distanzieren muß. Mein Mann, ein immer entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, war in der Tat wie viele andere der Ansicht, daß die Reichstagsbrandstiftung ein Werk der Nationalsozialisten war. Er hat niemals mir gegenüber gesagt, daß er mit eignen Augen die SA-Leute im brennenden Reichstag gesehen hat. Aus eignem Wissen kann ich zu der Frage des Reichstagebrandes nichts erklärend Dies zu Calics »Zeugenerschaffungskunst«. Nicht einmal die sorgfältige und umfassende Darstellung des Wissenschaftsskandals um Calic und Konsorten in der »Zeit« konnte - schon aus Raumgründen - die zahllosen unfaßlichen Einzelheiten dieser erschreckenden Affäre mitteilen.

In einem Rechtsstaat wäre es die vordringliche Aufgabe der Opposition (falls sie nach Sieg und nicht nach großer Koalition strebt), im Bundestag von der Regierung Aufklärung solcher unerträglichen Vorgänge zu fordern, an denen diese selbst beteiligt war.

DM 283.657,70 und ein Doktortitel

»Die Zeit« berichtet auch über die Methoden, mit denen Calic - ohne schlüssige Beweise für seine Widerstandstätigkeit - DM 283657.70 an Entschädigung erhielt. Schlüsseldokument: Eine »skandalöse« (»Zeit«) Aktennotiz, in der dem zuständigen Beamten mitgeteilt wurde, es sei zu unterstellen, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin, Brandt, und Innensenator Lipschütz (»Die Zeit«) "an einer fairen Behandlung der Entschädigungsansprüche des Herrn Calic aufgrund seiner weitverzweigten internationalen Beziehungen interessiert seien."

Mit Geld reichlich versehen, beschloß Calic sich einen westlichen Doktorgrad zu beschaffen, natürlich an der Freien Universität Berlin, nicht bei der zuständigen Ostberliner Humboldt-Universität, die den Schwindel vielleicht nicht mitgemacht hätte, oder weil ihm der westliche Doktor für seine Aktionen nützlicher erschien. Jedenfalls klappte auch dies Geschäft, das »Die Zeit« genau schildert, zufriedenstellend.

Wer Ethos und Ehre noch für Werte hält, wird Calics Lügen über seine Bekanntschaft mit einer Reihe der Männer vom 20.7.1944 in der Effektenkammer des KZ Sachsenhausen und ihre Verwandlung in »Zeugen« für die Reichstagsbrandstiftung durch die Nationalsozialisten für die widerlichste seiner Erfindungen halten. Weder Generalfeldmarschall von Witzleben noch Generalquartiermeister Wagner oder Peter Graf Yorck waren - worüber es keinen Zweifel gibt - auch nur einen Augenblick in Sachsenhausen, nur Hans von Dohnanyi. In diesem Zusammenhang war und bin ich fassungslos über das Verhalten des Sohnes dieses Widerstandskämpfers, des Staatssekretärs von Dohnanyi. Obwohl der Vater nach Staufenbergs Attentat sein Leben verlor, trat der Sohn nicht für die Ehre seines Vaters ein, als Calic diesen im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand-Prozeß als Spitzel Hitlers beim Senatspräsidenten Dr. Bünger verleumdete.

Lügen gefördert - Forschung zensiert

Im Zusammenhang mit dieser Skandal-Affäre erscheinen aber auch die neuesten Zensurmaßnahmen, die als »Indizierung« bezeichnet werden, in einem anderen Licht. Wissenschaftliche Werke in- und ausländischer Historiker, die, genau wie der Sozialdemokrat Tobias im Fall Reichstagsbrand, noch nicht bewiesene Behauptungen über Verbrechen in den Hitlerjahren überprüfen, werden als "jugendgefährdend" einfach aus dem Verkehr gezogen. Es wäre doch eine lohnende Aufgabe für junge Historiker, solche Forschungen, d.h. ihre Ergebnisse, wissenschaftlich - nicht mit Calic-Methoden - zu widerlegen! Die in Frage stehenden Werke darf ich hier nicht nennen, da dies der Zeitschrift, in der ich dies schreibe, gefährlich werden könnte. Wodurch unterscheidet sich solcher Terror gegen Historiker von den Zuständen im Osten, die man täglich kritisiert?

Wo bleibt die Solidarität der SPD?

Aber meine tiefe Verbundenheit mit und meine Ehrfurcht vor den Leistungen der deutschen Arbeiterbewegung - nicht nur als Lohn-Lobby - zwingt mich, einen anderen Aspekt dieses bösen Reichstagsbrand-Skandals wenigstens anzudeuten: Fritz Tobias, der den Reichstagsbrand aufklärte, aus einer Berliner Arbeiterfamilie stammt und seit 50 Jahren Mitglied der SPD ist, hat in den zehn Jahren, während ihn ein Calic beschimpfen und verleumden durfte, nie den Schutz und die Solidarität seiner Partei erfahren. Er hat ihr durch seine Leistungen als Regierungs-, Oberregierungs- und Ministerialrat im niedersächischen Innenministerium Ehre gemacht. Er ist mit höhnischen und leichtfertigen Floskeln abgespeist worden, als er bei seinen Parteioberen Aufklärung des Falles zu erreichen versuchte. Prof. Hofer hatte die Stirn, den Berliner Innensenator Neubauer aufzufordern, seinen Kollegen Lehners in Hannover zu bitten, »Tobias das Handwerk zu legen". Vom hannoverschen Innenminister forderte er direkt, Weiteres verfassungswidriges Verhalten des Fritz Tobias mit allen gesetzlichen Mitteln zu Unterbindens. Wie ist so etwas in dieser alten, erfahrenen, einst wie eine Familie zusammenhaltenden früheren Arbeiterpartei möglich?


Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 27(4) (1979), S. 3-7

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