RICHARD  WAGNERS  GRAL

Ein Bühnenmagier und seine Kunstreligion

von Peter DEIRIES (Stiftung Gralsbotschaft, Ditzingen)

Womöglich hat der eine oder andere schon resigniert oder sich daran gewöhnt, daß vorwiegend zwischen Wagnerianern und Wagner-Gegnern unterschieden wird. Diese Polarisierung ist als töricht zu bedauern und steht einer Bewertung des letzten Werkes Richard Wagners sicherlich im Wege.

Peter DEIRIES versteht seine Ausführungen daher nicht als einseitige Parteinahme, sondern vielmehr als sachgerechte Aufarbeitung und Begutachtung eines bedeutenden Werkes: Wagners Bühnenweihfestspiel "Parsifal" könnte durch diesen Zugang von manchen irrationalen Trugbildern befreit werden.

Ein Operbeginn ohnegleichen

Was für ein musikalischer Zauberer Richard Wagner war und immer noch ist, wird bereits in der Ouvertüre, dem "Vorspiel", wie es bei ihm heißt, unüberhörbar. Das ist eine Musik, die hier und da tief erschauern macht, ja, mitunter bis zum Atemstillstand führt. Es beginnt sehr langsam und feierlich mit dem Abendmahlsmotiv in As-Dur (Notenbeispiel 1), das unisono von den Violinen und Celli - an allen Pulten jeweils nur die ersten Spieler - sowie von den drei Klarinetten und drei Fagotten intoniert wird, wozu sich zwischendurch noch kurz das Englischhorn (eine Alt-Oboe) gesellt. Der schwebende, materielose Zustand dieser Musik entsteht indessen nicht nur durch das synkopierte Zeitmaß, sondern auch durch den gedämpften, kaum unterscheidbaren Klang der Instrumente, so daß im Hörer gleich der Eindruck entsteht, seiner normalen Alltagswelt enthoben zu werden.

Das verstärkt und vertieft sich noch ab dem 6. Takt, wo ein zarter Klangteppich aus Streicherarpeggien ausgebreitet wird, eine Wellenbewegung in Zweiunddreißigsteln, deren Regelmäßigkeit - wie um ja keinen realen, diesseitigen Eindruck aufkommen zu lassen! - durch eine Triolenbewegung und zusätzliche Synkopierungen in den Holzbläsern hintertrieben wird. Das diffuse Weben, über welchem das Abendmahlsmotiv erneut anklingt, setzt sich fort, nunmehr von den Oboen und einer Trompete (diese allerdings im Pianissimo) unterstützt; gleichsam der erste milde Lichtstrahl. Und nachdem die pulsierenden Streicher in der Tiefe verebben und die Bläser sich in der Höhe verflüchtigen, entsteht wiederum die gespannte Stille des Anfangs. Generalpause.

Danach kommt es zu einem erregenden Farbwechsel: Im Gegensatz zur introvertierten Feierlichkeit des Anfangs ertönt das Abendmahlsmotiv jetzt (Beispiel 2) als extrovertierter Ausdruck der Qual in c-Moll, was durch Richard Wagners "Schmerzfigur" (nach einem grellen Anstieg von as nach h) wie auch durch die zwei flankierenden Sforzati (sforzato = plötzlich verstärkt) bewirkt wird.

Ein packender Moment. Und zum drittenmal sinkt das Motiv ins Pianissimo zurück, während sein Nachhall von einem Bläserakkord aus Hörnern, Posaunen und einem Paukentremolo aufgenommen, gehalten und leicht moduliert wird. Spätestens hier befindet sich ein empfindsamer Hörer ganz im Banne Wagners und dieser ebenso erhabenen wie ergreifenden, aber, so muß hinzugefügt werden, auch peinvollen, sehrenden Klänge. Nach einer erneuten Generalpause erklingt jetzt vom Blech, aber noch ohne die Baßtuba und ohne die Hörner geblasen, das sanfte, getragene Gralsmotiv (Beispiel 3), dem gleich darauf das posaunengepanzerte Glaubensmotiv (Beispiel 4) gegenübergestellt wird, das dröhnend im Fortissimo endet und sofort eine Terz höher triumphal wiederholt wird. Und wieder verebbt der volle, markige Bläserklang, sinkt in sich zusammen. Wie ein fernes Echo folgt noch einmal das wunderbar linde Gralsmotiv, leise von den Streichern intoniert, und beschließt den ersten Teil des Parsifal-Vorspiels: Neunundfünfzig der 124 Takte sind verklungen ...

Zum Raum wird hier die Zeit

Das so genannte Gralsmotiv verdient freilich gesonderte Aufmerksamkeit. Diese Melodie ist von einer solchen Schönheit, daß der hingerissene Hörer glauben möchte, dem Komponisten habe sich hier buchstäblich der Himmel aufgetan.

Doch leider wird dieser Enthusiasmus einen gewissen Dämpfer hinnehmen müssen. Falls der Leser oder Hörer über umfassende musikalische Kenntnisse verfügt, kann ihm kaum der Umstand entgangen sein, daß jenes "Gralsmotiv" bereits mehrere Jahrzehnte vorher bei Felix Mendelssohn-Bartholdy anzutreffen ist, und zwar dreimal im 1. Satz seiner Sinfonie Nr. 5 D-Dur op. 107, der "Reformations-Sinfonie". Die Inspirationsquelle beider Komponisten ist allerdings rein irdischer Natur: Sie beziehen sich - gewiß getrennt voneinander - auf eine noch ältere Melodie, das "Dresdener Amen" eines gewissen J. G. Naumann. Diese Duplizität der Ereignisse mag irritieren, und mancher Wagner-Fan wird das nicht so gern wahrhaben wollen. Aber am Ende dürfte es sicherlich ein jeder Hörer - sowohl bei Mendelssohn als auch bei Wagner - als eine gelungene Wiederverwertung bezeichnen.

Anders als mit dem Gralsmotiv, wo Wagner hinter sich gegriffen hatte, verhält es sich mit seinem erstaunlichen Wort von der "Raumzeit", das er den Eremiten Gurnemanz zu Parsifal sprechen läßt und das weit in die (naturwissenschaftliche) Zukunft zu verweisen scheint. Wir können es heute kaum verhindern, daß dieser im Zuge von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie populär gewordene physikalische Begriff die Ausdrucksweise Wagners im Nu überlagert. Zugleich stehen wir vor einem doppelten Dilemma: Wir erachten die Wortwahl in beiden Fällen zwar als eine glückliche, können jedoch weder bei Wagner noch bei Einstein auf Anhieb sagen, was damit gemeint ist. Die Gründe dafür: Wagner verbarg sich mit Vorliebe hinter seiner genialen Musik, welche herrliche wie grauenvolle Textstellen in die zweite Reihe verweist. Und um Einstein zu begreifen, wäre es erst einmal erforderlich, das Weltbild Isaac Newtons sehr genau zu kennen. Albert Einstein hatte zur Diskussion gestellt: Falls die Zeit eine absolute Größe ist, wie von Newton postuliert, kann die Lichtgeschwindigkeit keine Konstante sein. Mißt man dagegen eine konstante Lichtgeschwindigkeit, so kann die Zeit nicht absolut sein. Seine Schlußfolgerung: Statt der absoluten Zeit in Newtons Physik, die allgemein galt und somit für jedermann verbindlich war, gibt es nur die Zeit, die ein jeder von seiner eigenen Uhr abliest.

Jener tiefverwurzelten Vorstellung von einer Zeit, welche verrinnt, war damit ein für allemal der Garaus gemacht. Laut Einstein war sie nichts anderes als ein Vorurteil gewesen, genaugenommen sogar nur eine menschliche Erfindung!

Die Existenz eines "Zeitflusses", den Newton entwickelt hatte, dem man zwei Jahrhunderte hindurch gefolgt war und der so elegant in seine Theorie paßte, war von ihm nie bewiesen worden, was er selber auch erkannt hatte. Der Zeitfluß war indessen von allen als wahr angenommen worden, weil er völlig richtig erschien. Er konnte sich deshalb so lange halten, weil Newtons Physik so überaus erfolgreich gewesen war; und die Physiker, die nach ihm kamen, verschwendeten deshalb auch keinen weiteren Gedanken an den alten eingebürgerten Begriff der vergehenden Zeit.

Erst Einstein bemächtigte sich dieses Zeitmodells als eines ungeprüften Axioms und führte ein neues Verständnis von Raum und Zeit ein. Außer einigen betagten Physikern gerät mittlerweile niemand mehr in Panik, wenn er hört, daß es eine verrinnende Zeit nicht gibt, sondern ausschließlich räumliche Formveränderungen (wie z. B. Zellwachstum usf.). Einstein zeigte, daß Zeit, ebenso wie die Existenz eines Äthers, lediglich eine Hilfskonstruktion der klassischen Physik gewesen war, deren autoritäre Regeln durch seine Relativitätstheorie überwunden wurden.

Wie aber verhält es sich nun mit besagter Zeit in Wagners Parsifal? "Steht" sie dort auch und wird zum Raum? So glücklich Wagners Formulierung auch anmuten mag, so verschlüsselt scheint sie dennoch im Grunde zu verbleiben. Wagner versperrt sich auch hier der Erörterung seines Gedankenganges, so daß mir nur übrig bleibt, meinen persönlichen Eindruck wiederzugeben. Ich erlebe in den Verwandlungsszenen zum Gralstempel (1. und 3. Aufzug), wo Parsifal und Gurnemanz anfangs vor einer Wandeldekoration dahinschreiten und die Erwartung des Publikums durch den mächtig kreisenden Klang der ohrenbetäubenden "Gralsglocken" (wiederholte Tonfolge: c-G-A-E) förmlich aufgeladen wird, tatsächlich eine "statische" Musik. Eigentlich das typische Merkmal indischer Tonkunst, die überhaupt nicht vom Fleck kommen will, tritt sie auch im Parsifal auf der Stelle, den Hörer in einen Zustand "träumerischer Entrückung" (Wagner am 1. 11.1882) versetzend - ich finde: eher schon in Trance - oder, ähnlich wie in Indien, zur Meditation anstiftend. Zumindest geschieht im Zuhörerraum, der in dieser Oper bekanntermaßen zum Tempel umfunktioniert wurde, etwas durchaus Artverwandtes.

Wagner gelingt es hier allerdings, indem er alle Register zieht (vom vollen "Werk" über eine extra Bühnenmusik aus Trompeten, Posaunen und Rührtrommel bis hin zum verlorenen Klang eines Cello-Rinnsals über einem leisen, 13taktigen Paukentremolo sowie schließlich zu seraphischen Chören, die sich quasi aus der Höhe herabsenken), die ungeheuere Hochspannung die ganze "Zeit" über bis zum Ende dieses riesenhaften Aktes aufrechtzuerhalten, und das, obwohl erstaunlicherweise auf der Bühne so gut wie nichts passiert, vielmehr nur so herumgestanden wird. Fürwahr, eine echte Meisterleistung!

Indes kann Meditation, entgegen anders lautenden Behauptungen, niemals ein wünschenswerter Zustand sein. Meditation, dieser scheinbar harmlose Begriff bedeutet, oberflächlich gesehen, weiter nichts als "Nachsinnen", in der vorherrschenden Praxis jedoch "mystische Versenkung". Wenn nun Hörer des Parsifal glauben, in jene extravagante Befindlichkeit verfallen zu müssen, sollten sie jedenfalls wissen, daß sie sich auf eine absolut außermusikalische Ebene begeben haben. Sie wurden zu Jüngern von Wagners Ideologie - einer Kunstreligion, eines philosophischen Egoismus ("Erlösung dem Erlöser!") - umkränzt von sinnlich strotzendem, gelegentlich auch tief mysteriösem Orchesterklang im Kirchenton.

Und der "Karfreitagszauber" im 3. Akt? So mögen viele einwenden. Gehört er nicht zum besten, was jemals komponiert wurde? Zweifellos, obwohl es mich ein wenig stört, daß Wagner, der behauptete, dies wirklich an einem Karfreitag komponiert zu haben, meinte, in diesem Falle schwindeln zu dürfen.

Der Gral, der Quell der Wahrheit, bleibt indessen auf der Strecke. Wagner, der große erzmusikalische Zauberer, der in seiner letzten Oper die Reinheit zum alles entscheidenden Kriterium gemacht hatte, nur leider ganz einseitig mit ihr verfuhr, indem er seine handelnden Personen mangels körperlicher Reinheit scheitern ließ, unterzog den Gralsstoff zwar einer ausgeklügelten Dramaturgie, führte uns jedoch nicht auf die rechte, die geistige Spur! In dieser Oper wird es zunehmend stickig, geht es mystisch zu. Es glüht zu dunkel, "sehrt" zu sehr. Es hapert an einem reinigenden und belebenden Luftzug. Kurz, es fehlt einfach das wichtigste: der Gral.


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