Richard Löwenherz und sein Nachruhm

von M. Prietzel

Richard Löwenherz wird heute in der öffentlichen Meinung als größter englischer König des Mittelalters wahrgenommen. Er hat einen Ruf als gerechter, vorbildlicher Herrscher, glänzender Ritter und gläubiger Christ. Zahlreiche Legenden und Erzählungen ranken sich um seine nur zehnjährige Regierungszeit (1189-99), speziell um den Kreuzzug, die folgende Gefangenschaft in Deutschland und schließlich seinen Tod. Als großer Krieger wird Richard in einem Atemzug mit sagenhaften Helden wie Hektor, Achill, Alexander und Roland genannt. Als Herrscher stellt Richard Löwenherz den Engländern in etwa das dar, was den Franzosen Karl der Große (im mittelalterlichen Kontext, etwas moderner auch Napoleon), den Deutschen Friedrich Barbarossa war oder ist: ein der Realität entrückter Herrscher, glorifiziert und mystifiziert. König Artus, ähnlich sagenhaft, ist dank seiner bretonischen Herkunft als englischer Nationalheld wohl nicht ganz so geeignet gewesen.

Wenn man den historischen Kontext genau in Augenschein nimmt, verwundert es, dass Richard Löwenherz so sehr mit England identifiziert wird. Denn Richard war alles andere als ein “englischer” Herrscher. Als Angehöriger des Herrscherhauses der Plantagenets wuchs er in Frankreich auf und war bereits 15 Jahre Fürst von Aquitanien, als er 1189 von seinem Vater die Regierung über das gesamte Angevinische Reich übernahm. Von seiner zehnjährigen Regierungszeit verbrachte er nur knapp drei Monate auf den Britischen Inseln, den Rest der Zeit war er auf Kreuzzug, gefangen in Deutschland oder auf den festländischen Besitzungen beschäftigt. Die sächsische Sprache, die in England gesprochen wurde, beherrschte Richard nur unzulänglich.

Auch Richards Kreuzzugsentscheidung, die wesentlich zu seinem Ruf als gläubiger Christ beitrug (auf den auch weiter unten noch eingegangen wird), bestärkt bei genauerer Betrachtung die Annahme, dass sich Richard eher als Plantagenet denn als Engländer sah. Er nahm das Kreuz 1187, also zwei Jahre bevor sein Vater Heinrich II. starb und Richard das gesamte Angevinische Reich erbte. Dahinter standen durchaus dynastische Interessen des Hauses Anjou. Ein Familienzweig der Plantagenets hatte das Königreich Jerusalem beherrscht (Richards Urgroßvater Fulko war König von Jerusalem gewesen), und wie schon sein Vater Heinrich II. meldete auch Richard Ansprüche auf das Erbe an.

Und auch im Tod war Richard kein englischer Herrscher: Er starb 1199 auf dem Kontinent, und seine Beisetzung fand ganz in der Tradition der Angevinischen Herrscher in Fontevraud im Anjou statt. Sein Herz wurde auf eigenen Wunsch separat in der Gruft der Kathedrale von Rouen begraben.

Dass er es trotz seiner Verwurzeltheit auf dem Kontinent in der Überlieferung zum klassischen englischen Mittelalterkönig brachte, hat mehrere Gründe. Teilweise wurde es sicher bewusst von nationalenglischen Parteien gefördert, als Ausdruck der Sehnsucht der Engländer nach einem Nationalheld, der den oben genannten wie Karl der Große oder Barbarossa ebenbürtig ist. Teilweise ist sie aber auch sicher Folge der “natürlichen” Anglozentristik späterer Historiker. Die Plantagenets wurden nach und nach von ihren festländischen Besitzungen verdrängt, so dass ihnen am Ende nur noch England blieb. Es verwundert nicht, wenn spätere Autoren England lieber als Mittelpunkt und nicht als weniger bedeutende Randprovinz eines großen Reiches sehen wollten oder konnten.

Ein Blick auf die Herrscher um Richard Löwenherz zeigt die gängige mittelalterliche Praxis der Geschichtsschreibung. Philipp August von Frankreich, der große Gegenspieler Richards, hatte Hofhistoriker, die sein Image posthum in ihren Chroniken aufpolierten. Richards kleiner Bruder und Nachfolger Johann Ohneland hatte weder eigene Geschichtsschreiber, noch war ihm die Geistlichkeit wohlgesonnen, weswegen er einen so schlechten Leumund hat. In Richards Fall waren ihm zumindest die geistlichen Chronisten gewogen, da er ein gottesfürchtiges Leben führte: Er hatte das Kreuz genommen, besuchte täglich die Messe und tat sich durch besonders großzügige Schenkungen an Klöster und Kirchen hervor.

Spätere Geschichtsschreiber hatten patriotische Interessen an einem “großen” Richard und stellten ihn entsprechend als vorbildlichen, ritterlichen Herrscher dar. Dass die Verehrung für den englischen König jedoch nicht ausschließlich auf patriotische Gründe zurück zu führen ist, geht aus den für Richard nicht minder vorteilhaften Zeugnissen in den französischen Chroniken der Zeit hervor. Auch in der deutschsprachigen Literatur des Hochmittelalters genoss Richard einen Ruf als idealer König und vorbildlicher Herrscher, so in der Empfehlung Walthers von der Vogelweide an seinen Gönner, König Philipp, einen Staufer (und deswegen traditionellen Gegner der Plantagenets), sich Richard und Saladin zum Vorbild zu nehmen.

Zu den Propagandataktiken des Mittelalters gehörte auch die Verbreitung von Gerüchten. Noch zu Lebzeiten förderte Richard persönlich nach Kräften Legendenbildung um die eigene Person, sowohl um seine Untertanen und seine Truppen zu beeindrucken, als auch um seine Feinde einzuschüchtern. So setzte er das Gerücht in die Welt, die Plantagenets würden vom Teufel abstammen, um seine deutschen Feinde und Saladin in Angst zu versetzen.

Richards besondere Beziehung zu Minnesängern zeigt nicht nur die Tatsache, dass er selber kompositorisch tätig war (zwei seiner Lieder sind überliefert), sondern auch in der Legende um Blondel, den wahrscheinlich nur fiktiven Spielmann. Als alter Freund Richards soll er durch Europa gezogen sein und schließlich das Gefängnis des Königs gefunden haben, indem er sich ihm über ein gemeinsames Lied zu erkennen gab. Diese Legende wurde in verschiedenen Versionen immer wieder wiederholt, in moderneren Versionen wirkte Blondel sogar aktiv an der Befreiung Richards mit.

Im Zuge der nach dem 2. Weltkrieg einsetzenden Dekonstruktion des Richardbildes durch verschiedene Historiker wurde die Freundschaft zwischen Blondel und Richard zunehmend homosexuell gedeutet. Auch andere Details schienen manchen Historikern auf eine homosexuelle Orientierung Richards hindeuten: sein Zögern beim Finden einer Braut und die Tatsache, dass die Ehe kinderlos blieb sowie mehrdeutige Hinweise in Chroniken.

Über Ursachen und Mechanismen des “Outens” historischer Personen ließe sich bestimmt eine Doktorarbeit anfertigen, doch es lassen sich grob gesehen drei Beweggründe eingrenzen, die sich teilweise auch widersprechen: 1.) Sensationslust in boulevard-journalistischer Tradition. 2.) Beweis der “Natürlichkeit” von Homosexualität und gleichzeitig Bereitstellung von Rollenmodellen für Menschen im Coming-Out. 3.) Diskreditierung von Personen über alte Vorurteile. Im Fall Richard Löwenherz’ liegen besonders die Gründe 1 und 3 nahe. In den prüden Zeiten der 1950er war Homosexualität noch schockierend und abstoßend für die meisten Menschen, und welches Instrument schien besser geeignet, einer historischen Persönlichkeit einen entscheidenden Stoß zu versetzen, sie ihren Heiligenscheins zu berauben?

Aus heutiger Sicht erscheint die Diskussion um sexuelle Orientierung mittelalterlicher Herrscher müßig. Nachweisbar ist sie nicht, gerade im Fall Richards nur spekulativ, und in wenigen Fällen lediglich trägt die Annahme homoerotischer Neigungen zu einem besseren Verständnis des Charakters von Personen der Geschichte bei (wie im Fall Wilhelms II). [Was soll diese alberne Anspielung? Es hat noch niemand ernsthaft behauptet, daß Wilhelm II schwul war, zumal er - im Gegensatz zu Richard Löwenherz - jede Menge Kinder hatte, Anm. Dikigoros.] Wirklichen historischen Wert hat sie selten.

Als exemplarisch für die Legendenbildung um Richard Löwenherz können schließlich die Geschichten um seinen unerwarteten und bedauernswert unspektakulären Tod gesehen werden. Richard wurde in Friedenszeiten auf einer unwesentlichen Expedition 1199 von einem Armbrustschützen bei der Belagerung von Chalus-Chabrol getroffen und verstarb wenig später. Wie bei Friedrich Barbarossa, der 1190 auf dem Kreuzzug beim Baden einen Herzschlag erlitt, oder bei Elvis Presley, der mit einer Überdosis aus Drogen und Medikamenten seinen eigenen Tod herbei führte, oder bei Jesus, der von den Römern als Aufrührer hingerichtet wurde, ist die Banalität des Todes für Fans und Bewunderer nur schwer zu akzeptieren. Wie Barbarossa nun im Kyffhäuser auf seine Stunde wartet und Elvis Presley nach dem vorgetäuschten Tod vom FBI mit einer anderen Existenz ausgestattet wurde, wie auch Jesus vom Tode auferstand um dann dramatisch in den Himmel aufzufahren, so ranken sich auch um den Tod Richard Löwenherz’ Legenden, auch wenn sie zugegebenermaßen nie so weit gingen, Richard wieder lebendig zu machen (wie in den Fällen Barbarossa, Elvis, Jesus). Aber wenigstens auf Schatzsuche soll Richard gewesen sein, nicht auf einem kleinen Feldzug zur Sicherung der Besitzungen in Aquitanien.


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