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Wo hat der Komponist den Antisemitismus versteckt?
Ein Plädoyer, bei Wagner etwas genauer hinzuhören

von Clemens Nachtmann (Jungle World Nr. 33, 11.08.1999)

Über Richard Wagner ist offenbar nach wie vor keine vernünftige Verständigung möglich. Der fanatisch-verbiesterten Wagner-Gemeinde, die eine jede Kritik am Meister als Sakrileg empfindet, ist mittlerweile eine Anti-Wagner-Gemeinde zur Seite getreten, die ihr Geschäft nicht minder fanatisch und eifernd betreibt und die vor allem eines auszeichnet: Daß die meisten von ihnen von Wagners Musik absolut nichts verstehen.

Emsig werden da Tagebücher, Briefe, Schriften und andere Einlassungen von oder über Wagner zusammengetragen und ausgewertet, um umständlich zu beweisen, was erstens kein Geheimnis ist, was zweitens jeder, der es wissen will, in allgemein zugänglichen Schriften nachlesen kann und was, drittens, außer ein paar besonders verstockten Reaktionären kaum jemand ernsthaft bestreitet: daß Wagner ein Antisemit war.

Wie bei vergleichbaren Debatten, etwa über Heidegger, wird die übliche Methode der Erledigung angewandt: Man schließt von üblen Worten oder Taten der Person auf das philosophische oder künstlerische Werk. Eine Heidegger-Kritik, der aber der Nachweis nicht gelänge, daß seine Philosophie selbst bis in ihre feinsten Verästelungen faschistisch ist - daß der Nachweis zu führen ist, haben Adorno und Bourdieu auf je eigene Art demonstriert - wäre überflüssig.

Und so verhält es sich bei den meisten Anti-Wagnerianern: Was sie über die Musik aussagen, sind Platitüden, in denen zumeist die oberflächlichen Geschmacksurteile, die die Wagner-Fans über die von ihnen geschätzte Musik abgeben, einfach übernommen, aber entschieden negativ bewertet werden. Vom rauschhaft-orgiastischen Strom seiner Musik ist da gern die Rede, vom Sog, in den man gerate, bzw. vom Bann, in den man gezogen werde beim Anhören von Wagners Musik.

Man fühlt sich bei derart hochmoralischen Verurteilungen unweigerlich an gewisse mittlerweile zum Glück so gut wie nicht mehr existente autonome Sturmtrupps erinnert, die das Zeigen von Filmen oder das Vortragen von Texten verhindern, auf die Frage jedoch, ob sie die inkriminierten Produkte denn gesehen oder gelesen hätten, prompt versichern: um Gotteswillen, Nein!, denn man dürfe sich solchen Elaboraten, die ganz raffiniert und unterschwellig "rassistische" oder "sexistische" Inhalte transportierten, nicht aussetzen.

Was aus solcher Verhaltensweise spricht, ist neben der Angst des Paranoikers vor geheimnisvoller Infizierung vor allem die Bereitschaft zur grenzenlosen Selbstentmündigung; bei den meisten Wagner-Kritikern verhält es sich ganz ähnlich. Von daher kann man Eckhard Henscheids Intention nur zu gut nachvollziehen, wenn er in dem vor zwei Jahren in konkret erschienenen Artikel "Wagner-Märlein" gegen das vor Aufarbeitungsdrang und Betroffenheitsgeschwalle platzende Gedenke über das Verhältnis Wagner und Hitler resp. Nationalsozialismus poltert.

In keiner Weise von der polemischen Intention mehr gedeckt ist dann freilich Henscheids Konter, daß in "Wagners Opernwerk (Ö) sich keinen Satz und keinen Takt lang Antisemitisches noch Chauvinistisches noch gar Nazifaschistisches (findet)". Das Bayreuther Freibier, lebenslang täglich ein Kasten, das Henscheid Joachim Köhler, dem Autor eines von ihm kritisierten Buches, für den Fall in Aussicht stellt, daß dieser ihm das Gegenteil beweisen könne, mag Henscheid lieber "zügig, ja schmetternd" (Henscheid) sich selbst einverleiben und in seinem Opernführer "Verdi ist der Mozart Wagners" nachblättern, wo er weitaus Erhellenderes zur Sache zu sagen hat als in seinem konkret-Artikel.

Dabei ist es, wenn man erst einmal bereit ist, musikalisch-technische Sachverhalte als gesellschaftliche zu dechiffrieren, gar nicht mal so unmäßig schwierig, der Wahrheit von Wagners Werk auf die Spur zu kommen: Sowenig sich der Revolutionär Wagner, der sich im Dresden des Jahres 1848 als Schlachtenbummler betätigte und daraufhin steckbrieflich gesucht wurde, vom antisemitischen Reaktionär säuberlich trennen läßt, da beide Momente in einer einem romantischen Antikapitalismus entspringenden konformistischen Rebellion zusammenfallen, so wenig läßt sich musikalisch irgendeine materiale Innovation Wagners denken, die nicht zugleich ihr unmittelbares Gegenteil enthielte.

Wagners Idee des "Musikdramas", in dem Wort und Musik in notwendiger Beziehung zueinander stehen, war als Polemik gegen die bürgerliche Genrekunst und gegen ihr bloß äußerliches Zusammenflicken gemeint. Das Wort soll Ausdruck unverstellter Gefühle sein, die Musik soll solchem Ausdruck dienen, indem sie Anspruch auf symphonische Durchbildung erhebt. Aber das Gesamtkunstwerk ist, wie Adorno im "Versuch über Wagner" notierte, "die Form der falschen Identität. Musik, Szene, Wort werden integriert einzig, indem der Autor - das Wort Dichterkomponist bezeichnet nicht übel das Monströse einer solchen Position - sie behandelt, als konvergierten sie alle in demselben. Damit aber tut er ihnen Gewalt an und verunstaltet das Ganze."

Die Integration verdankt sich der herrisch-verfügenden Geste, einem Willkürakt; was sich gegen das Veranstaltete und Arrangierte des bürgerlichen Kunstbetriebs wendet, ist erst recht Veranstaltung, rationale Kalkulation eines Irrationalen: die unmäßige "Ring"-Tetralogie ist bereits vom Schlage kulturindustrieller "Live-Events" und Erlebnisparks und antizipiert Hollywood so gut wie den Reichsparteitag. Außerdem geht die Integration der Künste auf Kosten der je einzelnen Kunst, deren Autonomie nicht einfach revoziert werden kann.

Wagner emanzipiert zwar die Melodiebildung von den engen, überschaubaren, meist vier- bis achttaktigen Perioden und den von ihnen abgeleiteten Symmetrieverhältnissen; aber der Zugewinn an ausgreifender Gebärde und Flexibilität wird bezahlt mit einer Entdifferenzierung des musikalischen Verlaufs. Der melodische Fluß ist von seltsamer Unschärfe, als sei er von vornherein für Hörer konzipiert, die nicht genau zuhören. Anstatt in sich sinnvoll artikulierte, in jedem Augenblick Erinnerung und Vorblick in sich bergende musikalische Zeit vorzustellen - nichts anderes wäre der von Wagner selbst prätendierte symphonische Charakter des Musikdramas -, verräumlicht sich die Zeit zum gleichsam geschichtslosen Stillstand.

Als Substitute von Zeiterfüllung treten die Leitmotive ein, deren archaischer, signalhafter Charakter keine eigentliche Entwicklung gestattet, sondern nur die unablässige Sequenzierung, d.h. die Wiederholung auf anderer Tonstufe oder Fortspinnung. Unplastik des Gesamtverlaufs und appellativer Gestus des Einzelereignisses, das wie auf den Hörer zugeschnitten ist, der anstatt musikalischer Zusammenhänge nur "schöne Stellen" hören mag, entstammen derselben kompositorischen Strategie, die unendliche Ausspinnung eines an sich banalen Reservoirs von Motiven, mit unmäßiger Bedeutungsschwere aufgeladen, für musikalische Zeitgestaltung auszugeben.

Das Phantasmagorische und Ahnungsvolle, das Wagners Musik eignet, korreliert freilich mit den von ihm gewählten Stoffen in ihrer Tendenz, historische Zeit in der mythischen stillzustellen. Genausowenig wie die Handlung kennen die Personen geschichtliche Zeit: Im "Ring des Nibelungen" gibt es keine Individuen mehr, sondern reflexionslos dem Wechsel ihrer Affekte ausgesetzte, ihrer selbst nicht mehr mächtige Figuren.

Wagners Werk spricht aus, was dem an sich irre gewordenen, seine Ohnmacht ahnenden bürgerlichen Individuums nur bleibt: Entsagung und masochistische Selbstpreisgabe im Tod. Indem Wagner den damals kurz bevorstehenden Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, den er ahnt, doch nicht beim Namen nennen kann, als metaphysisches Schicksal darstellt, verklärt er ihn und schlägt sich auf die Seite der herrschenden Mächte.

Und dennoch ist auch Wagners Phantasmagorie des Untergangs nicht lükkenlos gefügt: Zumal im "Tristan" arbeitet er, wie Adorno am Ende seines Wagner-Buches zu Recht anmerkt, dem Schicksalszwang entgegen: "Die Fieberpartien des dritten Aktes Tristan enthalten jene schwarze, schroffe, gezackte Musik, die nicht sowohl die Vision untermalt als demaskiert (Ö ). Mit Grund stehen jene Figuren der Tristanpartitur an der Schwelle der Neuen Musik, in derem ersten kanonischem Werk, Schönbergs fis-moll-Quartett, die Worte erscheinen: 'Nimm mir die Liebe, gib mit dein Glück!' Sie sagen, daß Liebe und Glück falsch sind in dieser Welt, in der wir leben, und daß alle Gewalt der Liebe übergegangen ist an ihr Gegenteil."


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