Ein Hoch auf den alten Haudegen

200 Jahre nach der Schlacht von Trafalgar feiern die Briten Admiral
Nelson und träumen manchmal noch vom Glanz vergangener Tage

von Peter Nonnenmacher (Frankfurter Rundschau, 21.10.2005)

Bilder, Anmerkungen und Links: Nikolas Dikigoros

Tief drunten im Rumpf der HMS Victory, im dämmerigen Bauch der britischen Seefahrtsgeschichte, bezeichnet eine kleine beleuchtete Gedenktafel den Platz, an dem der Held der Nation, niedergestreckt von einer französischen Kugel, sein Leben aushauchte. "Hier also, James", belehrt ein englischer Großvater den Enkel, "ist Lord Nelson gestorben." Der Junge, gerade vier, weiß nicht so recht, was er mit diesem Stückchen Information anfangen soll: "Wer ist gestorben, Granddad?" "Lord Nelson", sagt Großvater geduldig: "Der Mann, der all diese großen Siege errungen hat."

Kaum jemandem, außer dem kleinen James, kann wohl an diesem Tag verborgen geblieben sein, wer auf diesem Schiff vor 200 Jahren zur Stunde seines größten militärischen Triumphes gestorben ist. Mit Nelson-T-Shirts, Nelson-Falthüten, Nelson-Zinnsoldaten und Nelson-Schokoladetalern quellen schon die Läden auf dem Weg zur Victory über. Teebecher und Gedenkteller, Puzzles und Poster künden vom Jubiläum des Jahres, der maritimen Jubelfeier im alten Hafen von Portsmouth. Von Schlüsselringen mit dem Konterfei Horatios über "Trafalgar-Korkenzieher" bis hin zu Victory-Modellen für die wahren Enthusiasten reicht die Flut kurioser Memorabilien. Einen Hocker "mit Original-Holz" vom Nelson-Schiff kann man für 2700 Euro mit nach Hause nehmen.

Gedämpfte Aufregung und frivole Kommentare kontinentaler Touristen begleiten die Vorbereitungen für die 200-Jahr-Feier. Die Creperie auf dem historischen Gelände verzeichnet lebhaften Umsatz. "Britannia rule the waves", möge Britannia über die Meere herrschen, tönt es vom Exerzierplatz vor dem Trockendock herüber; und natürlich "God save the Queen", Gott schütze die Königin. Eine Kapelle der Royal Navy spielt sich für die bevor stehenden Festivitäten ein. Kisten mit Portwein werden an Bord getragen, zum Bankett Elizabeths II. am Freitagabend, in der fein getäfelten Admiralskajüte. Den runden Jahrestag der Trafalgar-Schlacht will man mit dem gebührenden Ernst feiern.

Das Datum zählt zu den wichtigsten der Insel-Geschichte. Denn Trafalgar, der 21. Oktober 1805 also, markiert nicht nur eine entscheidende, vernichtende Niederlage der französischen und spanischen Kriegsmarine, durch eine zahlenmäßig unterlegene britische Flotte vor der Südwestecke Spaniens, dem Hafen von Cadiz. Trafalgar war zugleich der Kulminationspunkt der großen historischen Seeschlachten in der Ära der Segelschiffe. Es war die Schlacht, mit der das Vereinigte Königreich eine hundertjährige Vormachtstellung auf den Weltmeeren begründete; und die Schlacht, bei der der siegreiche Kriegsherr ums Leben kam - eine romantische Note, die den bei seinem Tod noch nicht einmal fünfzigjährigen Nelson, den Liebhaber der schönen Lady Hamilton, zur Kultfigur seiner Zeit machte.

Noch einmal sehen die Landsleute Nelsons heute im kollektiven Gedächtnis ihren Helden an jenem schicksalhaften 21. Oktober auf dem Deck der Victory stehen und mit seinen 27 Schiffen einen doppelten Keil in die Reihen der 33 Schiffe treiben, die Spanier und Franzosen gemeinsam aufbieten. "England erwartet, dass jedermann seine Pflicht tut", ließ Nelson damals seinen Kapitänen mit Flaggen signalisieren - nachdem er zuvor in sein Tagebuch eingetragen hatte, der "große Gott" möge seinem Land "auch zum Nutzen Europas generell einen großen und glorreichen Sieg gewähren". Jener glorreiche Sieg, die überlegene Taktik Nelsons, die schiere Rücksichtslosigkeit des Angriffs gegen Vize-Admiral Pierre de Villeneuves schlecht gerüstete Koalitionsflotte sind heute allesamt wohl dokumentiert. Von den tödlichen Breitseiten, den splitternden Balken, den Schreien der Verwundeten, den Strömen von Blut auf beiden Seiten haben die Überlebenden berichtet. Für die Geschichtsbücher war Trafalgar der Punkt, an dem sich Britannien auf den Meeren gegen Napoleon und den Rest der Welt durchsetzte.

Für die Beteiligten war die Schlacht ein mörderisches Chaos, das letztlich auch ihren Urheber mit einem gezielten Musketen-Schuss aus der Takelage des französischen Schiffes Redoutable verschlang. "Ein feindlicher Heckenschütze" habe den Viscount "schnöde" zu Fall gebracht, setzt Großvater dem jungen James die Lage auseinander: Den verschlagenen Franzmännern habe man ohnehin nie trauen können.

Indes ist Nelsons tragische Selbstaufopferung für England und "Europa generell" in jüngsten Jahren gelegentlich in Frage gestellt worden. Der Helden-Mythos passe nicht zu manchen Aspekten der Karriere des ehrgeizigen Pfarrersohnes, meinen selbst britische Kritiker. Von einer Invasionsgefahr durch Napoleon und einer notwendigen Selbstverteidigung der Briten habe 1805 keine Rede mehr sein können. Bei der Trafalgar-Schlacht sei es vor allem um Sicherung kolonialer Überlegenheit und kommerzieller Vorteile gegangen. Auch Nelsons königstreues, gottbefohlenes Eintreten für den Status Quo, das heißt: gegen Rebellen und europäische Republikaner, stößt in modernen Zeiten auf ein gewisses Unbehagen. Dunkle Flecke, zweifelhafte Aktionen im früheren Königtum Neapel etwa, haben die Nelson-Legende hier und da durchbrochen wie feindliche Kanonenkugeln jenes gigantische Segel der Victory, das im obersten Stockwerk des Kriegsmarine-Museums ausgelegt ist - weißes Tuch mit scharfrandigen schwarzen Löchern. Das Ausmaß dieses Segels freilich, die majestätische Höhe der drei Masten auf der Victory mit ihrem Geflecht an Quermasten, Strickleitern und Tauen, öffnet zugleich den Blick dafür, warum der Respekt für den unkonventionellen Chefstrategen der Flotte bis heute hält.

Die Herrschaft über die sieben Meere, der Erfolg britischer Handelsmacht, die staatliche Sicherung des kolonialen Abenteuers durch die Royal Navy wirken nach. Der mächtige schwarzgelbe Dreimaster mit seinen drei Kanonendecks und 104 Kanonen, auf dem der kleine James neugierig herum klettert, ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis. Eine Welt für sich, ein sorgsam instand gehaltenes Labyrinth aus Mannschaftsdecks und Offizierskabinen, aus Segeln, Seilen, Waffenvorrichtungen, Werkstätten und enormen Vorratskammern, aus Luken und Laternen, Hängematten und Hühnerställen, Pulverfässern, Ankerwinden und exquisit möblierten Wohn- und Arbeitszimmern der Herren Befehlshaber. In Auftrag gegeben 1758, just im Geburtsjahr Nelsons, entstand die HMS Victory aus dem Holz von 6000 Eichen, vornehmlich aus dem Wald von Dean, in Gloucestershire, und den starken Eisenverschlägen einer kommenden industriellen Vormacht.

In einer Zeit, in der Britanniens Häfen nicht nur Abfertigungs- oder Container-Terminals waren, repräsentierte ein Schiff wie dieses britische Souveränität, Führungsanspruch. Horatio Nelson, Emporkömmling aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen, setzte den Führungsanspruch für die Krone auf professionelle Weise um - ein unerschrockener Bursche, ein Self-Made-Matrose, Kapitän in jungen Jahren, so eigensinnig wie genial in seinen Aktionen, sorgsamer Planer, kluger Personalchef, Draufgänger an der Front, daheim ein nüchterner Agent eigener Interessen, liebloser Ehemann und leidenschaftlicher Geliebter, mit einem ambivalenten Verhältnis zu den oberen Zehntausend, aber ein Volksheld, nach geschlagenen Schlachten: Die Prozession, die seinem Sarg zur St.Paul's-Kathedrale folgte (nachdem man seinen Leichnam in einem Brandy-Fass von Trafalgar in die Heimat geschafft hatte), war über zwei Kilometer lang.

Nicht zufällig ist es dieser Nelson mit seinem leeren rechten Jackenärmel und dem blinden rechten Auge, der da in dreifacher Lebensgröße auf der schwindelnden Höhe der Trafalgar-Säule steht, an prominentester Stelle, im Herzen Londons. Mögen auch dieser Tage Schulkinder sich nicht mehr ganz sicher sein, wer eigentlich da droben auf der Säule so seelenvoll nach Portsmouth hinüber schaut: Die Präsenz des Trafalgar-Helden auf dem zentralen Platz der Hauptstadt ist doch tröstlich für jenes Drittel der britischen Bevölkerung, das laut Umfragen bis heute um das koloniale Erbe Großbritanniens trauert. (Anm. Dikigoros: Das muß die böse, rassistische Minderheit der weißen, christlichen Briten sein. Die Mehrheit der guten, anti-rassistischen Neu-Briten - Neger, Juden, Araber u.a. Muslime - würden Nelson lieber heute als morgen canceln" - und alle "Whiteys" gleich mit.)

In Portsmouth sucht Großvater derweil noch immer unermüdlich, den kleinen James in Sachen Nelson zu unterweisen.Er deutet auf ein Gemälde, auf dem der sterbende Nelson von seinen Leuten umringt den Geist aufgibt. "Wer sind die Leute? Sind das die Franzosen?", fragt James besorgt. "Nein, nein, das sind seine eigenen Leute, das sind britische Offiziere", erwidert Granddad. "Ah!", ein Leuchten geht über James' Gesicht. "So they're the Goodies", dann sind das die Guten. Großvater nickt. Die Guten dürfen weiter siegen.


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