Maria Stuart - Ein Lehrstück der Staatskunst

von Renate Müller de Paoli (Ibykus Nr. 82 (1/2003)

Der folgende Aufsatz beschreibt am Beispiel des Schiller-Dramas Maria Stuart wie historische Begebenheiten von Schiller wiedergegeben werden, um die menschliche Empfindungsfähigkeit anzusprechen und zu entwickeln, wozu Fakten und Zahlen in den Geschichtsbüchern kaum in der Lange sind.

Am 26. April 1799, sechs Tage nach der Uraufführung von Wallensteins Tod in Weimar, beginnt der 40jährige Friedrich Schiller mit den Vorarbeiten für sein neues Stück Maria Stuart. Schon 16 Jahre vorher, im Frühjahr 1783 hatte er sich in Bauerbach mit der Geschichte der Maria Stuart beschäftigt, das Projekt aber zugunsten des Don Carlos fallengelassen.

Er schreibt in einem Brief an Goethe, Jena, den 26. April 1799: "Die Zerstreuungen, die ich in Weimar erfahren, klingen heute noch bei mir nach und ich kann noch zu keiner ruhigen Stimmung kommen. Indessen habe ich mich an eine Regierungsgeschichte der Königin Elisabeth gemacht und den Prozeß der Maria Stuart zu studieren angefangen. Ein paar tragische Hauptmotive haben sich mir gleich dargeboten und mir großen Glauben an diesen Stoff gegeben, der unstreitig sehr viel dankbare Selten hat."

Am 4. Juni beginnt er endgültig mit der Ausarbeitung. Und nach etwa einem Jahr, in dem er auch noch Shakespeares Macbeth übersetzt, wird Maria Stuart am 14. Juni 1800 im Hoftheater von Weimar zum ersten Mal gespielt. Am 1. Juli 1800, zwei Wochen nach der Uraufführung, beginnt er schon die Arbeit an der Jungfrau von Orleans.

Mit Maria Stuart hat Schiller eines der faszinierendsten, vielschichtigsten und berührendsten Stücke geschrieben - ein hochaktuelles Lehrstück für die heutige politische Weltlage. Es zeigt die Weiterentwicklung seines "Handwerks" und Schillers größere poetische Freiheit nach der großen Wallenstein-Trilogie. So schreibt er am 8. Mai 1799 an seinen Freund Körner: "denn fürs erste ist der Gegenstand nicht so widerstrebend als Wallenstein, und dann habe ich an diesem das Handwerk mehr gelernt."

Schiller bringt den großen Kampf der beiden Königinnen, Elisabeth I. von England und Maria Stuart von Schottland, um die Königskrone und Macht im wirtschaftlich und weltstrategisch aufstrebenden England in der großen Auseinandersetzung des 16. Jahrhunderts zwischen Protestantismus und Katholizismus auf die Theaterbühne.

DIE WELTGESCHICHTE ALS "ERHABENES OBJEKT"

Für Friedrich Schiller ist die "Weltgeschichte ein erhabenes Objekt". Er schreibt in Über das Erhabene: "Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte untereinander selbst und mit der Freiheit des Menschen, und den Erfolg dieses Kampfs berichtet uns die Geschichte. So weit die Geschichte bis jetzt gekommen ist, hat sie von der Natur (zu der alle Affekte im Menschen gezählt werden müssen!) weit größere Taten zu erzählen, als von der selbständigen Vernunft."

Schiller hat die amerikanische Revolution genauestens verfolgt und die politische Umsetzung der Prinzipien der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) für Europa mit dem Ausbruch der Französischen Revolution erhofft. Doch die Losung "Freiheit und Gleichheit" wird bald zum Schlachtruf der Gewalt, mit dem "Würgerbanden" umherziehen und "alle Bande frommer Scheu" lösen. Wie Schiller in den Worten des Glaubens sagt: "Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!" — Die Hinrichtung Ludwig XIV, der Aufstieg Napoleons und der Aufstieg von dessen römisch-imperialen Wahnvorstellungen bringen Schiller zu dem Schluß: "Ein großer Moment in der Geschichte hat ein kleines Geschlecht gefunden!"

In dem Vertrauen und Wissen über die "wahre Bestimmung des Menschen" quält ihn die Frage, wie selbst unter barbarischen Verhältnissen eine "Verbesserung im Politischen" möglich sei. Er sieht nur einen möglichen und notwendigen Weg: "Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen" und ihn zur "Läuterung seiner Gefühle" befähigen, die "Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens" stärken. Sie soll "einen Reichtum von Begriffen in dem Kopf und einen Schatz von Grundsätzen in der Brust an(zu)pflanzen und dann besonders auch die Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene aus der Vernunft (zu) entwickeln" und somit die "Rüstigkeit des Charakters" selbst in der größten Bedrohung der physischen und moralischen Existenz des Menschen sichern.

Für Schiller ist die tragische Kunst das besondere Werkzeug für diesen Zweck, da sie von zwei Fundamentalgesetzen bestimmt wird - erstens die "Darstellung der leidenden Natur" und zweitens die "Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden". Sie zeigt uns in der Nachahmung "die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt", um Herz und Kopf zu rühren, eine "größere Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens" hervorzurufen und die mögliche "subjektive moralische Übermacht" des Menschen unter Beweis zu stellen.

Schiller erläutert: "Das Pathetische ist ein künstliches Unglück, und wie das wahre Unglück setzt es uns in unmittelbaren Verkehr mit dem Geistergesetz, das in unserm Busen gebietet.

Aber das wahre Unglück wählt seinen Mann und seine Zeit nicht immer gut; es überrascht uns wehrlos, und was noch schlimmer ist, es macht uns oft wehrlos.
Das künstliche Unglück des Pathetischen hingegen findet uns in voller Rüstung, und weil es bloß eingebildet ist, so gewinnt das selbständige Prinzipium in unserm Gemüte Raum, seine absolute Independenz zu behaupten. Je öfter nun der Geist diesen Akt von Selbsttätigkeit erneuert, desto mehr wird ihm derselbe zur Fertigkeit, einen desto größern Vorsprung gewinnt er vor dem sinnlichen Trieb, daß er endlich auch dann, wenn aus dem eingebildeten und künstlichen Unglück ein ernsthaftes wird, imstande ist, es als ein künstliches zu behandeln und - der höchste Schwung der Menschennatur' - das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen.

Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird" - so daß der Mensch allen den Tugenden wie Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Mäßigkeit und Standhaftigkeit, die er im größten Glück spielend auszuüben vermag, selbst im größten Unglück treu bleibt und es ihm auch dann eine Herzensangelegenheit ist, so zu handeln.

DIE WERKSTATT FRIEDRICH SCHILLERS

Bevor wir Schillers Werkstatt betreten, kurz einige wichtige historische Daten über die beiden Hauptpersonen:

Maria Stuart, Königin von Schottland

Maria Stuart (1542-1587), Urenkelin Heinrich VII. (1457-1509, Großvater der Elisabeth) wird fünf Tage nach ihrer Geburt durch den Tod ihres Vaters Jakob V. von Schottland Königin. Im Alter von sechs Jahren wird sie zur Erziehung zu ihrem Oheim, dem Herzog von Guise, an den französischen Hof geschickt. Mit 16 Jahren, 1558, heiratet sie den französischen Dauphin, der 1559 als Franz II. König von Frankreich wird, schon ein Jahr später ist sie Witwe. Unter dem Einfluß des französischen Königs und ihres Oheims erkennt sie die Krönung Elisabeth I. 1558 zur Königin von England nicht an, sondern erklärt sich selbst zur rechtmäßigen englischen Thronfolgerin. Sie begründet ihre Ansprüche durch ihre Großmutter Margarete Tudor, der Schwester Heinrichs VIII., während Elisabeth aus katholischer Sicht nur die illegitime Tochter Heinrichs VIII. ist.

Strategisches Ziel Frankreichs ist die Vereinigung mit den Kronen Englands und Schottlands.

1561 kehrt sie mit 19 Jahren nach Schottland, welches stets umworbener Spielball von Frankreich, Spanien und England ist, zurück. Sie vermählt sich 1565 mit ihrem Vetter Darnley, einem Tudor. 1566 läßt Darnley vor ihren Augen ihren Sekretär Riccio, den er für ihren Liebhaber hält, ermorden. Im Februar 1567 wird Darnley ermordet. Maria wird verdächtigt, mit einem Teil des schottischen Adels unter Führung des Grafen Bothwell die Tat begangen zu haben. Drei Monate später heiratet sie Bothwell. Daraufhin erhebt sich der schottische Adel gegen die Königin, sie wird gefangengesetzt und zugunsten ihres Sohnes Jakob aus der Ehe mit Darnley 1568 zur Abdankung gezwungen.

Ihr gelingt die Flucht in einem kleinen Fischerboot nach England. (1568 erhält Herzog Alba den Befehl des spanischen Königs, den Aufruhr der spanischen Niederlande zu unterdrücken.) Maria betritt englischen Boden, bevor sie eine Antwort von Elisabeth auf ihren Hilferuf nach Unterstützung im Kampf um den schottischen Thron bekommt. Doch auf Anraten von Cecii, später Lord Burleigh, dem wichtigsten Minister der Elisabeth, wird sie verhaftet und bleibt 15 Jahre lang unter der Aufsicht des Grafen Shrewsbury. Verschwörungen - die letzte unter dem fanatischen Katholiken Anton Babington - und Attentatsversuche gegen Elisabeth werden entdeckt und Maria angelastet. 1585 wird das "Gesetz für die Sicherheit der Königin" (Act for the Queens savety) eingeführt, das sich eindeutig gegen Maria richtet: damit ist nicht nur strafbar, wer der Königin nach dem Leben trachtet, sondern auch zu wessen Nutzen dies geschieht! Dann werden ihre Haftbedingungen verschärft, und sie wird 1586 nach Fotheringhay unter die Aufsicht von Sir Faulet gestellt. Im Herbst 1586 wird sie vor Gericht gestellt und aufgrund der Aussagen ihrer Schreiber Nau und Curie am 25. Oktober 1586 zum Tode verurteilt. Doch erst am 8. Februar 1587 wird Maria Stuart, Königin von Schottland, nach 19Jähriger Haft durch das Beil des Henkers hingerichtet.

Spanien erklärt daraufhin England den Krieg. 1588 wird die spanische Armada vor der englischen Küste vernichtend geschlagen, und Elisabeth von England hat den geopolitischen Machtkampf gegen Spanien und das Haus Habsburg gewonnen.

Elisabeth I. von England

Elisabeth I. (1533-1603) ist die Tochter aus der zweiten Ehe Heinrichs VIII. mit Anne Boleyn, die wegen Untreue drei Jahre nach Geburt ihrer Tochter verurteilt und hingerichtet wird. Da Heinrich VIII. nicht mit kirchlicher Zustimmung geschieden war und somit die Ehe mit Anne Boleyn nicht offiziell von der katholischen Kirche anerkannt wurde - was zum Bruch Heinrichs VIII. mit Rom und zur Gründung der Anglikanischen Kirche (mit dem König selbst als Oberhaupt) führte - wird Elisabeth als illegitime Tochter angesehen. Selbst ihr Vater bezeichnet sie als Bastard, als er seine dritte Ehe mit Jane Seymour eingeht und die Hoffnung auf einen männlichen Thronfolger noch besteht.

Allerdings gesteht er ihr in seinem Testament das Thronfolgerecht wieder zu, insbesondere um die berechtigten Ansprüche der Nachkommen seiner Schwester, der schottisch-katholischen Linie Stuart, zu blockieren.

Mit 25 Jahren wird sie 1558 zur Königin von England gekrönt und regiert nach der Hinrichtung Maria Stuarts unangefochten bis zu ihrem Tod 1603. Aufgrund ihrer Ehe- und Kinderlosigkeit bestimmt sie Jakob, den Sohn Maria Stuarts, zu ihrem Nachfolger. In den 45 Jahren ihrer Regierungszeit - dem Elisabethanischen Zeitalter - erlebt England einen enormen technischen und wirtschaftlichen Aufschwung im Bereich der Woll- und Textilmanufakturen, der Energie-, Eisen-, Stahl- und Glasgewinnung. Und ein Gigant wie William Shakespeare entfaltet sich.

Im Don Carlos (1787 veröffentlicht) erwidert Marquis Posa dem spanischen König Philipp II.: "Schon flohen Tausende aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger, den Sie verloren für den Glauben, war Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen empfängt die Fliehenden Elisabeth, und fruchtbar blüht durch Künste unsres Landes Britannien." Elisabeth unterstützt aktiv den Unabhängigkeitskampf der spanischen Niederlande gegen Philipp II.

Folgen wir jetzt Schiller mit seinem Verständnis der Weltgeschichte als "erhabenes Objekt" hinter die Kulissen der Weltpolitik zur Zelt der Maria Stuart und Elisabeth I. Zunächst muß ein entscheidender Aspekt über seine Arbeit verstanden werden.

In einem Brief an Goethe vom 19. Juli 1799 schreibt er: "Von der Maria Stuart werden Sie nicht mehr als einen Akt fertig finden; dieser Akt hat mir deswegen viel Zelt gekostet und kostet mir noch 8 Tage, weil ich den poetischen Kampf mit dem historischen Stoff darin bestehen mußte und Mühe brauchte, der Phantasie eine Freiheit über die Geschichte zu verschaffen, indem ich zugleich von allem was diese brauchbares hat, Besitz zu nehmen suchte. Die folgenden Akte sollen, wie ich hoffe, schneller gehen, auch sind sie beträchtlich kleiner."

"Vortreffliche dramatische Charaktere" sind von der Geschichte schon vorgegeben und Schiller beginnt den ersten von fünf Aufzügen, indem er "den ganzen Gerichtsgang zugleich mit allem Politischen auf die Seite" schiebt und die Tragödie mit der Verurteilung beginnt. Wir erleben also die letzten Tage Maria Stuarts vor ihrer Hinrichtung. Er diskutiert in verschiedenen Briefen an Goethe die tragische Qualität seines Stoffes und hebt hervor: "darunter gehört besonders, daß man die Katastrophe gleich in den ersten Szenen sieht und, indem die Handlung des Stücks sich davon wegzubewegen scheint, ihr immer näher und näher geführt wird ... und zwischen Furcht und Hoffnung rasch zum Ende eilen muß."

Nachdem im ersten Auftritt Sir Paulet, der strenge Bewacher auf Schloß Fotheringhay, die Schränke der Maria nach geheimen Briefen durchsucht hat, betritt Maria Stuart - im Alter von 25 Jahren nach Schillers Vorstellung — im nächsten Auftritt die Bühne und versucht ihre Amme Hanna Kennedy ob dieser Dreistigkeit zu beruhigen:

und gegenüber Faulet, obwohl sie noch keine Gewißheit über den Urteilsspruch hat: Faulet antwortet: Erst im 6. Auftritt verschafft ihr Mortimer, Paulets Neffe, der in Frankreich zum Katholizismus konvertiert ist und nun in Fotheringhay Marias Befreiung plant, Gewißheit. Mortimer entflammt in seinem religiösen Fanatismus im Verlauf des Stückes immer stärker für Maria als begehrenswerter Frau, die Königin in ihr vergessend. Doch Maria will das Äußerste nicht denken:

MACHT UND GERECHTIGKEIT

Im 7. Auftritt prangert Maria in einer Auseinandersetzung mit William Cecii, Baron von Burleigh und Großschatzmeister der Elisabeth, die Rechtmäßigkeit des Urteils der 42 Richter an. Schiller wirft in ihrer Argumentation erneut die fundamentale Frage auf, die die Menschheit mindestens seit Platons Staat beschäftigt hat: Macht, die auf dem Recht des Stärkeren basiert, oder Gerechtigkeit im Staat - ein im Stück immer wiederkehrendes Thema.

Erkennbar wird Schillers tiefe Verachtung für diese Form von austauschbarer, prinzipienloser Kabinettspolitik und das Ränkespiel manipulierbarer, machthungriger Beraterkreise zum scheinbaren "Nutzen des Staates".

Der Staatsräson tausendprozentig verpflichtet, versucht Burleigh, einen „stummen Auftrag" der Königin, die Stuart in der Haft zu ermorden, an Faulet heranzutragen. Entrüstet lehnt Faulet ab: Elisabeth versucht später selbst Paulets Neffen Mortimer mit entsprechenden Karriereversprechungen für ein Mordkomplott zu gewinnen. Sie und Burleighs Geheimdienste ahnen nicht, daß er inzwischen ein Doppelleben führt und eigentlich auf die Befreiung Marias aus der Kerkerhaft sinnt.

MARIA STUART

Nachdem Schiller zwei Wochen intensiv an seinem neuen Trauerspiel gearbeitet hat, charakterisiert er seine poetische Zielvorstellung über die Gestalt der Maria gegenüber Goethe so:

"Meine Maria wird keine weiche Stimmung erregen, es ist meine Absicht nicht, ich will sie immer als ein physisches Wesen halten, und das Pathetische muß mehr eine allgemeine tiefe Rührung als ein persönliches und individuelles Mitgefühl sein. Sie empfindet und erregt keine Zärtlichkeit, ihr Schicksal ist nur, heftige Passionen zu erfahren und zu entzünden. Bloß die Amme fühlt Zärtlichkeit für sie."

Durch drei Erfindungen gewinnt Schiller seine "Freiheit über die Geschichte": erstens die Person des Mortimer, zweitens die Beziehung Marias zu Leicester, dem Liebhaber der Elisabeth, und drittens das Zusammentreffen der beiden Königinnen. Diese poetische Freiheit - die er in dem fast an Wahnsinn grenzenden Schwärmertum des Mortimer, der Zerrissenheit Leicesters durch seine große Zuneigung zu Maria einerseits, andererseits seinem grenzenlosen Machtstreben, das ihn bis zur Selbstaufgabe In den Armen der Macht Elisabeths gefangenhält, und der Eifersucht, dem Neid und Haß der Elisabeth zeigt - erlaubt Schiller bei scheinbarem Wegbewegen von der Katastrophe, sie "immer näher und näher" zu führen. Sie wird zum niederschmetternden Schicksal für Maria.

Während Schiller in dem ersten Dialog (1. Aufzug, 4. Auftritt) zwischen Maria und ihrer Amme Hanna Maria ergreifend schildern läßt, welche Schuld sie durch ihre "Schwachheit", alles im Leben auskosten zu wollen, aufsich geladen hat - bis zum Gattenmord, versucht Hanna sie zu beruhigen.

DAS ZUSAMMENTREFFEN DER KÖNIGINNEN

Schon in der zweiten Szene des ersten Aktes bittet Maria Faulet, Elisabeth einen Brief zu übergeben, mit der Bitte um eine große Gunst — In der Hoffnung auf eine Begnadigung gelingt es Leicester, das Profil Elisabeths genauestens kennend, sie zu einem Zusammentreffen mit Maria im Park von Fotheringhay (3. Aufzug, 4. Auftritt) zu überreden: Maria, alle Schmach, Leid und Entbehrung der 19 Jahre Kerkerhaft durch Elisabeth vergessend, ist bereit, sich zu demütigen.
Sie fällt vor Elisabeth nieder, verzichtet auf jeglichen Thronanspruch, nur das eine Wort erhoffend: Doch sie muß schnell erkennen, daß Elisabeth ihre physische und moralische Vernichtung will. Jetzt ist das Schicksal Marias endgültig entschieden, "jeder Gnadenweg gesperrt". Trotzdem empfindet Maria nach all den Jahren der Erniedrigung und der Leiden einen Augenblick des Triumphs: "Vor Leicesters Augen hab' ich sie erniedrigt." Alle anderen Beteiligten sind in völliger Bestürzung wie ihre Amme: Auf dem Rückweg von Fotheringhay nach London wird ein weiteres Attentat gegen die aufgebrachte Elisabeth, das vierte, von Shrewsbury verhindert. London ist in heller Aufregung und der "Pöbel wütet. Nur das Haupt der Stuart, das noch heute fällt, kann ihn beruhigen."

Burleigh versteigt sich, wie der modernste Machtpolitiker über die öffentliche Meinung, zu der Aussage: "Gehorche der Stimme des Volkes, sie ist die Stimme Gottes." (4. Aufzug, 8. Auftritt) Shrewsbury versucht im nächsten Auftritt mit aller Kraft - hier spricht Schiller selbst - Elisabeth vom Äußersten, der Unterzeichnung des Urteils, abzuhalten:

Später sagt er: Elisabeth, alleingelassen von ihren Beratern, zeigt in ihrem großen Monolog im 10. Auftritt des 4. Aufzuges ihr wahres Selbst. Herausgefordert von allen Mächten des Festlandes, dem Papst, Frankreich und Spanien, in der größten Krise ihrer Regierungszeit, schwinden die Grundsätze ihrer Politik dahin. Ihr Kampf um Gerechtigkeit und Wohlergehen für ihr Volk ist nicht mehr Herzensangelegenheit und tiefes, inneres Verlangen, sondern wird Mittel zum Zweck. Ihr persönlicher Machterhalt, ihr physisches Dasein, ist ihr wichtiger als ihre moralische Integrität, die sie immer mehr aufgibt und aufzehrt. Sie opfert ihren "moralischen Adel", um den vermeintlichen Makel ihrer Geburt zu bedecken! Rigoros hat ihr Schiller schon im 2. Aufzug des 3. Aktes durch Shrewsbury die Richtung vorgegeben: Über die folgenden zwei Aufzüge erstellt Schiller dann ein Psychogramm der Elisabeth, welches in ihrem großen Monolog den Höhepunkt ihrer persönlichen Konfliktbewältigung findet. Sie entscheidet endlich und richtet: Schiller gibt die Regieanweisung: "Sie unterschreibt mit einem raschen, festen Federzug, läßt dann die Feder fallen und tritt mit einem Ausdruck des Schreckens zurück. Nach einer Pause klingelt sie, "

Ihr Staatssekretär Davison kommt, sieht die Unterschrift und erschrickt. Schiller entwickelt meisterhaft — daß es uns erschaudert -, mit welchem Balanceakt die Machtpolitikerin Elisabeth versucht, die Entscheidung und damit die Verantwortlichkeit für einen politischen Mord auf ihre Untergebenen abzuschieben und ihre Hände rein zu halten. Auch hier sind die Regieanweisungen enthüllend:

Burleigh kommt, sieht die unterschriebene Urteilsschrift, entreißt sie Davison und das Gerüst des Henkers wird in Fotheringhay aufgebaut.

Im ersten Auftritt des letzten, des fünften Aufzugs berichtet die Amme Hanna über die letzte Nacht. Maria schwankt zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen "Wehsein" und Frohsein", denn es soll die Nacht der Befreiung durch Mortimer werden, doch statt der Befreier verkündet ihr Faulet, daß die Zimmerer das Gerüst aufschlagen.

Diese plötzliche Erschütterung reißt Maria endgültig aus den Netzen ihrer physischen Existenz und erhebt sie in der letzten Herausforderung ihres Lebens, der Furcht vor dem Tod, zu einer beispielhaften moralischen Größe im Frieden mit sich selbst.

Sanft, fürsorglich und verzeihend nimmt sie Abschied von ihren Untergebenen. Sie vergibt Elisabeth ihren Tod und bittet Gott, daß er ihr „eine glückliche Regierung" schenke. Schiller läßt Hanna sagen:

Die „subjektive moralische Übermacht" ihres jetzt ruhig und frei gewordenen Geistes zeigt sich auch in ihrer letzten Beichte, die sie gegenüber Melvil, ihrem alten Haushofmeister und Priester, ablegt: Gefaßt und heroisch geht sie ihren letzten Gang und erweist sich im Tode mächtiger als ihre Gegenspielerin. Elisabeth, in ihrer physischen Mache im Kampf um die „betrüglichen" Güter dieser Erde gefestigt, frohlockt: Doch in diesem Moment eilt Shrewsbury, nichtsahnend von der Hinrichtung, zurück aus dem Tower, wo Kuri und Nau, die Schreiber der Maria gefangensitzen, inzwischen allerdings ob ihrer Falschaussage dem Wahnsinn verfallen, und fordert eine neue Untersuchung.

Er muß erkennen, mit welchem „list'gem Doppelsinn" Elisabeth die königliche Ehre versucht zu wahren und sagt, nachdem sie Davison und Burleigh mit Gefängnis und Verbannung bestrafen will:

Elisabeth bleibt allein zurück.
Groß ist, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet.


Literatur:

Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1981.

Die Zitate stammen aus folgenden Werken Schillers:

Die Worte des Glaubens, Das Lied von der Glocke, Vom Erhabenen/Über das Pathetische, Über das Erhabene, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Maria Stuart.

Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Insel-Verlag, 1977. The Political Economy of the American Revolution, Campaigner Publications, Inc., New York.


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