JENSEITS VON ROM

Italien ist Mailand & Turin
Der Rest zählt nicht

von Thomas Schmid
(WELT, 02.06.2011)

Der italienische Nationalstaat feiert den 150. Jahrestag seiner Gründung. Noch immer unvollendet, schwankt er zwischen Hoffnung und Melancholie.

Alle Wege führen nach Rom - ein Kalauer, gewiss, aber einer mit Wirklichkeitsgehalt. Wenn am 2. Juni in Italien Staats- und Regierungschefs aus aller Welt in Italien zusammenströmen, um mit den Würdenträgern des Landes das Fest der Republik zu feiern, dann kommen sie alle nach Rom. Die lärmige, hektische, wirtschaftlich aber bedeutungslose Metropole, sieht man einmal vom Tourismus ab, ist nun einmal die Hauptstadt Italiens. Ihre Stärke ist ihre Schwäche. Die Geschichte hat sie vollgestellt mit viel Antike, etwas Mittelalter, viel Renaissance, kaum bürgerlicher Moderne und einigen wuchtigen Bauten aus faschistischer Zeit.

Zu Zeiten des römischen Reiches war sie das gewissermaßen natürliche Zentrum der Welt, später – auch in der freigeistigen Zeit der Renaissance – war sie das Zentrum der Christenheit, darauf vor allem spielt die in ihren Ursprüngen uneindeutige Wendung von den Wegen, die alle nach Rom führen, an. Dann aber begann der lange Verfall der Stadt, die lange – noch zu Goethes Besuchszeit – nichts wirklich Städtisches, geschweige denn etwas Metropolitanes hatte, sondern ein dämmerndes Bauernnest mit Papst war.

Als die Italiener dem König den Laufpass gaben

Als diese Stadt 1871 - also erst zehn Jahre nach der Herstellung der Einheit Italiens - Hauptstadt wurde, stellte das eine Übersprungshandlung dar. Nichts prädestinierte diese historische Hülle zur Hauptstadt, deswegen war nur aus der großen, aber leider trostlos vergangenen Geschichte Roms Anspruch auf den Mittelpunkt des neuen Staates zu rechtfertigen. Auch wenn Rom und seine Amtsstuben voll sind mit bedeutenden Herren, die vor allem in Rudeln die Kunst des Wichtigtuens beherrschen, werden die Großen der Welt jetzt quasi auf leerer Bühne spielen.

Am 2. Juni wird es 66 Jahre her sein, dass die Italiener beim Referendum von 1946 der Monarchie den Laufpass gaben und sich – eingedenk der schmählichen Rolle, die der König zur Zeit des Faschismus spielte – für die Republik entschieden. Die Mehrheit fiel knapp aus, 12,7 Millionen Italiener wählten die Republik, 10,7 wollten es weiter mit der Monarchie halten – ein erster Hinweis darauf, dass es mit Einheit und Einigkeit in Italien so weit nicht her ist. Und dass die Musik des Landes nicht immer in Rom spielt.

Im Augenblick spielt sie vor allem 600 Kilometer weiter nördlich, in Mailand. Dort hat, pünktlich am Vorabend des Festes der Republik, so etwas wie ein politisches Erdbeben stattgefunden.

In den vergangenen Jahrzehnten war die Stadt regelmäßig und verlässlich von den Parteien des Regierungsbündnisses Silvio Berlusconis regiert worden - was für diese einen ungeheuren Triumph darstellte. 1993 eroberte die separatistische Lega Nord, eine durchaus unbürgerliche, zu ordinärer Rhetorik neigende Neupartei, das Rathaus dieser Industrie- und Finanzmetropole, die wie kaum eine andere für die selbstbewussten, aber stets minoritär gebliebenen bürgerlichen Traditionen Italiens stand.

Mailand, die wahre Metropole

Aus der Stadt kamen so viele, die für das weltoffene, innovative und das grüblerische Mailand, das ja eine Stadt des Nordens ist, standen: der frühmoderne Leonardo und der manieristische Maler Arcimboldo, der große, auch patriotische Nationalschriftsteller Alessandro Manzoni („Die Brautleute“), Luchino Visconti, Regisseur schwüler Bürgertumsfilme, der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda, auch er ein Erkunder quälender Bürgerwelten („Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“), der Autobauer Ettore Bugatti und Giangiacomo Feltrinelli, Spross einer der reichsten Familien Italiens, der als Verleger Boris Pasternak und Giuseppe Tomasi di Lampedusa („Der Leopard“) berühmt machte und sich später der linken Guerilla anschloss. Noch heute – ein veritabler linker Wirtschaftserfolg – finden sich in allen größeren Städten des Stiefellandes Niederlassungen der Buchhandlungskette des Verlages, der „Librerie Feltrinelli“, die längst zu multimedialen Kaufhäusern geworden sind.

Diese Stadt, deren Bewohnern durchaus eine gewisse Arroganz eigen ist, besonders wenn sie aus der Oberklasse stammen, fühlte sich stets als kraftvolles Zentrum, das urban und in Richtung Norden anschlussfähig ist. Das Hinterwäldlerische, das Italien auch auszeichnet, ist ihr fremd, die Stadt spazierte immer an der Spitze des Fortschritts und verkörperte, jahrzehntelang von den Sozialisten regiert, die wirtschaftliche, politische und intellektuelle Kraft der aufgeklärten Linken, die seit Mussolinis Ende (genauer gesagt: schon davor) die geistige Agenda Italiens vollkommen bestimmt hat.

Dass die Lega Nord die Stadt erobern und Mitte-Rechts 18 Jahre lang die Stadt regieren konnte, war eine Schmach für die Linke, die in diesen Jahren stets bestens gerüstet war mit Argumenten, Büchern und Parolen gegen die Methode Berlusconi – und die dennoch oft genug gegen den aggressiv-fröhlichen Zampano verlor, der Italiens Inkonsequenz auf eine so konsequente Weise verkörpert.Es war daher ein gewaltiger Erfolg der zwar wie eh und je selbstgewissen, aber doch immer wieder gedemütigten Linken, dass sie an diesem Sonntag und Montag im zweiten Wahlgang die wichtigste Stadt Italiens zurückgewinnen konnte.

Ein politisches Erdbeben

Der eben noch fast unbekannte Jurist Giuseppe Pisapia, der einmal als Nichtmitglied für die heute bedeutungslos gewordene „Rifondazione Comunista“ (Kommunistische Neugründung) im Parlament gesessen hatte, eroberte - verwundert und ein wenig schüchtern - ganz unerwartet die Stadt gegen die von Berlusconi unterstützte Bürgermeisterin Letizia Moratti, die einmal Präsidentin der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI gewesen war und die - Unternehmerin und Tochter eines Partisanen - gewissermaßen die bürgerlich-korrekte und moderate Seite der Filou-Partei Berlusconis verkörpert.

Es hat nichts geholfen, dass Berlusconi alles in die Schlacht um Mailand (wie es in seinen Kreisen hieß) warf und mit der Bemerkung schrillte, wer links wähle, sei verrückt. Ausgerechnet in Mailand, wo Berlusconi seine Karriere als Erbauer einer neuen Vorstadt im Stile der schönen neuen Welt startete und an dessen Rand er in seiner pompösen Villa Arcore noch immer wohnt, ist die Linke plötzlich wieder da. Der Norden, eben noch fest in der Hand der Wirtschaftsliberalen und der halb ruppigen, halb angepassten Lega Nord, scheint Berlusconis Ende einzuleiten.

Umberto Bossi, der sich seit einer schweren Krankheit kaum noch artikulieren kann, aber nichts an seinem Schwung verloren hat, trommelte bis zuletzt für Berlusconis Kandidatin - um in der für ihn so typischen Schwenkart zugleich zu sagen: Ein Sieg von Berlusconis Kandidatin wäre ein Sieg Berlusconis und der Lega, eine Niederlage von Frau Moratti sei aber allein eine Niederlage Berlusconis. Herrliches Italien!

Italien, das ist Norden, Mitte und viel Süden, vor allem dessen malerische Ansichten haben unser Italienbild geprägt. Doch der Süden war immer die prekäre Probe auf die Einheit Italiens gewesen – wichtig, aber fern und fremd. Auch wenn Garibaldis „Zug der 1000“ von Sizilien nach Norden die Einheitsgeste Italiens geworden ist – tatsächlich ist die Einheit Italiens ein Produkt allein des Nordens, seiner bürgerlich-aristokratischen Klassen. Ein Laborprodukt, getragen von den Phantasien der Dichter und Denker, die endlich die überwältigende Größe, zu der das inexistente Italien durch die Sprachkraft Dantes gefunden hatte, auf die politische Wirklichkeit des Landes ausdehnen wollten.

Italiens Probleme mit Radetzky

Von Mailand nahm im europäischen Revolutionsjahr 1848 ein Aufstand seinen Ausgang, der auf Freiheit und geeinte Nation zielte. Der Aufstand war stürmisch, in Mailand gelang es, die Österreicher unter Führung des Grafen Radetzky aus der Stadt zu werfen, alles schien gut zu werden.

Doch dann siegten die Habsburger in einem Kraftakt doch noch - und es folgten jene Jahre nationaler Melancholie, von denen das berühmte, drei Jahre nach dem Aufstand entstandene Gemälde „Die Meditation“ des venezianischen Malers Francesco Hayez ein wunderbar pathetisches Zeugnis ablegt, das Trauer, Sex und Unschuld ikonenhaft bündelt. Hier kippt der Einheitsgedanke ins Imaginäre zurück. Eine Versuchung, die auch später den Italienern immer sehr nahe gelegen hat.

Als Italien vor 150 Jahren politisch geeint wurde, war es nicht geeint. Nur ein kleiner Teil der Italiener sprach Italienisch, in der Mitte trennte wie ein riesiger Riegel der Vatikanstaat das neue Gemeinwesen, und der bäuerliche Süden konnte in seiner Mehrheit mit der im Grunde republikanisch begründeten Idee des laizistischen Nationalstaats nichts anfangen und trat ihm oft ausgesprochen feindlich gegenüber.

Der eigentliche Staatsgründer war nicht der Abenteurer und Straßenkämpfer Giuseppe Garibaldi, sondern Camillo Benso Cavour, ein zur Dicklichkeit neigender Herr aus bestem piemontesischen Hause. In jungen Jahren eher ein bedächtiger Tunichtgut, bewegte sich der Liberale gewandt auf europäischer Bühne, inhalierte alle guten Bürgerideen, die auf dem Kontinent kursierten.

Die Einheit Italiens war ihm ein Vernunftangelegenheit, der er jedoch jene liebevolle Zuneigung entgegenbrachte, zu der nur das klassisch geschulte Bürgertum in der Lage war. Mit der Herstellung der Einheit Italiens wurde Cavour – nur wenige Monate vor seinem Tod im Alter von nur 51 Jahren – erster Ministerpräsident des Königreichs Italien. Er residierte in Turin, der Hauptstadt des Piemont, das zum Motor des Einheitsprozesses geworden war.

Wo Nietzsche ans Ende kam

Turin war und ist eine nüchterne Stadt. Auf halbem Weg zwischen den Alpen und dem Mittelmeer, verkörpert sie bis heute ein glanzvolles, im Grunde aber unitalienisches Italien. Turin ist die Stadt, in der die Industrialisierung Italiens ihren Ausgang nahm; in der früh eine Arbeitbewegung entstand, die entschlossen, aber auch kooperationsbereit war.

Turin war die Stadt, in der Nietzsche sich kurz vor seinem Fall ins Dunkel wohl und frei fühlte und „Ecce homo“ schrieb. Es war die Stadt, die kein gutes Pflaster für den grotesken, aber mächtigen Staatsdarsteller Mussolini war. Turin war die Stadt, die in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Arbeitsmigration aus dem Süden eine Bevölkerungsexplosion und die letzte große Blüte der Massenproduktion am Fließband erlebte.

Werkstatt der unvollendeten Einheit

Viele der intellektuellen Impulse, insbesondere nach dem Ende des Faschismus, gingen von hier aus: Hier entstand der über Jahrzehnte tonangebende linke Verlag Einaudi (der heute zu Berlusconis Imperium gehört), in dem Natalia Ginzburg und Italo Calvino arbeiteten und veröffentlichten. Primo Levi lebte hier, stürzte sich hier 1987 in den Tod. Der liberal-linke Philosoph Norberto Bobbio, der der Linken das Tor zur Freiheit öffnete und ein wunderbares Buch über die Last des Alters schrieb, lebte und arbeitete in Turin.

Und hier auch brachte sich der Schriftsteller Cesare Pavese am 27. August 1950 im „Hotel Roma“ nahe dem Bahnhof um. Wie kaum ein anderer hat er die südlich an Turin angrenzenden Langhe beschrieben, eine wunderbare Hügellandschaft mit viel Weinbau, aus der er stammte und in die er oft zurückkehrte. Und er hat Turin als eine Stadt tätiger Melancholie beschrieben: ganz unitalienisch - und vielleicht gerade deswegen Werkstätte der bis heute unvollendeten Einheit Italiens. Aber was ist schon vollendet?


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