NICHTS ZU FEIERN

Italien feiert seinen 150. Geburtstag

von Catrin Dingler (Jungle World Nr. 11, 17. März 2011)

Italien hat Geburtstag, doch der 150. Jahrestag der Staatsgründung liefert derzeit vorwiegend Anlass für Streit. Nach der offiziellen Geschichtsschreibung wird an diesem Jubiläum die Entstehung eines modernen Nationalstaates gefeiert. In der aktuellen politischen Debatte wird hingegen betont, dass mit der Einigung Italiens die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen dem Norden und dem »mezzogiorno«, die bis heute das Land prägen, weiter festgeschrieben worden seien.

Jede italienische Stadt hat ihre Piazza Giuseppe Garibaldi und das dazugehörige Reiterstandbild. Nun droht der Freiheitskämpfer anlässlich des 150. Jahrestags der Einigung Italiens von seinem Sockel gestoßen zu werden. Der von der Regierung angeordnete einmalige Nationalfeiertag am 17. März ist jedenfalls sehr umstritten. Die Kabinettsmitglieder der separatistischen Lega Nord stimmten dagegen. Erst nachdem ihnen versichert worden war, dass ihrer Stammwählerregion »Padanien« ein eigener Feiertag zugestanden werde, versprachen sie, die offiziellen Einheitsfeiern nicht zu stören. Auch Luis Durnwalder, der Landeshauptmann der Autonomieregion Südtirol, will nicht mitfeiern: »1861 gehörte Südtirol nicht zu Italien.«

Dieser Logik zufolge müssten auch in Rom die Feierlichkeiten abgesagt werden. Denn als am 17. März 1861 das Vereinigte Königreich Italien ausgerufen und Vittorio Emanuele II. vom piemontesischen Parlament zum italienischen König ernannt wurde, stand Rom noch unter päpstlicher Oberhoheit. Dem liberalen Grafen Camillo Benso Cavour war es in seiner Rolle als Ministerpräsident von Piemont gelungen, die Lombardei und mehrere mittelitalienische Kleinstaaten dem Königreich der Savoyer einzugliedern. Daraufhin wurde der erfahrene Freiheitskämpfer Garibaldi mit der Eroberung des süditalienischen Königreichs der Bourbonen beauftragt. Er landete mit seinem legendären »Heer der Tausend« auf Sizilien und drang rasch bis Neapel vor, nicht zuletzt, weil er sich der Unterstützung der Landbevölkerung und der frühen, bereits gut organisierten Mafia-Clans sicher sein konnte. Auf Wunsch seiner Auftraggeber verzichtete Garibaldi darauf, seinen Feldzug bis nach Rom fortzusetzen. Turin wurde zur ersten Hauptstadt Italiens.

Erst zehn Jahre später, im September 1870, wagten es die königlich-italienischen Truppen, den Kirchenstaat anzugreifen, jetzt konnte Rom endlich Hauptstadt werden. Der Papst verlor seinen weltlich-politischen Herrschaftsanspruch, er musste sich hinter die Befestigungsanlagen des Vatikan zurückziehen. Pius IX. erließ daraufhin die päpstliche Bulle »Non expedit«, die die Teilnahme der Katholiken am politischen Leben des jungen Nationalstaats für »nicht angebracht« erklärte. Dieses Verdikt wurde erst aufgehoben, als die faschistische Regierung von Benito Mussolini in den Lateranverträgen von 1929 die staatliche Souveränität des Vatikan anerkannte und der Kirche neue Privilegien zusicherte.

150 Jahre später ist das Verhältnis des Vatikan zum italienischen Staat entspannter, für Argwohn gibt es keinen Grund mehr. Der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Angelo Bagnasco, wird zum Staatsjubiläum ausgerechnet in der römischen Basilika S. Maria degli Angeli eine Messe lesen, um die »Anteilnahme« seiner Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die Ankündigung, man werde sich weiterhin zum »Wohle des Landes« einsetzen, hätte den dezidiert antiklerikalen Einheitskämpfern als Drohung gegolten. Aber Bagnasco weiß, dass der italienische Staat den Kampf gegen die katholische Kirche verloren hat. Statt laizistischer Grundsätze gehören die »christlichen Wurzeln« zum nationalen Selbstverständnis. In Verona fordert ein erzkatholisches »Anti-Einheits-Komitee«, das städtische Garibaldi-Denkmal durch eine Statue von Pius IX. zu ersetzen.

Im Streit um die Jubiläumsfeierlichkeiten geht es um die politische Auseinandersetzung zwischen einem chauvinistischen Regionalismus und einem im wörtlichen Sinne reaktionären Patriotismus. Zu Beginn der neunziger Jahre begann in Italien der Aufstieg einer neuen Rechten. Nicht nur die Lega Nord attackierte mit ihren separatistischen Forderungen die Einheit des Landes, auch die Postfaschisten rüttelten an den Grundfesten der italienischen Republik, indem sie die aus dem antifaschistischen Grundkonsens hervorgegangene Verfassung diffamierten und deren »Reform« anstrebten. Als Reaktion auf diese Entwicklung versuchte der damalige liberale Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, der selbst noch aktiv in der resistenza an der Befreiung seines Landes vom Nazifaschismus beteiligt gewesen war, den Angriff auf die staatliche Verfasstheit durch eine Aufwertung nationaler Symbole abzuwehren. Die italienische Fahne und die Nationalhymne, die bis dahin nicht einmal anlässlich von Fußballweltmeisterschaften eine besondere Rolle gespielt hatten, sollten Italien zusammenhalten. Der antifaschistische Widerstand funktionierte nicht länger als Staatsgründungsmythos, und so rückte der risorgimento, die nationale Einheitsbewegung, in den Mittelpunkt der Vergangenheitspolitik.

Dass längst nicht mehr nur liberale Kräfte, sondern auch weite Teile der Linken die Verteidigung der staatlichen Verfassung mit einem nationalistischen Populismus verbinden, zeigte sich zuletzt am Wochenende, als Zehntausende in mehreren Städten des Landes unter dem Banner der Nationalflagge gegen die von der Rechtskoalition angekündigte Verfassungsreform demonstrierten. Wie im Falle der revisionistischen Umschreibung des Mythos der resistenza hat auch der Bezug auf das risorgimento eine nationalkonservative Stoßrichtung. Die emanzipativ-fortschrittlichen Komponenten der politisch und sozial sehr heterogenen Einheitsbewegung haben in der staatstragenden Erinnerungspolitik keinen Platz. Umgekehrt findet sogar die Lega Nord einen Ahnen des risorgimento, den sie für aktuelle politische Ziele herbeizitieren kann. Der Mailänder Carlo Cattaneo habe sich schon damals gegen den königlichen Zentralstaat und für ein föderales Italien nach schweizerischem oder amerikanischem Vorbild ausgesprochen. In der von der Lega angestrebten Föderalismusreform geht es freilich weniger um eine Dezentralisierung als vielmehr um die Aufhebung des Lastenausgleichs zwischen den nördlichen und südlichen Regionen und damit de facto um die soziale Spaltung des Nationalstaats.

Der Konflikt zwischen Norden und Süden charakterisiert den italienischen Einheitsstaat von Anfang an, er bezeichnet die unvollendete Vergangenheit des risorgimento. In »Wir glaubten«, einem dreistündigen Epos, das im Herbst in die Kinos kam, erinnert der neapolitanische Filmemacher Mario Martone an die Aufstände, die in Süditalien der Vereinigung vorausgingen. Die Aufständischen beriefen sich zumeist auf die republikanischen Ideen eines Giuseppe Mazzini oder Carlo Pisacane, die die soziale Umwälzung keinesfalls der nationalen Einigung unterordnen wollten. Mit der Annexion Süditaliens durch Piemont wurde die Hoffnung auf eine republikanische Verfassung enttäuscht.

Raffaele Lombardo, der Regionalpräsident Siziliens, will zwar am offiziellen Festakt teilnehmen, betonte aber, die Vereinigung sei für den Süden »ein Unglück« gewesen, der Norden habe ihn »ausgeplündert und verarmen lassen«. Die von Garibaldi versprochene Landreform wurde nicht durchgeführt, das alte Feudalsystem blieb unangetastet. Stattdessen wurden neue Steuern erhoben und die Bauern zu langen Militärdiensten zwangsverpflichtet. Die Landbevölkerung wehrte sich, Männer und Frauen schlossen sich zu Räuberbanden, den sogenannten Briganten zusammen und es kam zu neuen Aufständen, die die piemontesische Armee brutal niederschlagen ließ.

Bis heute werden die Briganten gerne als »Sozialrebellen« verherrlicht, tatsächlich aber kämpften sie häufig nicht mehr für eine radikale Veränderung, sondern im Dienst der restaurativen Mächte der Kirche und der entmachteten Königsfamilie.

In Anlehnung an diese Tradition fand zuletzt die sogenannte neo-bourbonische Bewegung größere Beachtung. In ihrer Propaganda vermischt sich die Anklage, der Süden sei das Opfer norditalienischer Ausbeutungspolitik und fehlgeschlagener Industrialisierungsversuche, mit der stolzen Forderung, der Süden möge einer Abspaltung des Nordens zuvorkommen. Die Provokation basiert auf der utopischen Vorstellung, keiner europäischen Region stünde eine bessere Zukunft bevor als dem Süden. Der Traum von einem starken mezzogiorno im geostrategischen Zentrum des Mittelmeerraums ist mit den nordafrikanischen Revolten neu erwacht: Tunis war Neapel immer schon näher als Mailand.

Doch statt dieser größenwahnsinnigen Phantasie scheint sich eher die Vorhersage Mazzinis, »Italien wird das sein, was sein mezzogiorno ist«, zu bewahrheiten – allerdings anders, als es sich der Einheitskämpfer gewünscht haben mag. Auch im Norden verliert der demokratische Rechtsstaat an Gewicht, während die süditalienischen Mafias an Einfluss gewinnen. Ihr Aufstieg ist untrennbar mit der 150jährigen Geschichte des italienischen Nationalstaats verknüpft.


zurück zu Viva l'Italia

heim zu Die [un]schöne Welt der Illusionen

zurück zu Herzliche Grüße aus Italien

heim zu Reisen durch die Vergangenheit