Geboren am 31. Mai 1945 in Bad Wörishofen, im
selben Jahr wie Wim Wenders und drei Jahre nach Werner Herzog, war
Rainer Werner Fassbinder zunächst das Wunderkind des Neuen Deutschen
Films, später der "agent provocateur" im bundesrepublikanischen
Kulturbetrieb: man denke nur an den Aufstand gegen sein angeblich
linksfaschistisches Theaterstück Der Müll, die Stadt und der
Tod (1976) oder an die Kampagne der Boulevardpresse gegen den
"Schmuddelsex" in Berlin Alexanderplatz (1980). Postum hat
man Rainer Werner Fassbinder zum Klassiker stilisiert, als "das
Herz, die schlagende, vibrierende Mitte" des bundesdeutschen
Autorenkinos verortet (W. Schütte). In die Filmgeschichte
eingeschrieben wurde der Filmemacher, der auch Dramatiker,
Schauspieler und Theaterregisseur war, als "das maßlose Genie",
nicht zuletzt von den selbsternannten Biographen aus dem
Freundeskreis. Sein früher Tod, am 10. Juni 1982 in seinem Münchner
Apartment, hat ein Lebenswerk vorzeitig vollendet, das seinen
vielzitierten Wahlspruch noch retrospektiv zu illustrieren scheint:
"Schlafen kann ich, wenn ich tot bin ..."
Über 40 Kino- und Fernsehfilme hat der Autodidakt
Fassbinder, nach seiner erfolglosen Bewerbung an der Deutschen Film-
und Fernsehakademie Berlin und drei weitgehend unbekannt gebliebenen
Kurzfilmen, in den 13 Jahren von 1969 bis 1982 gedreht: als ein
Regisseur, der zumeist auch für das Drehbuch verantwortlich
zeichnete, mitunter sogar für Ausstattung, Kamera und Schnitt
(letzteres unter seinem Pseudonym Franz Walsch), und als ein
Filmemacher, der auch regelmäßig vor der Kamera agierte, vorrangig
in seinen eigenen Filmen, aber auch in denen anderer Regisseure, am
Beginn seiner Karriere etwa als Zuhälter in Jean-Marie Straubs
Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) und in
der Titelrolle von Volker Schlöndorffs Baal (1969), am Ende
seines kurzen Lebens am eindringlichsten als abgehalfterter
Polizeileutnant Jansen in Wolf Gremms Kamikaze 1989 (1982).
Fassbinder war 1971 an der Gründung des Verlags der Autoren und der
Produktionsgesellschaft Tango-Film beteiligt; er hat im kleinen
Rahmen als Produzent gearbeitet, etwa bei Ulli Lommels Die
Zärtlichkeit der Wölfe (1973), und er hat mit seiner
Theaterarbeit für Aufsehen gesorgt: von 1967 bis 1969 als Kopf jener
Münchner Avantgarde-Truppe, die sich erst "action- theater", dann
"antiteater" nannte, von 1974 bis 1976 als künstlerischer Leiter des
Frankfurter Theater am Turm (TAT). Am Theater inszeniert hat
Fassbinder auch in Bremen, Bochum, Berlin, Hamburg und München.
Seine Theaterstücke Katzelmacher (1968), Der amerikanische
Soldat (1968) und Petra von Kant (1971) hat er selbst für
die Leinwand adaptiert, und er hat das Medium Fernsehen genutzt, um
seine Vorstellungen von Theater einem größeren Publikum zu
präsentieren: mit Aufzeichnungen seiner Inszenierungen, von Das
Kaffeehaus (1970) bis Frauen in New York (1977), und mit
seinem einzigen Dokumentarfilm Theater in Trance (1981).
Daß man die Komplexität dieses zwischen den Medien
changierenden Oeuvres keine zwei Jahrzehnte nach Fassbinders Tod in
Erinnerung rufen muß, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß in diesem
Fall der Künstler das Werk stets überschattete, auch provokativ
akzentuierte und in die Diskussion brachte, und daß dieses Werk mit
der Person allmählich zu verblassen droht, auch wenn Retrospektiven
im In- und Ausland in den letzten Jahren noch einmal für
Diskussionen gesorgt haben. Sicherlich werden einige Filme von
Rainer Werner Fassbinder im Gedächtnis bleiben, etwa der späte
Publikumserfolg Die Ehe der Maria Braun (1979), vielleicht
auch Fontane Effi Briest (1974) und einige andere. Aber wie
steht es mit den frühen Gangsterfilmen Götter der Pest und
Der amerikanische Soldat (beide 1970) oder mit dem Western
Whity (1971), Fassbinders erster Großproduktion, die nie
einen Verleih fand? Wo läßt sich das Melodram Martha (1974),
Fassbinders erste explizite Auseinandersetzung mit dem
Sadomasochismus, heute noch begutachten oder seine lustvolle
Selbstdarstellung als naiver Schwuler in Faustrecht der
Freiheit (1975)? Wer erinnert sich noch an Satansbraten
(1976), die Farce um ein Dichterleben aus zweiter Hand, oder an die
Nabokov-Verfilmung Eine Reise ins Licht - Despair (1978), die
trotz der Stars Dirk Bogarde und Andrea Ferreol kein Erfolg wurde?
Wann wird der zweiteilige Science-fiction-Film Welt am Draht
(1973) noch einmal auf dem Bildschirm erscheinen, wo hat Fassbinders
hochartifizielle Genet-Adaption Querelle - Ein Pakt mit dem
Teufel (1982) noch Bedeutung, außer in der schwulen Subkultur?
Selbst wenn einige der genannten und manche andere Filme von
Fassbinder als Videoedition verfügbar sind: im Ausland spricht man
von Fassbinder bereits als "the forgotten filmmaker" (Th.
Elsaesser).
"Das wichtigste ist, scheint mir, Unbehagen an
Einrichtungen des Bürgertums zu schaffen." Das Fassbinders
"Ajax"-Inszenierung (1968) vorangestellte Motto kennzeichnet auch
die Zielsetzung seiner frühen Spielfilme, die er mit den Mitgliedern
der antiteater-Kommune realisierte, von denen der erste explizit an
diejenigen gerichtet war, "von denen ich will, daß sie eine Wut
kriegen, wie ich sie habe": Im Juni 1969 wurde Liebe ist kälter
als der Tod auf der Berlinale uraufgeführt. Im Oktober desselben
Jahres wurde Katzelmacher mit dem Preis der Filmkritik, dem
Preis der Deutschen Akademie für darstellende Künste und mit fünf
Bundesfilmpreisen ausgezeichnet. Es war der Beginn einer in der
Geschichte des deutschen Films einzigartigen Produktivität.
Fassbinders frühe Filme, schnell und mit kleinem Budget
produziert, erzählen von Gewalt und Entfremdung, in der Gesellschaft
und zwischen den Menschen, von einem Leben aus zweiter Hand, dem das
Eigene nicht mehr oder noch nicht zur Verfügung steht und das
zumeist um die Trias Arbeit - Liebe - Geld kreist: um den Traum vom
großen Geld und die ausbeutbaren Gefühle, um homoerotisch
konnotierte Männerfreundschaften und um den Verrat der Frauen, die
sich wie Huren verhalten, es bereits sind oder von Männern dazu
gemacht werden. Trotz der Bezugnahmen auf die Filmgeschichte, in
Der amerikanische Soldat und Götter der Pest (1970)
etwa auf den Gangsterfilm, ging es Fassbinder nicht, wie Jean-Luc
Godard im Jahrzehnt zuvor, um eine ironisierende Dekonstruktion des
Genre-Kinos und noch weniger um eine mythologisierende
Amerikanisierung der deutschen (Seelen-)Landschaft, wie sie fast
zeitgleich Peter Handke und Wim Wenders in 3 amerikanische
LPs (1969) vorführten. Das München Fassbinders bleibt als
deutsches Halbwelt- und Unterschichtsmilieu stets erkennbar, auch
wenn die Gesten und Verhaltensrituale der Kinohelden nachgeahmt
werden. Die Aneignung der antibürgerlichen Vor-Bilder ist nicht
bloße Imitation und nur die Kehrseite jener Konditionierung, die den
Gestalten des depravierten Kleinbürgertums eingeschrieben ist. Nicht
erst Fassbinders Filme der mittleren Phase, die nach seiner
Abrechnung mit den Funktionsmechanismen des Künstlerkollektivs in
Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) beginnt, enden
auffällig oft mit Selbstmord. Das selbstzerstörerische Potential ist
Fassbinders Figuren von Anfang an zu eigen, den Repräsentanten des
Kleinbürgertums ebenso wie den Protagonisten der Gegenwelt. Die
Fluchten erstarren im Ritual, enden im Tod oder - wie in
Katzelmacher - mit einer Vereinnahmung des Fremden und
Andersartigen.
Daß es im alles beherrschenden System der Warenwelt
kein Refugium privater Gefühle gibt (doch geben müsse), daß alle
zwischenmenschlichen Beziehungen, auch die der Freundschaft und
Liebe, nach den Regeln von Herrschaft und Knechtschaft funktionieren
(denen zu widerstehen sei), daß Leidenschaft ausbeutbar ist, in
Verzweiflung und Selbstzerstörung kulminiert (wenn nicht in der
Akzeptanz der Machtverhältnisse), durchzieht als Grundüberzeugung
Fassbinders Oevre. Seine Filme erzählen, in immer neuen Variationen
(vom Gangsterfilm über das Volksstück und Melodram bis zum
Pastiche), vom wahren Leben im falschen, von der Sehnsucht danach
und den oft tödlichen Konsequenzen, gerade für diejenigen, die noch
nicht erkannt haben oder immer noch nicht glauben wollen, daß auch
die sogenannte Intimsphäre dem Energiefeld gesellschaftlicher Macht
unterliegt. "Es gibt einen Film von Godard, den ich
siebenundzwanzig Mal gesehen habe, das ist Vivre sa vie, das
ist der Film, der für mein Leben zusammen mit Viridiana (von Bunuel)
der wichtigste Film gewesen ist", hat Fassbinder 1974 erklärt. Doch
im Gegensatz zu Godard, der sich Ende der sechziger Jahre aus dem
Kino zurückzog, hat Fassbinder seit Anfang der siebziger Jahre Wege
zum großen Publikum gesucht, sowohl im Kino als auch über das
Massenmedium Fernsehen. Den entscheidenden Wendepunkt, die Abkehr
von den Filmen "nur [...] für mich und meine Freunde", markiert
Händler der vier Jahreszeiten (1972), der erste Film des
jungen deutschen Autorenkinos über die Adenauer-Ära und von den
Kritikern seinerzeit euphorisch bewertet: "Für mich ist es der beste
deutsche Film seit dem Krieg", schrieb H. G. Pflaum. Auf jeden Fall
war es der Beginn von Fassbinders Historiographie der Bundesrepublik
Deutschland und ihrer fatalen Vorgeschichte, und es war seine
Entdeckung des Melodrams. Voraus ging eine Begegnung mit Douglas
Sirk und einigen seiner Hollywood-Melodramen, über die Fassbinder
schrieb: "Es waren die schönsten der Welt dabei." Was Fassbinder
über Sirks Melodramen publizierte, im Februar 1971 unter dem Titel
"Imitation of Life", über die Liebe als "das beste, hinterhältigste
und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung", über
die Frauen, die denken und nicht bloß reagieren, über die
gesellschaftlich geprägten Räume, über Licht, Spiegel, Blut, Tränen,
Gewalt, Haß, Sehnsucht und Einsamkeit, über all diese "wahnsinnigen
Sachen, für die es sich lohnt", läßt sich ebenso als Kommentar zu
seinen eigenen Filmen lesen. Trotz Fassbinders Kultivierung des
Melodramatischen, trotz der in der Folgezeit vielfach eingesetzten
Spiegel-Szenen, szenischen Einrahmungen der Figuren, symbolischen
Aufladungen der Innenräume und Menschenkörper, am sinnfälligsten
wohl in dem Frauenbeziehungsdrama Die bitteren Tränen der Petra
von Kant (1972), sollte man den Einfluß Sirks, den Fassbinder
damals zur künstlerischen Vaterfigur stilisierte, nicht überschätzen
- nicht einmal angesichts der Parallelen zwischen Sirks Was der
Himmel erlaubt (1955) und Angst essen Seele auf (1974).
Fassbinder hat stets schnell auf Vorgefundenes reagiert, sich dieses
anverwandelt und daraus Neues montiert. Zumeist hatte er seine
genaue Vorstellung vom Bildaufbau, von der Kadrierung im Kopf, und
er verfügte über ein phänomenales Bildgedächtnis, nur deshalb "hat
er ja meistens nur eine Klappe gedreht" (P. Märthesheimer). Aber
Fassbinder war auch ein - bisweilen schlampiges - Genie der
Improvisation. Den Drehort sah er oftmals erst bei den Aufnahmen,
was ebenfalls für die Ausstattung und Kostüme gilt; und die - von
scharfsinnigen Cineasten als "postmodern" deklarierte -
Farbdramaturgie von Lola (1981) war eine Kreation des
Kameramannes Xaver Schwarzenberger, der Fassbinder und seine
Arbeitsweise folgendermaßen charakterisierte: "Ich glaube, das
Schnellsein hat ihm einfach Spaß gemacht. [...] Er war überhaupt
kein sehr geduldiger Mensch [...] : Ungeduld und
Fertigwerden-Wollen, das Ding haben und weglegen und das nächste
anfangen." Fassbinders unglaubliches Produktionstempo beruhte nicht
zuletzt darauf, daß er die Mitglieder seiner "Familie" an sich
binden konnte, eine Voraussetzung der bekannten
Abhängigkeitsverhältnisse und Machtspiele, und daß er Aufgaben
delegieren konnte. Wie es seine Cutterin Juliane Lorenz formuliert
hat: "Das war etwas, was ich durch ihn gelernt habe: selbständig zu
sein, mich nicht andauernd abzusichern und zu fragen: 'Was hast du
dir dabei gedacht?'."
Mit Fassbinder unauflöslich verbunden ist der
Mythos des Autorenfilmers, der Fassbinder zwar war, aber anders als
Herzog oder Wenders und eher in dem Sinne, daß seine Originalität
nicht der Vorstellung vom romantischen Künstler verpflichtet war,
sich seine Kunst im Kollektiv und durch die Methode der Collage
realisierte. Was in einem "Film von Rainer Werner Fassbinder" genuin
Fassbinders Kreativität entsprang, was den Einfällen der anderen zu
verdanken ist, darüber gibt der von Juliane Lorenz herausgegebene
Gesprächsband "Das ganz normale Chaos" (1995) manche erhellende
Auskunft. Es wäre also nach dem Anteil der anderen an seinem Werk zu
fragen, etwa nach der Bedeutung von Peter Märthesheimer, der mit
Fassbinder zuerst als WDR-Redakteur, später als Produzent und
Drehbuchautor zusammenarbeitete. Zur künstlerischen Handschrift
Fassbinders gehören auch die Musik von Peer Raben und die
Bildkompositionen der Kameraleute Dietrich Lohmann, Michael Ballhaus
und Xaver Schwarzenberger, gehören vor allem diejenigen, die
Fassbinders Protagonisten ihre unverwechselbare Erscheinung gaben:
sein Star Hanna Schygulla und die ehemaligen Mitglieder des
antiteaters, auch Günther Kaufmann, Hark und Marquard Bohm,
Gottfried John und Klaus Löwitsch und nicht zuletzt Schauspieler wie
Brigitte Mira, Karlheinz Böhm, Günter Lamprecht, Barbara Sukowa,
Armin Mueller-Stahl und Rosel Zech, die Fassbinder zum Teil für das
Kino wiederentdeckte. Auch Fassbinders leibliche Mutter Liselotte
Eder, seine einstige Ehefrau Ingrid Caven, seine zeitweiligen
Lebenspartner El Hedi Ben Salem und Armin Meier haben in und an
Fassbinders Filmen mitgewirkt.
Zu dieser handwerklichen Professionalität und
Fassbinders Ungeduld gehörte auch die - bisweilen gleichzeitige -
Arbeit in und mit verschiedenen Medien. Ohne das
öffentlich-rechtliche Fernsehen, so wie es in den siebziger Jahren
als kulturelle Institution ausgebildet war, hätte Fassbinders
Gesamtwerk nicht entstehen können. Das agitatorische
Revolutionsspektakel Die Niklashauser Fahrt (1970) war
Fassbinders erste Zusammenarbeit mit dem WDR, der auch in der
Folgezeit, trotz mancher Querelen, einer seiner wichtigsten
Produktionspartner blieb. 1972 produzierte der WDR die Fernsehserie
Acht Stunden sind kein Tag, die allerdings nach fünf Folgen
abgesetzt wurde. 1973 folgte der zweiteilige Fernsehfilm Welt am
Draht, noch im selben Jahr Martha und 1974 die TV-Show
"Wie ein Vogel auf dem Draht" mit Brigitte Mira und Evelyn Künneke.
1975 realisierte Fassbinder mit dem WDR Angst vor der Angst,
im selben Jahr mit der Bavaria Atelier Ich will doch nur, daß ihr
mich liebt (1976) im Auftrag des WDR, im folgenden den
zweiteiligen Fernsehfilm Bolwieser (1977), mit derselben
Produktionsgesellschaft, aber im Auftrag des ZDF. Der WDR war auch
an der Produktion von Die Ehe der Maria Braun und Lola
beteiligt, Berlin Alexanderplatz, Fassbinders erklärtes
Lebensprojekt, war ebenfalls eine Produktion im Auftrag des WDR. Die
Streitigkeiten mit den Sendern - man denke nur an die nicht
realisierten Verfilmungen von "Die Erde ist so unbewohnbar wie der
Mond" und "Soll und Haben" - waren vielleicht ein Grund, weshalb
Fassbinder seit Mitte der siebziger Jahre seine radikalsten Filme
über Produktionsgesellschaften wie Tango-Film, Albatros Produktion
und den Filmverlag der Autoren finanzierte. Mutter Küsters' Fahrt
zum Himmel und Satansbraten (beide 1976) sind solche
radikalen Filme, auch Die dritte Generation (1979), vor allem
das unmittelbar nach dem Selbstmord von Armin Meier gedrehte
Identitätsdrama In einem Jahr mit 13 Monden (1978), das die
Zerstörung einer Persönlichkeit, die Aufspaltung einer Person in
Erwin/Elvira bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus
demonstriert. Für diesen Film schrieb Fassbinder das Drehbuch,
besorgte Ausstattung und Schnitt, rührte zum ersten Mal selbst die
Kamera. "Daß die Welt [...] zur Hölle geworden ist, zeigt Fassbinder
in fast apokalyptischen Bildern" (W. Roth), aber es ist eine Hölle,
die im Inneren ihren Ort hat.
Fassbinders Filme sind Liebesfilme, jedenfalls die
meisten von ihnen, aber solche, die die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen einer unstillbaren Sehnsucht analysieren: zumeist
melodramatisch, selten als Farce. Der sich systematisch zu Tode
saufende Obsthändler Hans Epp in Händler der vier
Jahreszeiten markiert ein deutsches Kleinbürgerschicksal. Das
gilt ebenso für das unakzeptable Verhältnis zwischen der gealterten
Putzfrau Emmi und einein marokkanischen Gastarbeiter, den sie der
Einfachheit halber Ali nennt: "Alle Türken heißen Ali" sollte
Angst essen Seele auf (1974) zunächst heißen. Der Film hat
deshalb etwas mit der deutschen Realität zu tun, weil er ein reales
Verhaltensmuster in zwei modellhaften Varianten durchspielt. In
Fassbinders Kosmos konvergieren Liebe und Macht, in hetero- und
homosexuellen Beziehungen, und so läßt sich seine provokante
Diagnose "Die meisten Männer können nur nicht so perfekt
unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten", nicht nur auf die
Titelfigur von Martha beziehen; der in diesem Frauenfilm
vorgeführte Sadomasochismus weist über Geschlechtergrenzen hinaus
und auf Fassbinders Version einer Passion hin, die erst ihre
Erlösung findet, wenn der eigene Widerstand gebrochen ist, die
"Selbstaufgabe [...] zur Geste einer Freiheit [wird], die allein
wieder Identität gibt" (Th. Elsaesser). Was sich in Die bitteren
Tränen der Petra von Kant andeutet, in der Leidensbereitschaft
der stummen Dienerin Marione, die Insider als Hinweis auf
Fassbinders Verhältnis zu Günther Kaufmann zu deuten wußten, löst
der homoerotische Kosmos von Querelle - Ein Pakt mit dem
Teufel ein: daß die Sehnsucht nach einem reinen Begehren, mehr
noch, die Suche nach dem eigenen Selbst in erster Linie eine Fiktion
ist, ein regulatives Muster bürgerlichen (Er-)Lebens, von dem erst
die Unterwerfung, die Akzeptanz der Macht und ihre Einverleibung,
befreit. Nur hat diese Art der Selbstaufgabe, die in der Kunstwelt
sadomasochistischer Rollenspiele lustvoll gelingt, realiter
verhängnisvolle Konsequenzen, in der Geschichte und für die je
eigene Existenz.
Fassbinder hat die eigene Person immer wieder
öffentlich exponiert, auf der Leinwand am schonungslosesten in
seiner Episode der Gemeinschaftsproduktion Deutschland im
Herbst (1978). Wenn Fassbinder seinen nackten Körper und seine
verwundete Seele für die Kamera bloßstellt, wenn er die eigene
Mutter zu der Aussage treibt, daß in dieser Situation nur ein
autoritärer, guter Herrscher helfen könne, und in diesem Moment
wegschneidet, wenn er seinen Partner Armin Meier erniedrigt und die
eigene Selbsterniedrigung zur Schau stellt dann kennzeichnet seine
Paranoia vor dem Polizeistaat eben jenen paranoiden Zustand eines
Teils der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie er im "heißen
Herbst" 1977 am Umschlagpunkt des Terrorismus, sichtbar wurde.
Radikaler lassen sich Leben und Werk, Künstler und Fiktion nicht
verschmelzen, und wenn es ein klar zu bestimmendes Ende von
Fassbinders mittlerer Phase gibt, dann findet es in diesem Moment
statt. So gesehen wäre die Terroristen-Farce Die dritte
Generation (1979) nur noch ein Nachklapp einer bereits
verabschiedeten Hoffnung. Mit Die Ehe der Maria Braun beginnt
Fassbinder seine »BRD-Trilogie«, die Lola und Die
Sehnsucht der Veronika Voss (1982) fortzusetzen. Seine Revision
der deutschen Nationalgeschichte macht auch Stilistisch von der
deutschen Filmgeschichte Gebrauch, nutzt die Ästhetik der UFA-Filme
für die Inszenierung historisierter Kunstwelten, deren Bezugspunkt
aber stets die Gegenwart bleibt. In dieses Projekt fügt sich Lili
Marleen (1981) ein, ein - wie Kritiker meinten - Film der
"verschwimmenden Positionen" und einer, der Fassbinder den Vorwurf
einer "Ästhetisierung des Faschismus" (S. Friedländer) einbrachte.
Gerade der Dokumentarfilm Theater in Trance und der
Schwulenfilm Querelle zeigen aber auch, daß Fassbinders
Oeuvre stilistisch nie homogen war. Die Filmprojekte "Rosa
Luxemburg" und "Kokain" hat Fassbinder nicht mehr realisieren
können. Der von der Rainer Werner Fassbinder Foundation verwaltete
Nachlaß wird zeigen, ob sich vom Ende her neue Perspektiven eröffnen
lassen. Für alle Filme Fassbinders gilt, daß sie die historische
oder gegenwärtige Wirklichkeit niemals direkt abbilden, ihre
Wirklichkeit ist ebenso Medienrealität, wie ihr Fokus das
gegenwärtige Deutschland bleibt, so wie es Fassbinder gesehen hat:
als eine Republik, in der sich der Faschismus auffällig unbehindert
fortgeschrieben habe. Th. Elsaesser hat Fassbinder als den
"Chronisten des westdeutschen Innenlebens" bezeichnet. Eine andere,
vielleicht nicht minder produktive Lesart wäre, in Fassbinders
Filmen die unstillbare Sehnsucht nach einem wahren, wirklichen Leben
in einem unüberwindlichen falschen, entfremdeten aufzudecken, eine
Sehnsucht, die bis zur Selbstdestruktion führt. Diese Lesart würde
auf ein Dilemma hinweisen, das in der Postmoderne gern unterschlagen
wird: auf die uneinlösbare Utopie authentischer Identität. Nicht daß
Fassbinder ein Postmodemist gewesen wäre, aber sein Gesamtwerk
markiert, wie auch das von Jean-Luc Godard, jene Schwelle der
Filmgeschichte, an der sich das moderne Autorenkino selbst überlebt.
Fassbinder hat seine Perspektive einer radikal antibürgerlichen
Utopie, wie sie im Spätwerk aufscheint, bereits 1977 skizziert, mit
dem ihm eigenen Mut und der ihm eigenen Verzweiflung: "Unsere
Beziehungen sind ja deshalb grausame Spiele miteinander, weil wir
unser Ende nicht als etwas Positives anerkennen. Es ist positiv,
weil es wirklich ist. Das Ende ist das konkrete Leben. Der Körper
muß den Tod verstehen."
Aus Reclams Lexikon der
Filmregisseure
Filmographie: This Night (1966) - Der
Stadtstreicher (1966) - Das kleine Chaos (1967) - Liebe ist
kälter als der Tod (1969) - Katzelmacher (1969) - Götter der
Pest (1970) - Warum läuft Herr R. Amok? (Co-Regie: Michael
Fengler, 1970) - Das Kaffeehaus (1970) - Die Niklashauser Fart
(1970) - Der amerikanische Soldat (1970) - Rio das Mortes
(1971) - Whity (1971) - Warnung vor einer heiligen Nutte
(1971) - Pioniere in Ingolstadt (1971) - Händler der vier
Jahreszeiten (1972) - Die bitteren Tränen der Petra von Kant
(1972) - Wildwechsel (1972) - Acht Stunden sind kein Tag
(Fernsehserie, 1972/73) - Bremer Freiheit (1972) - Welt am
Draht (Fernsehfilm, 1973) - Nora Helmer (1974) - Angst essen
Seele auf (1974) - Martha (Fernsehfilm, 1974) - Fontane Effi
Briest (1974) - Faustrecht der Freiheit (1975) - Wie ein Vogel
auf dem Draht (Femsehshow, 1975) - Mutter Küsters' Fahrt zum
Himmel (1976) - Angst vor der Angst (1975) - Ich will doch
nur, daß ihr mich liebt (1976) - Satansbraten (1976) -
Chinesisches Roulette (1976) - Bolwieser (Fernsehfilm, 1977) -
Frauen in New York (1977) - Despair - Eine Reise ins Licht -
(1978) - Deutschland im Herbst (Episode, 1978) - In einem Jahr
mit 13 Monden (1978) - Die Ehe der Maria Braun (1979) - Die
dritte Generation (1979) - Berlin Alexanderplatz (Fernsehfilm
in 13 Teilen und einem Epilog, 1980) - Lili Marleen (1981) -
Lola (1981) - Theater in Trance (Dokumentarfilm, 1981) - Die
Sehnsucht der Veronika Voss (1982) - Querelle - Ein Pakt mit
dem Teufel (1982). |
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