"Er war einer wie wir und einer von uns..."

(von Klaus Harpprecht, F.A.Z.)

In den Annalen der Hochstapelei wie des publizistischen Größenwahns kommt nichts heran an die geheimen Tagebücher Adolf Hitlers, die im April vor 20 Jahren in der Illustrierten "Stern" veröffentlicht wurden. Die Geschichte des Dritten Reiches müsse in weiteren Teilen umgeschrieben werden: Dieser Satz setzt den Maßstab der Großsprecherei in der deutschen Pressehistorie.

Wie das Syndrom von Geldgier und Geltungssucht bei Spielernaturen alle Sicherungen journalistischer Sorgfalt durchbrennen ließ, wie Aufklärungshochmut sich mit nationalem Ressentiment gemeinmachte - das ist längst Kunst geworden, in Helmut Dietls Filmkomödie "Schtonk". Von Robert Harris, der später mit dem Zeitgeschichtsthriller "Fatherland" berühmt wurde, gibt es ein Buch über den Presseskandal, in den auch die angesehenste Zeitung der Welt, die Londoner "Times", verwickelt war: "Selling Hitler". Als Kapitel der Geschichte des deutschen Nachkriegsbewußtseins ist die Story von Konrad Kujaus Coup und denen, die ihm glauben wollten, noch zu schreiben.

"Denn die Quoten sind im Keller, / es ist längst nicht mehr schön / und der Stern gibt uns / Hitler - menschlich gesehen." So hieß es 1993 in einem Song des Liedermachers Bernd Begemann zum zehnjährigen Jubiläums des Skandals. Hitler - menschlich gesehen: Damit hatte der "Stern" einen Trend der populären Kultur gesetzt, den der Comiczeichner Walter Moers mit "Adolf" und der Karikaturist Achim Greser mit "Der Führer privat" parodieren sollten. Nur keine Sentimentalitäten: Ein Gebot journalistischer Ethik, das plötzlich außer Kraft trat, als es vermeintliche intime Bekenntnisse Hitlers zu lesen gab.

Wie stark das Bedürfnis der Deutschen nach einem Hitler gewesen sein mag, mit dem man mitfühlen konnte, deutet das Dokument an, das wir hier publizieren. Unter dem Titel "Der Fund" strahlte das ZDF am 26. April 1983 eine "Stern TV"-Sendung aus, die auf der Prämisse der Echtheit der Tagebücher beruhte und erste Konsequenzen für unser Geschichtsbild zog. In der Sendung, für die neben Barbara Dickmann der Publizist Klaus Harpprecht als Produzent verantwortlich zeichnete, wurden neben Filmausschnitten aus der Zeit des Dritten Reichs Wissenschaftler wie Hugh Trevor-Roper und der "Stern"-Reporter Gerd Heidemann, der den "Fund" beschaffte, interviewt. Das Ansehen des berühmten Historikers Trevor-Roper hat sich bis zu seinem Tod im Januar diesen Jahres nicht mehr von dem Schlag erholt, den er sich selbst zufügte, als er Kujaus Fälschungen sein Gütesiegel gab. Wir dokumentieren den Kommentar Klaus Harpprechts im Wortlaut. (F.A.Z.)

„Seine persönlichen Gedanken“

Die sechzig Bände mit tausenden handgeschriebener Seiten, von 1932 bis wenige Tage vor dem Selbstmord im April 1945 geführt, werden neue Erkenntnisse bringen zur Person Hitlers und zu den geschichtlichen Zusammenhängen. In seinem Schlafzimmer im Bunker der Reichskanzlei in Berlin, zum Beispiel, schreibt er Nacht für Nacht in diese Kladden seine persönlichen Gedanken über die letzten Kriegstage. Aufbewahrt hat er die Tagebücher in diesem Tresor, zu dem nur er den Schlüssel besaß. Als die Bomben immer dichter auf Berlin fielen, trug sich Hitler mit dem Gedanken, dem Rat seines Sekretärs Bormann zu folgen und Berlin zu verlassen. Er wußte, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die russischen Soldaten die Reichskanzlei erreichen würden. Am 20. April 1945 schrieb Bormann in sein Tagebuch: Vorauskommando nach Salzburg angeordnet. (...)

Die Maschine mit dem Zeugnis für die Nachwelt nahm ihren Weg von Berlin über Pirna und wich schon hier leicht vom Kurs ab. In Börnersdorf, einem kleinen Ort bei Dresden, endete der Flug. Aus bisher nicht geklärten Gründen stürzte die Maschine in einem Waldstück ab und brannte fast gänzlich aus. Den Sohn des Piloten Friedrich Gundelfinger fanden wir in München. (...)

Was von der brennenden Maschine und ihrer Ladung übrig blieb, wurde zum Teil von Bauern und Landarbeitern aus der Umgebung geborgen und von einer Wehrmachtseinheit sichergestellt. (...)

Dem Bundesarchiv in Koblenz wurden originale Manuskripte aus dem Tagebuch zur Prüfung übergeben. Das Bundesarchiv wiederum bat Experten des Landeskriminalamtes von Rheinland-Pfalz um ein Gutachten, in dem unter Paragraph 5 zusammenfassend festgestellt wird: Merkmale, die gegen die Urheberidentität dieser Schriften sprechen könnten, wurden nicht festgestellt, auch nicht bei den Unterschriften Adolf Hitlers.(...)

Professor Weinberg weist darauf hin, daß er überdies eine Anzahl von Hitlers Schriften und von handschriftlichen Notizen für seine Reden in der Kongressbibliothek von Washington identifizierte. So ist er mit den Hitlermaterialien eng vertraut. Wäre es nach der Meinung von Professor Weinberg denkbar, daß es einem Genie gelingen könnte, hunderte und tausende von Seiten in Hitlers Handschrift zu fälschen? Auch Professor Weinberg berichtet, daß er mit großer Skepsis nach Europa fuhr, sich immer noch kritische Fragen stellt und oft den Kopf schüttelt, weil ihm der Fund kaum glaubhaft erscheint. Wörtlich: Doch andererseits erscheint mir der Gedanke an eine Fälschung von solch enormen Massen jeweils handschriftlichen Materials, ich spreche nicht von maschinengeschriebenen Dokumenten, nahezu unvorstellbar. Ich war überrascht, als ich das Material sah. Was nach seiner Meinung eine Fälschung noch weniger wahrscheinlich mache, sei die Tatsache, daß Hitler auf hunderten von Seiten seine Eintragungen unterschrieben habe. Die Fälschung von Signaturen aber läßt sich leicht feststellen. Uns wurde versichert, daß geplant ist, dieses Material im Bundesarchiv in Koblenz nach der Bearbeitung zu lagern. Das Bundesarchiv sei ein hochrespektiertes Institut, mit einem sehr guten Ruf und hervorragenden Mitarbeitern, daß überall ein hohes Ansehen genieße. Das bedeute, daß die Leute, die jetzt mit dem Material arbeiten, Veröffentlichungen vorbereiten und Artikel darüber schreiben, sehr wohl wüßten, daß ihnen ein wenig später auf die Finger geschaut werden könnte. (...)

"Ich komme zur Erkenntnis, daß die SA für die erste Juliwoche etwas plant. Himmler konnte einige Leute in die Reihen der Verschwörer einschleusen. Nach geheimen Berichten weiß auch Röhm genau was geplant ist." Zur Reichskristallnacht am 9. November 1938 findet sich einen Tag später eine verblüffend naive, womöglich zynische Eintragung: "Die Kundgebungen gegen Juden im Reich nehmen überhand. Habe auch schon mit Göhring, Dr. Goebbels und Lutze gesprochen. Es geht nicht, daß unserer Wirtschaft durch einige Hitzköpfe Millionen und Abermillionen Werte vernichtet werden, allein schon an Glas." (...)

"Der Beginn des Kampfes ist zwar anders gekommen, als ich dachte, aber er mußte kommen. Ich werde aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen oder das Ende nicht erleben. Aus diesem Kampf geht der Stärkere oder die bessere Rasse als Sieger hervor, und das sind wir. Der Herrgott stehe uns bei."

Eva Braun, die Gefährtin Hitlers, beunruhigte mit ihren Beschwerden den größten Feldherrn aller Zeiten, als der Krieg angeblich keine privaten Sorgen duldete. "Viel Leid hatte Eva durchzustehen. Wie mir die Ärzte am 30. mitteilten, war es nur eine Scheinschwangerschaft. Eva aber glaubt an einen Abortus. Gerade nun, da ich wirklich keine Zeit, die diese junge Frau nun braucht, habe, muß ich sie so allein lassen." (...)

"Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können. Ich habe von den Teilnehmern der Konferenz eine schnelle Lösung verlangt. Der Judenrat ruft die Juden auf, gegen uns zu kämpfen und im Reiche zu Sabotageakten. Aber haben und/oder versorgen will sie keiner."

Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 schrieb der Diktator voller Verachtung über die Verschwörer. "Schon im Winter 1942/43 merkte ich, daß eine kleine Gruppe von Offizieren gegen mich etwas im Schilde führt. Ich gab danach den Befehl, ganz im Geheimen etwas über diese Gruppe in Erfahrung zu bringen. Ich kann heute nur sagen, diese Leute waren Stümper, denn sie waren nicht darauf bedacht, besonders geheim zu bleiben. So konnte ich immer wieder etwas über diese Leute erfahren." (...) "Mussolini ist nicht mehr der hochnäsige Führer des großen Italien, sondern ein kleiner Winzling eines feigen, hinterhältigen und zu seinen Abmachungen nicht stehenden Staates." Mit fahrigen Lettern trug Hitler vor dem letzten Angriff der Russen ein: "Die schon erwartete Sowjetoffensive hat begonnen. Es stehe uns der Herrgott bei." (...) "Bormann fragte mich in den letzten Tagen, was ich einmal mit diesen Büchern vorhätte. Ich erklärte ihm, auch ich würde eines Tages mich zurückziehen, wenn ich die Zeit für gekommen halte und einem Jüngeren Platz machen. In diesen Büchern habe ich teilweise meine eigenen Gedanken niedergelegt, so daß ich mir in späterer Zeit ein genaues Bild über gewisse Vorgänge machen kann. So werde ich über alles ein genaues und unbestechliches Urteil fällen können."

Der Beharrlichkeit eines Reporters, der sich durch nichts beirren ließ, ist gelungen, was die Forschung nicht leistete, den wichtigsten Nachlaß Hitlers ans Tageslicht zu befördern. Die Redaktion des "Stern" übernahm mit der Publikation keine geringe Verantwortung. (...)

Die entscheidende Frage, die immer wieder von dem zweifelhaften Historiker David Irving aufgeworfen wurde, muß heißen: War Hitler für die sogenannte Endlösung verantwortlich? (...)

Aber wie wird es die Öffentlichkeit aufnehmen, daß man Hitler anhand seiner persönlichen Aufzeichnungen nicht ohne weiteres als den Verantwortlichen für den Massenmord an den Juden festnageln kann? Mister Trevor-Roper meint, man könne ihn tatsächlich nicht festnageln, denn es wurden größte Anstrengungen unternommen, ihn nicht mit der unmittelbaren Verantwortung zu belasten. Das ist umfassend dokumentiert worden. Die Tatsachen sind recht klar. Hitler bestand darauf, daß sein Bild als Führer der deutschen Nation nicht mit dem schmutzigen Geschäft des Judenmordes besudelt wird.

Ein jüngerer Kollege sagte mir, daß ihm in den Blättern dieser Tagebücher zum ersten Mal Adolf Hitler als Mensch begegnet sei. Sozusagen als ganz normaler Deutscher, als einer wie wir, als einer von uns. Meine Reaktion war eine andere. Ich las in den Bänden zunächst mit einer kalten Faszination. Mir war deutlich, daß hier ein Dokument von weltgeschichtlichem Rang vorliegt. Das ist ein großes Wort. Man hat es damals oft und voll in den Mund genommen. Aber ist in diesen Aufzeichnungen auch nur ein Hauch vom sogenannten Atem der Weltgeschichte zu spüren? Findet sich auch nur die Andeutung der Tragödie, der die Völker Europas ausgeliefert waren? Die Polen, die Russen, die Juden, die Franzosen, die Italiener und weiß Gott auch die Deutschen. Die Notizbücher eines normalen Menschen. Das war Adolf Hitler auch, einer wie wir, mit der ganzen Banalität des Kleinbürgers, der freilich bei den nächtlichen Niederschriften selten den Ruhm der Nachwelt aus dem Auge verlor. Der nette, der fürsorgliche, der menschliche Hitler. Das kann der Ansatz einer neuen Legendenbildung, die Overtüre einer Verklärung sein. Eine Stimmung, die danach drängt, scheint sich vorzubereiten, auch bei manchen Jungen und nicht nur unter Deutschen. Nun las ich nicht mehr kalten Herzens. Ich war noch dabei, im April 1945, gerade achtzehn Jahre alt, leicht verwundet, in Gefangenschaft geraten. Ich dachte an meine Kameraden, die den Tod fanden. Dachte an die Millionen, die wie sie elend verreckten, Polen, Russen, Deutsche. Ich dachte an meine gefallenen Brüder, ich dachte an Verwandte, die für ihren Widerstand mit dem Tod bezahlten, ich dachte an meine Frau, die auf der Rampe von Auschwitz war, dachte an ihre Eltern, die im Gas gestorben sind. "Gott schütze uns" schrieb der Diktator in sein Tagebuch, als die Sowjets zum Sturm auf Berlin ansetzten. Daß seine Opfer in ihrer Todesangst millionenfach nach Gott geschrieen hatten, kümmerte ihn nicht, diesen fürsorglichen Mann, der einer war wie wir.

Die lückenlose Veröffentlichung der Tagebücher und aller anderen noch verborgenen Dokumente ist notwendig. Doch sie wird von uns gegen die Verklärer eine Reifeprüfung verlangen, von den Journalisten, von den Historikern, von uns allen. Die Wertung, jetzt erst im Ansatz möglich, muß exakt sein. Sie wäre es nicht, wenn wir das Entsetzen, die Trauer, die Scham und den Zorn vergäßen, die uns dieser Mann hinterlassen hat, der einer war wie wir und einer von uns.


Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2003, Nr. 173 / Seite 34

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