Der Kassenschlager des Frühjahrs 1898 im New Yorker Eden Musee war ein Film über die
Passionsspiele von Oberammergau. Allerdings wurde er am vierten Mai desselben Jahres abgesetzt,
da ein aktuelles Ereignis das ganze öffentliche Interesse in Anspruch nahm. Die größte
Heldengeschichte aller Zeiten musste einer Heldengeschichte weichen, deren Protagonisten ganz
real und noch dazu Amerikaner waren. Seit zwei Wochen befanden sich die USA im Krieg mit Spanien.
Die Schlachtfelder jener Tage befanden sich auf Kuba. Schon seit 1895 unterstützen die USA die
kubanische Unabhängigkeitsbewegung, die unter der Führung des Revolutionärs José Martin Krieg
gegen das Mutterland Spanien führte.
Insbesondere die Berichte über Konzentrationslager, in denen der spanische General Valeriano
Weyler kubanische Zivilisten interniert hatte, heizten die anti-spanische Stimmung in den USA an.
Den endgültigen Anlass für den Kriegseintritt bildete ein Vorfall am 15. Februar 1898. Im Hafen
von Havanna explodierte das amerikanische Schlachtschiff »Maine«, 266 Matrosen kamen dabei ums
Leben. Von nun an erscholl im ganzen Land der Schlachtruf: »Remember the Maine - to Hell with
Spain«. In Anlehnung an »Remember the Alamo« aus dem Krieg gegen Mexiko, traten die USA am 23.
April auf Druck der öffentlichen Meinung in einen Krieg ein, der sich erstmals außerhalb der
Grenzen des nordamerikanischen Kontinents abspielen sollte. Für die USA dauerte dieser Krieg 113
Tage, er endete mit der Niederlage Spaniens und der Unabhängigkeit Kubas. Für den amerikanischen
Imperialismus des 20. Jahrhunderts bildete er einen Präzedenzfall und brachte unter maßgeblicher
Beteiligung der Medien einen echten Helden hervor: Theodore - oder »Teddy« - Roosevelt, der drei
Jahre später, am 14.09.1901, als 26. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt
wurde.
Es ist noch nicht lange her, dass Roosevelts militärischer Beitrag zum Gewinn des Krieges von
höchster Stelle gewürdigt wurde. Am 16. Januar dieses Jahres nahm Tweed Roosevelt anstelle
seines Urgroßvaters von Bill Clinton die Medal of Honor und damit die höchste
militärische Auszeichnung der USA, entgegen. Roosevelt ist der erste amerikanische
Staatspräsident, dem diese Ehrung, wenn auch posthum, zuteil wurde. Die Tatsache, dass die
Auszeichnung ausgerechnet in diesem Jahr vergeben wurde, lässt sich wohl nur mit dem
hundertjährigen Präsidentschaftsjubiläum erklären. Und doch wird genau dieser Umstand in
der Laudatio mit keinem Wort erwähnt. Die Medal of Honor richtet sich ausdrücklich
an den Soldaten Roosevelt, nicht an den Präsidenten. Clinton lobte Roosevelt für seine
militärischen Leistungen und insbesondere für die Tapferkeit, die er im Rahmen der Eroberung
von San Juan Hill im spanisch-amerikanischen Krieg an den Tag gelegt habe. Unter völliger
Vernachlässigung seiner eigenen Sicherheit habe Roosevelt seine Männer über freies Feld durch
das offene Feuer der Spanier geführt, einen von ihnen persönlich mit der Pistole erschossen
und schließlich als erster die feindlichen Stellungen erreicht. Allein seiner außerordentlichen
Heldenhaftigkeit und seinem militärischen Pflichtbewusstsein sei der Sieg bei San Juan Hill zu
verdanken.
Dass Bill Clinton bei der Verlesung einer solchen Laudatio nicht die Schamesröte ins Gesicht
stieg, ist erstaunlich. Denn spätestens heute müsste jedem historisch Halbgebildeten klar sein,
dass es im Fall von San Juan Hill um ein Beispiel für mythische Geschichte handelt, also um ein
Ereignis, dessen historische Realität längst durch Heldenerzählungen und stilisierte Bilder
überformt ist. San Juan Hill gehört nämlich in die berühmte Reihe kolportierter Geschehnisse,
die den Wilden Westen überhaupt erst als eine Epoche heroischer Kämpfe erzählbar machten: Alamo,
Wounded Knee und Summit Springs. Doch um das Missverhältnis zwischen dem Mythos und den dahinter
liegenden Ereignissen wusste man bereits 1898. Direkt nach der Explosion der Maine
berichtete das New York Journal eine Woche lang täglich auf acht Seiten über dieses
Ereignis, und der Verleger Hearst schickte den berühmten Zeichner, Maler und Bildhauer Frederic
Remington auf seiner Privatyacht nach Kuba. Remington hatte sich bislang insbesondere als
Illustrator von Wild-West-Motiven einen Namen gemacht und unter anderem mehrere Portraits von
William Cody, der unter dem Künstlernamen »Buffalo Bill« eine überaus populäre Wild-West-Show
leitete, fabriziert. Auf Remingtons Beschwerde, in Kuba gäbe es gar nichts zu sehen, was sich
zu zeichnen lohne, soll Hearst tatsächlich jenen Satz entgegnet haben, den Orson Welles 1941
Charles Foster Kane in den Mund legte: »Sie liefern die Bilder, ich liefere den Krieg.«
Als Remington in Kuba erfuhr, dass die entsandten Kavallerieregimenter angesichts der
Geländebeschaffenheit wohl oder übel zu Fuß in die Schlacht würden ziehen müssen, während die
Pferde in Florida zurückblieben, war seine Empörung darüber so groß, dass er sich umgehend
persönlich an den verantwortlichen Befehlshaber, General Miles, wandte. Dieser versicherte
ihm, die Soldaten würden darauf brennen, überhaupt kämpfen zu dürfen. Doch ging Wild-West-Zeichner
Remington mit einem unguten Gefühl aus dieser Unterredung: »It is a pity that our nation finds
it necesarry to send cavalry to war on foot.« Eine unberittene Kavallerie warf ein
Darstellungsproblem auf: Sollte der Kuba-Krieg als Fortsetzung der Indianerkriege im
nationalen Bewusstsein verankert werden, konnte man auf die Figur des Reiters, die schließlich
im imaginären Zentrum des Gedächtnisses vom Wilden Westen stand, schlecht verzichten.
Theodore Roosevelt machte sich weit skrupelloser an die Lösung dieses Problems. Die Soldaten,
die er auf Kuba befehligte, firmierten als Rough Riders, einen Titel, den Roosevelt
von William Cody entlehnt hatte, der seine Wild-West-Show zur gleichen Zeit als Rough
Riders of the World in New York präsentierte. Dabei übertrug Roosevelt das Konzept einer
Show, die den historischen Wilden Westen in einer Abfolge von Reiterkunststücken präsentierte,
auf die Bedingungen eines realen Krieges. Die besondere Qualifikation Wild-West-erfahrener
Männer sollte nun einem Kavallerieregiment zugute kommen. Roosevelt rekrutierte also tatsächlich
ehemalige Cowboys, Sheriffs und Indianer, die durch die Teilnahme an Indianerkriegen biographisch
zu diesem Einsatz prädestiniert erschienen. Auch Polizisten, die Roosevelt aus seiner Zeit als
Polizeichef von New York kannte, wurden in das Regiment aufgenommen. Hinzu kamen ehemalige
Kumpels aus dem College, Kongressangehörige, Senatoren und schließlich eine ganze Reihe
prominenter Sportler, darunter der amerikanische Tennismeister Bob Wrenn. Auch wenn die meisten
der Letztgenannten den so genannten Wilden Westen eher aus Groschenromanen denn aus eigener
Anschauung kannten, zweifelte Roosevelt nicht an der Tauglichkeit seiner Rekruten.
Offenbar ging er davon aus, dass allein die Mitgliedschaft in einem Jagdclub, vor allem aber
der bloße Wille zum rauhen Überlebenskampf im Freien, prinzipiell jeden Städter von der Ostküste
zu einem guten Rough Rider machen könne. Besonderen Wert legte er dabei auf die Fähigkeiten im
Umgang mit Pferden und das diesbezügliche Training. Gerade Indianer und Frontierkämpfer aus dem
Westen besaßen darin exzellente Qualitäten. Über einen Cowboy aus Oklahoma schreibt Roosevelt:
»Then there was little McGinty, the bronco-buster from Oklahoma, who never had walked a hundred
yards if by any possibility he could ride.« Die historische Tatsache, dass die Rough Riders ihre
Pferde schon vor der Verschiffung nach Kuba in Tampa, Florida, zurück lassen mussten, erwähnt
der spätere Präsident in seiner 1899 erschienenen Schilderung des Krieges mit keinem Wort. Doch
darauf kam es den Besuchern des Eden Musee auch gar nicht an. Die Frage, ob die Bilder,
die sie daheim präsentiert bekamen, der Realität auf den fernen Schlachtfeldern auch nur ähnelten,
stellte sich ihnen schlichtweg nicht. Zwar waren einige der Filme, etwa Wreck of the
Battleship ‚Maine oder Morro Castle, Havanna Harbor tatsächlich in Kuba
gefilmt worden, die meisten Szenen allerdings hatte man irgendwo in New Jersey mit Mitgliedern
der National Guard nachgestellt. Wenn also The Battle of San Juan Hill oder Charge
of the Rough Riders at El Caney über die Leinwand flimmerten, handelte es sich um ebenso
fiktive Filme wie Passion Play, der ja auch nicht in Oberammergau gedreht worden war.
Als die Rough Riders im September 1898 aus Kuba heim kehrten, statteten die meisten dem Eden
Musee einen Besuch ab, so dass das Kino, wie eine Tageszeitung stolz verkündete, zu ihrem
neuem Hauptquartier wurde. Die Kinobesucher bereiteten den Kriegshelden einen enthusiastischen
Empfang und ließen sich mit Souvenirs aus Kuba versorgen. Als mit Joseph Wheeler sogar ein
General in einer Vorführung erschien, blieb er nicht lange unerkannt und wurde vom Publikum und
den anwesenden Soldaten frenetisch gefeiert.
Der Krieg von 1898 hatte seine Schlachtfelder längst auf die New Yorker Medienlandschaft
verlagert. Auf dem Filmmarkt konkurrierten die Edison Company und Vitagraph und produzierten
einen immensen Output an Kriegsfilmen, der das Interesse am noch jungen Medium derart steigerte,
dass überall in den größeren Städten Lichtspielhäuser eröffnet wurden. Auf dem Zeitungsmarkt
erlangten führende Blätter wie William Randolph Hearst´s New York Journal und Joseph
Pulitzer´s New York Journal durch ihre Kriegsberichterstattung ungeahnt hohe Auflagen.
In diesen Wochen entstand das Phänomen »Yellow Press«. Von früher Jugend an war Theodore
Roosevelt Asthmatiker. Zeitlebens litt er unter schwacher Gesundheit, und trotzdem ging er als
Rancher, Großwildjäger und Cowboy ins nationale Gedächtnis der Vereinigten Staaten ein. Offenbar
kannte er sich gut aus mit der Wirkung von Bildern. Die Schilderung des kämpfenden Soldat, die
Clinton in seiner Laudatio zur Verleihung der Medal of Honor vortrug, entspricht dem
Bild, das sich die Öffentlichkeit schon zu Lebzeiten von Roosevelt gemacht hatte.
Seine eigentliche Stärke lag hingegen in einem virtuosen Umgang mit den Medien. Durch Film und
Presse gelang es Roosevelt, die Tradition eines virilen Amerika mitsamt seiner Mythen ins 20.
zu überführen. Er etablierte einen Legitimations-Zusammenhang, der die Geburt der künftigen
Außenpolitik aus dem Geist der Traditionen des Wilden Westens ermöglichte. Insofern war
Roosevelt Traditionalist und Modernisierer in einer Person. Im Rahmen seiner Präsidentschaft
war er in mehr als einer Hinsicht ein Erneuerer: Kein Präsident vor ihm war in einem Flugzeug
geflogen, in einem Auto gefahren oder in einem U-Boot getaucht. Keiner vor ihm hatte ein
Telefon zu Hause. Roosevelt war es aber auch, der die politischen Regeln der Regierungskunst
für das Washington des 20. Jahrhunderts erfand. Als erster Präsident unternahm er eine
Dienstreise ins Ausland, lud einen Afroamerikaner ins Weiße Haus ein und wandte sich an den
internationalen Gerichtshof. Es ist also an der Zeit, die Laudatio auf den ersten, wenn auch
nicht einzigen Cowboy-Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch einmal
zu überarbeiten.
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