MASTER UND MARGARITA
von Jerusalem nach Moskau
MICHAÏL  BULGAKOW

[Michail Bulgakow]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
LÄSTERMAUL  AUF  REISEN
Große Satiren der Weltliteratur

Wie Dikigoros schon an anderer Stelle - ganz unabhängig von jeder Satire - schrieb: Bücher haben ihre eigenen Schicksale, und die unterscheiden sich oft erheblich von dem, das ihnen ihre Autoren eigentlich zugedacht hatten. Er hat sich hier ganz bewußt das Wörtchen "leider" verkniffen; denn er wird nie müde zu betonen, daß manche Werke im Laufe der Zeit eine ungeahnte Aktualität entwickeln, die sie der Nachwelt viel wertvoller macht als sie es zu Lebzeiten ihres Autors sein konnten - wir haben das ja gerade im letzten Kapitel besonders auf besonders drastische Art und Weise gesehen. Leider - und nun muß Dikigoros doch auf dieses Wörtchen zurück greifen - steht dieser ungeahnten Erweiterung auf der anderen Seite oft eine Verengung gegenüber; und diese resultiert aus... na, woraus wohl? Nein, nicht nur, aber auch aus der direkten und indirekten Zensur. Man hat das Buch, um das es hier geht, wie Swifts "Gulliver" zu einem Kinderbuch zusammen gestrichen; aber man hat es auch - den Pornografen zum Gefallen - zu Erwachsenenfilmen verarbeitet, bei denen halt alles, was nicht in gediegener Nacktheit spielt, heraus gestrichen wurde. Aber das soll uns hier weniger interessieren. Fragen wir lieber, warum gewisse Teile von "Meister & Margarita" heute so viel wichtiger - bzw. weniger wichtig - sind als damals. Da ist zunächst einmal die Religionsfreiheit, die Bulgakow so wichtig war - schließlich traf es ihn, wie jeden guten Russen seiner Generation, besonders schlimm, daß die gottlosen Kommunisten die Religion abgeschafft hatten und die Existenz eines Gottes im Allgemeinen und des Gottessohns Jesus Christus im Besonderen (und des Teufels, der Engel, der Hexen etc. sowieso) schlicht leugneten. Aber heute zweifelt niemand (nicht mal Dikigoros als durchaus kritischer Historiker :-) mehr ernsthaft an der Existenz des historischen Jesus - oder wie immer er auf Aramäisch richtig geheißen haben mag -; und niemand (nicht mal Dikigoros als praktizierender Jurist :-) interessiert sich noch für die Details seines Prozesses, die Bulgakow sich so liebevoll ausgedacht hat. (Einschließlich des Nachspiels, d.h. der Fragen, ob etwa die römische Geheimpolizei Judas' Selbstmord bloß vorgetäuscht hat, um zu vertuschen, daß er in Wahrheit ermordet wurde, und ob etwa Matthäus die Auferstehung Jesu frei erfunden habe :-) Damit könnten wir das Buch schon mal um rund die Hälfte kürzen - es hat ja eh Überlänge, denn Bulgakow war wie gesagt ein guter Russe, und alle bedeutenden Werke der russischen Literatur haben Überlänge. Ein guter Russe zu sein, bedeutete aber nicht unbedingt, einen engen Horizont zu haben. (Das galt nur für gute Sowjet-Menschen :-) Bulgakow war in einem Maße belesen wie von den hier Vorgestellten sonst nur Swift; und während es Dikigoros bei letzterem nach wie vor ein Rätsel ist, woher er sein Wissen hatte, muß bei Bulgakow die Lösung wohl lauten: Vor dem ersten Weltkrieg bekam man an einem ordentlichen Gymnasium in einer ordentlichen russischen Großstadt wie Kiew eine gediegene Bildung vermittelt, die auch Sprache und Literatur der Nachbarländer einschloß, also vor allem der deutschen. (Danach kann Bulgakow seine Kenntnisse auf diesen Gebieten nicht mehr groß vertieft haben, denn erstens wurde ab August 1914 alles Deutsche im Tsarenreich ausgerottet, und zweitens studierte er weder Literaturwissenschaft noch Filologie, sondern Medizin - er wurde Arzt.) Es ist offensichtlich, daß Bulgakow Kant, Goethe (nicht nur den "Faust", aus dem er eingang den Spruch zitiert von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft) und Schiller gelesen hatte. (Welcher Abgänger der heutigen Schulen der BRDDR könnte das von sich sagen?!?) Dikigoros würde sogar noch weiter gehen und behaupten, daß Bulgakow auch "Dracula" von Bram Stoker, "Des Kaisers neue Kleider" von Hans Christian Andersen, "Die Lebensansichten des Katers Murr" von E.T.A. Hoffmann und/oder das Märchen vom "Gestiefelten Kater" der Gebrüder Grimm gekannt haben muß - denn wo sonst gibt es einen Roman, in dem ein nicht nur sprechender (und Wodka trinkender und Schach spielender - so viel Reverenz an den sowjetischen Zeitgeist mußte sein :-), sondern auch böser Kater vorkommt, wie Begemot? (Vor dem Zorro-Verschnitt aus Shrek, versteht sich, aber den konnte Bulgakow schwerlich voraus sehen :-)

À propos voraus sehen: Der erste Verdacht, daß mit "Professor Voland" irgendetwas nicht stimmen könnte, kommt Johann Ohnehaus, einem zweitklassigen Dichter, mit dem der Roman beginnt, als dieser bei einem zufälligen Treffen in einem Moskauer Park dem Genossen Michaïl Berlioz - Chef der Moskauer Literaturkammer ("Massolit") - ins Gesicht sagt, daß er noch vor dem in ein paar Stunden anstehenden Literatenabend sterben werde, und sogar die Todesursache vorher sagt: "Sie werden von einer Komsomoltsin geköpft werden; Anuschka hat das Sonnenblumenöl schon gekauft und verschüttet." Die beiden Russen halten den ausländischen Professor erst für total plemplem und gehen ihres Wegs; aber dann rutscht Berlioz auf einer Pfütze aus verschüttetem Sonnenblumenöl aus und fällt vor eine Straßenbahn - die von einer Komsomoltsin gefahren wird -, deren Räder ihm glatt den Kopf vom Rumpf abtrennen. Ohnehaus versucht, Voland zu verfolgen und auch andere Genossen zu seiner Ergreifung zu animieren; aber er erreicht lediglich, daß er selber in die Irrenanstalt eingeliefert wird, denn niemand glaubt ihm. Daß Leute getötet werden oder spurlos verschwinden, ist doch im Staate Stalins ganz normal; und es bedarf keiner großen profetischen Gaben, um das voraus zu sehen.

Soll das so verstanden werden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Dikigoros findet, daß erstmal ein ganz anderer Herrscher angesprochen und persifliert werden soll - was meist infolge schlampiger Übersetzung übersehen wird: Der zweitklassige Dichter heißt nicht "Obdachlos" o.ä., sondern "Iwan Besdomny", Johann Ohnehaus, und das ist eine Anspielung auf den glücklosen und von der Feindpropaganda schamlos verteufelten König "Johann Ohneland" von England, den jüngeren Bruder von Richard Löwenherz. Offenbar kannte sich Bulgakow mit dem Hochmittelalter gut aus, denn ganz nebenbei läßt er den Teufel noch eine weitere Bemerkung machen, die auf seinen erstaunlichen Bildungshorizont hindeutet - und dieser Punkt läßt sich weder mit der Schule noch mit der Universität erklären. Mal ehrlich, liebe Leser, die Ihr nicht gerade Theologen oder Historiker mit Schwerpunkt Kirchengeschichte oder auf die Ottonen spezialisierte Mediävisten seid: Wüßtet Ihr - ohne zu googlen -, wer Gerbert d'Aurillac war? Wohl kaum, denn schon als Dikigoros zur Schule ging, erfuhr man dort allenfalls etwas von Papst Gregor und König Heinrich, dem Investiturstreit und dem Gang nach Canossa. Daß es nur zwei Generationen zuvor - also vor dem Schisma zwischen römischer und orthodoxer Kirche, so daß es auch für einen Russen interessant sein kann - noch ganz anders war, weiß dagegen kaum jemand. Da hatte nämlich Otto III seinen ehemaligen Lehrer, eben jenen Mönch Gerbert d'Aurillac, erst zu seinem, äh... in den USA würde man heute "Sicherheitsberater" sagen, dann zum [Erz-]Bischof von Ravenna (das damals noch zum Reich gehörte), dann zum Bischof von Rom, also zum Papst gemacht, und die beiden arbeiteten in voller Harmonie zusammen. Die Italiener mochten "Silvester II" allerdings nicht (schließlich war er Franzose - übrigens der erste auf dem Papstthron - und kein Italiener :-) und verjagten ihn. Um den Pöbel gegen ihn aufzuhetzen, wurden die abenteuerlichsten Märchen in Umlauf gebracht, wie z.B., daß er Schwarze Magie betrieb. Schließlich beschäftigte er sich mit Mathematik - er soll den Abakus eingeführt haben -, Astronomie - er soll den Himmelsglobus eingeführt haben - und Zeitmessung - er soll die Schlag- und Räderuhr eingeführt haben, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls wurde auch er von der Feindpropaganda schamlos verteufelt - und damit kommen wir wieder zu "Master & Margarita".

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Erinnert Ihr Euch an jenes Kapitel in Candide, als Voltaire alle möglichen und unmöglichen Personen der jüngeren Geschichte auftreten läßt? Einige davon sind uns Heutigen kaum noch bekannt - aber das ist gar nichts, verglichen mit dem, was uns Bulgakow an Gästen beim Frühlingsball zumutet: Für Voltaire - bzw. die meisten seiner älteren Leser - waren die traurigen Ex-Herrscher ja noch Zeitgenossen; aber Bulgakow fährt schwerstes, z.T. mittelalterliches, ja sogar antikes Geschütz auf, und selbst Dikigoros hat nicht alle heraus bekommen. Fangen wir trotzdem mal an, denn sie sind der eigentliche Schlüssel zum Verständnis des Romans.
1. Jacques Cœur
2. Robert Dudley
3. Giulia Tofana
4. Frieda, die Kindesmörderin
5. Rudolf II von Habsburg
6. Marquise Marie-Madeleine de Brinvilliers
7. Minkina
8./9. Caligula & Messalina.
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Und da wir schon mal dabei sind, klären wir auch gleich auf, wen der Kater verkörpert:
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Und nun wird plötzlich auch klar, warum sich Voland so darauf kapriziert hat, daß "Königin" seines Frühlingsfestes nur eine Frau mit Namen "Margarita" sein dürfe: Sie ist die "Reine Margot" - und deren richtiger Name war Marguerite [de Valois].
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Viel wichtiger ist aber die Frage, warum der Jahrzehnte lange Stein des Anstoßes - die Seitenhiebe auf die stalinistische Bürokratie - schon längst keinen Zensor mehr vom Hocker reißt. Bereits 1966 durfte "Master & Margarita" - nur leicht gekürzt - in der Sowjet-Union erscheinen, 1968 die erste deutsche Übersetzung in der DDR (!). 1972 kam die erste Verfilmung in die Kinos der SU, 1994 die zweite, und die 2005 gedrehte, fast zehnstündige (!) Fernsehserie, die Bulgakows Werk vollständig und fast wörtlich wiedergibt, wurde der Straßenfeger in Rußland und der Ukraïne - mit den höchsten Einschaltquoten irgendeiner Sendung im neuen Jahrtausend. Der Teufel spricht übrigens mit deutschem Akzent - d.h. er spricht alle Konsonanten, die im Russischen eigentlich verwaschen werden, vollständig mit. [Nein, es liegt nicht daran, daß Oleg Basilaschwili - übrigens die am besten besetzte Rolle - sakartwelisch-polnischer Abstammung ist; der Wahl-Leningrader ist ein 150%er Russe und Anti-Kommunist, der in seinem Sowjet-Haß auch schon mal übers Ziel hinaus schießt; seine Behauptung, er habe den Teufel wie Stalin spielen wollen, entbehrt jeglicher Grundlage im Roman.] Aber vielleicht soll das auch nur etwas altertümliches Russisch sein, denn sein schlecht-bebrillter Assistent Korowjew spricht mal mit deutschem, mal mit französischem Akzent, und "Voland" war ja früher sowohl im Französischen als auch im Deutschen ein Name für den Teufel. Dikigoros hat sich die zehn Folgen vollständig angetan - sie kursieren im Internet, für alle, die kein Russisch können, sogar mit englischen Untertiteln -; er muß zugeben, daß er fasenweise stark gelangweilt war. (Aber das geht ihm z.B. mit Tolstoj-Verfilmungen genauso :-) Und in der ukraïnischen Hauptstadt Kiew wurde noch zu Sowjet-Zeiten ein immer gut besuchtes Bulgakow-Museum eingerichtet - im Andreasgäßchen, unweit des Hotels, in dem Dikigoros zu Beginn seiner ersten Reise dorthin übernachtete. Und auf den Bühnen beider Staaten wurden Theaterfassungen ausgiebig gespielt - meist vorausverkauften Häusern.

Exkurs/Nachtrag: 2014, nachdem im Donbas[s] (die Ukraïner schreiben es mit einfachem, die Russen mit doppeltem "s", und Dikigoros will da ganz neutral sein :-) ein Bürgerkrieg zwischen Russen und Ukraïnern ausgebrochen war, wurde das Werk in beiden Staaten... nein, nicht offiziell verboten, aber für unerwünscht erklärt, und vor allem: Es wurde aus dem Schulunterricht verbannt - in Rußland mit der Begründung, er mache sich aus ukraïnischer Sicht über Rußland lustig, in der Ukraïne mit der Begründung, er mache sich aus russischer Sicht über die Ukraïne lustig. (Das ist, als würde die Ausstrahlung von Go, Trabi, go in Sachsen und Bayern verboten, weil sich Peter Timm da über beide Stämme - nicht nur ihre Mundarten - lustig gemacht habe. Tatsächlich wollte Bulgakow wohl weder die Ukraïner noch die Russen auf die Schippe nehmen, sondern vielmehr die Sowjet-Menschen oder die Menschen im allgemeinen :-) Erinnert Euch das an etwas, liebe britische Leser? Nein? Das sollte es aber, denn schon 11 Jahre zuvor, anno 2003, wurde Orwells "Animal Farm" von den Lehrplänen Eurer staatlichen Unterrichtsanstalten verbannt - unter dem Vorwand, jene "Schweinerei" könnte die religiösen Gefühle der muslimischen Noch-Minderheit im Lande verletzen. (Unter diesem Vorwand könnte übrigens auch "Master & Margarita" verboten werden, denn es gibt da ja eine Passage, wo die zweite Hexe auf ihrem in ein Schwein verwandelten Nachbarn durch die Lüfte reitet :-) In einem Staat, wo es relativ viele private Schulen und Universitäten gibt, mag das zu verknusen sein; aber wo ein staatliches Bildungs-Monopol besteht, wie in den Nachfolgestaaten der SU - und de facto auch der BRDDR - bedeutet es praktisch das Todesurteil für jedes Buch, wenn es von den Lehrplänen gestrichen wird. Rationell begründen läßt sich das nicht. Zugegeben, Berlioz' Onkel, der von Kiew nach Moskau reist und gleich wieder zum Teufel, pardon, vom Teufel bzw. seinem Gehilfen gleich wieder zurück geschickt wird, wirkt ziemlich lächerlich; und auch die - eingebildete oder tatsächliche - Reise der Variété-Fritzen nach Jalta mag unerfreuliche Reminiszenzen geweckt haben an den 2013 aufgeflammten Streit um die Krym nebst deren Sezession, die die Angelsachsen und Franzosen um ein Haar zum Anlaß genommen hätten, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. Aber was kann Bulgakows "Master & Margarita" dafür? Exkurs/Nachtrag Ende.

Zurück zu der Frage, warum der Roman vorher nicht verboten wurde. Fragen wir zurück: Was nahm er denn auf die Schippe?
Geldgier
Feigheit
Bürokratie
Korruption
(...)

(Fortsetzungen folgen)


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