AUS EINEM DEUTSCHEN LEBEN

Zum Tod des Filmregisseurs Theodor Kotulla

von Peter W. Jansen (NZZ Online, 22.10.2001)

Der alte weisshaarige Mann in der vorletzten Reihe ist der Einzige aus der Gruppe, der das Gesicht zur Seite wendet, dorthin, wo die SS-Offiziere stehen. Einer von ihnen, der Reichsführer SS, der das Vernichtungslager Auschwitz besichtigt, scheint den Blick des Mannes, der in wenigen Minuten im Gas sterben wird, zu spüren. Seine Lider flattern, in den Augen- und Mundwinkeln zuckt es leicht, aber den Kopf wendet er nicht, er erwidert nicht den Blick. So wenig wie kurz darauf, als sich hinter der Gruppe mit dem alten weisshaarigen Mann die schwere Eisentür geschlossen hat, den Blick des Lagerkommandanten, der, so scheint es, eine Reaktion des hohen Besuchers erwartet hätte.

Beredte Blickwechsel zu inszenieren, wie diesen doppelt verweigerten in Auschwitz, in dem Höss-Film «Aus einem deutschen Leben»: Das war eine Leidenschaft Theodor Kotullas, der am vergangenen Samstag 73-jährig in München verstorben ist. Man findet viele solche Augen-Blicke in den Filmen des Regisseurs, der das Filmemachen selbst mit den Augen gelernt hatte, beim Sehen von Filmen, die in seinen Augen wieder entstanden sein müssen, wenn er über sie schrieb. Mehr als zweihundertmal hat er das in den rund zwölf Jahren getan, in denen seine kritischen Betrachtungen und Reflexionen in der Zeitschrift «Filmkritik» erschienen, zu deren ersten und wichtigsten Protagonisten er gehörte, bis der Methodenstreit vom Ende der 1960er Jahre auch hier zeigte, dass die Gemeinsamkeiten der frühen Jahre verbraucht waren. Doch da hatte Kotulla schon selbst damit angefangen, Filme für die Augen anderer zu machen.

Geboren 1928 im ehemaligen Königshütte in Oberschlesien als Sohn eines Organisten, schien ihm beides in die Wiege gelegt gewesen zu sein, die Kunst und das Bergwerk. Jedenfalls arbeitete er, in den Westen gelangt, noch vor dem Abitur und dem Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik unter Tage. Das nicht zuletzt mag seine nie ermüdende Aufmerksamkeit fürs Konkrete und für die Härte körperlicher Arbeit befördert haben. In Münster in Westfalen gehörte er als Schüler des Publizistik-Professors Walter Hagemann zu jener ersten Generation von Kritikern, die in Deutschland nach dem Krieg - und das hiess: nach einer Unterbrechung von mehr als 20 Jahren - fortzusetzen unternahm, was Siegfried Kracauer nach dem Zeitenbruch von 1933 nur noch ausserhalb Deutschlands hatte fortführen können: die ideologiekritische Hinterfragung der Filmsprache und ihrer Ausformungen im Kino der Massen. Kein Wunder, dass Kotulla vor allem - auch im «filmforum» und in den «Frankfurter Heften» - über Visconti und Rossellini, Staudte und Pasolini, Buñuel und Robert Bresson schrieb.

Letzterem galt auch einer seiner ersten Filme, «Zum Beispiel Bresson», ehe er selbst in Filmen zu erzählen begann. Es waren von Anfang an Geschichten, die mit Geschichte zu tun hatten: «Vor dem Feind» hiess ein Kurzfilm, der unter Verweigerung von Kriegsbildern eine Kriegsgeschichte erzählte, während «Bis zum Happy-End» und «Ohne Nachsicht», die ersten langen Spielfilme, der Konsumrepublik Deutschland und einer versagenden Generation das Horoskop stellten. Und dann kam, 1977 schon, lange vor der Holocaust-Serie des Fernsehens und anderthalb Jahrzehnte vor Spielbergs «Schindler's List», der Film über die deutsche Karriere des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss, der in Kotullas Film Franz Lang heisst. Der ist ein gnadenloser Befehlsempfänger und schwer und hart arbeitender Malocher in der Todesfabrik, in der Darstellung von Götz George in dessen immer noch bester Rolle der sehr viel deutschere Typ als der dekadente Nazi-Killer Amon Goeth bei Spielberg.

Schon im Höss-Film mit dem sorgfältig gewählten Titel «Aus einem deutschen Leben» deutet sich in der Konfrontation des emotional unterentwickelten Mannes mit seiner Frau an, wohin Kotullas Weg führen wird: zur Ausdifferenzierung des Gefühls als überlegene intelligente Kraft der Frauen, wie sehr sie auch noch immer Opfer der gesellschaftlich und politisch privilegierten Macht der Männer sind. Das ist nach dem Fernseh-Fünfteiler «Der Fall Maurizius» und nach «Kellermanns Prozess» Kotullas Haupt- und Staatsaktion in Kinofilmen und Fernsehproduktionen, deren Titel schon Programm sind: «Nacht der Frauen», «Von Gewalt keine Rede» oder «Der Angriff», ein Film, in dem eine Frau sich dafür rechtfertigen muss, dass sie Opfer eines Vergewaltigungsversuchs geworden ist.

Es ist unvollendet geblieben, dieses in den letzten Jahren von schwerer Krankheit behinderte deutsche Leben - unvollendet wie Kotullas theoretisches Hauptwerk «Der Film - Manifeste, Gespräche, Dokumente», von dem 1964 nur einer von den geplanten zwei Bänden erschienen ist. Es war, so ironisch kann Tragödie sein, der Band Nummer zwei. Den ersten Band hat Theodor Kotulla mit seinen Filmen geschrieben.


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