Exkurs IV: Ein 68er von 1927
Rafael Alberti (1902-1999)
"Wenn es Nacht wird im Prado..."

[Rafael Alberti]
[Albertis Unterschrift]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

Noch ein Exkurs, und dazu noch über einen in Deutschland völlig unbekannten Spanier? (Wir wollen ihn so bezeichnen, obwohl er eigentlich ein in Andalusien geborener Italiener war.) Was mutet Dikigoros seinen Lesern da wieder zu? Und was sollen diese unsinnigen Überschriften (und die manirierte Unterschrift)? Nun, den Ausdruck "1927er" hat Dikigoros ebenso wenig erfunden wie den Ausdruck "68er" - es sind vielmehr die Spanier, die eine Vorliebe für die Kennzeichnung ganzer Generationen durch verallgemeinernde Jahreszahlen haben. Schon die "1898er" bezeichneten eine derart "verlorene" Generation - nämlich die nach dem verlorenen Krieg gegen die USA, der Spanien die Reste seines Kolonialreiches gekostet hatte, vor allem Kuba und die Filipinen (aber das ist eine andere Geschichte). Was die "68er" sind - nein, nicht waren, denn sie sind heute nach ihrem erfolgreichen "Marsch durch die Institutionen" an der Macht, zu unser aller Unheil - wißt Ihr selber, liebe Leser, wenn nicht, dann schaut Euch die bundesdeutsche Kabinettsliste an. Nein, mit "Kabinett" ist kein Qualitätswein mit Prädikat gemeint, sondern ein Flaschen-Kabinett zum Weinen - aber auch das ist eine andere Geschichte. Was verstanden nun die Spanier unter der "generación del 1927"? Nun, Ihr habt sicher schon mal von dem Maler Salvador Dali gehört, wahrscheinlich auch von dem Regisseur Luis Buñuel und vielleicht auch von dem Dichter Federico García Lorca (als Lyriker weit überschätzt, aber mit dem Heiligenschein eines Martyrers der Anti-Falangisten versehen und daher relativ bekannt); diese drei Studienfreunde bildeten den "harten Kern", um den sich weitere Maler, wie Pablo Picasso, Juan Gris und Juan Miró, und weitere Dichter, wie Jorge Guillén, Vicente Aleixandre (was - nie gehört? Er hat immerhin mal den Literatur-Nobelpreis bekommen!) und Luis Cernuda scharten - und einer, der zugleich Maler und Dichter war, nämlich Rafael Alberti (der es - wie Guillén - "nur" zum Cervantes-Preis bringen sollte). Es war, kurz gesagt, eine Gruppe "fortschrittlicher", revolutionärer, linker Intellektueller, welche die spanische Monarchie ebenso ablehnten wie die bürgerliche, pardon bourgeoise spanische Republik (deshalb vergleicht sie Dikigoros mit den "68ern") und die sich später moralisch entrüsteten, daß es auch konservative, "reaktionäre", rechte Nicht-Intellektuelle gab, die ihnen bei deren Beseitigung zuvor kamen.

Aber was hat das nun mit dem Jahr 1927 zu tun? Nun, damals jährte sich zum 300. Mal der Todestag von Luis de Góngora y Argote, einem halb vergessenen Zeitgenossen und Dichterkollegen von Miguel de Cervantes (dem Verfasser des "Don Quixote"). Diesen dem Vergessen zu entreißen, beschlossen die vorgenannten jungen Leute, eine Neuausgabe seiner Werke heraus zu bringen - ein löbliches Unterfangen, auch wenn man über die Qualität seiner Werke trefflich streiten kann. Seine Gegner sagen ihm nach, in einem furchtbar manieristischen Stil geschrieben zu haben - aber wenn Ihr mal Cervantes im Original gelesen habt, dann wißt Ihr, daß das nicht unbedingt sein persönlicher Stil war, sondern ein Zug der Zeit. Außerdem gefiel den "27ern" der Manierismus - nicht nur den Dichtern, sondern auch den Malern. Und Albert betrachtete sich in erster Linie als Maler; deshalb verbrachte er, als seine Familie 1917 nach Madrid zog, viel Zeit im Prado-Museum, um die dort ausgestellten Gemälde und Zeichnungen zu betrachten und nachzuahmen - wobei es ihm Goya besonders angetan haben soll.

* * * * *

Die zweite Überschrift erinnert nur vordergründig an den Schlager "Wenn es Nacht wird in Harlem" - obwohl damit natürlich "Spanish Harlem", jener berüchtigte Stadtteil New Yorks gemeint ist, in den sich längst kein Spanier mehr hinein trauen dürfte. Aber Dikigoros will auf etwas anderes anspielen, auf ein Theaterstück, auf das Theaterstück Albertis, welches ihm alleine einen Exkurs wert ist (mehr nicht, denn Alberti war eigentlich kein Mann des Theaters - auch wenn er 1981 den spanischen Theaterpreis bekommen sollte -, sondern eher Lyriker, Maler und Politiker, zuletzt als Abgeordneter der Kommunistischen Partei Spaniens in den Cortes): "Noche de guerra en el Museo del Prado [Kriegsnacht im Prado-Museum]". Als er dieses Stück - es spielt im Spanischen Bürgerkrieg - mit 20 Jahren Verspätung schrieb, lebte er im argentinischen Exil und hätte dort jederzeit als Doppelgänger des spanischen Thronfolgers Juan Carlos durchgehen können - aber der war damals noch gar nicht geboren, und das war gut so, denn damals starb es sich leicht und schnell.

[Alberti 1957]

Dabei hätte der Spuk des Bürgerkrieges relativ kurz und schmerzlos vorbei sein können. Ende August 1936 rollten Francos Truppen scheinbar unaufhaltsam gen Osten auf die praktisch unverteidigte Hauptstadt Madrid zu; alles sah nach einem Blitzsieg aus. Da beging Franco den gleichen Fehler wie fünf Jahre später sein Verbündeter Hitler im Krieg gegen die Sowjet-Union: Statt die praktisch unverteidigte Hauptstadt Moskaus einzunehmen, ließ er seine Truppen nach Süden schwenken, um die frühere Hauptstadt Kiew einzunehmen. Franco ließ seine Truppen nach Süden schwenken, um die frühere Hauptstadt Toledo einzunehmen, weil dort im Alcázar ein alter Kumpel von ihm belagert wurde, den es heraus zu hauen galt. Das gelang auch, und man hat das später als große Heldentat gefeiert, ebenso die anschließende Befreiung der asturischen Hauptstadt Oviedo - wo ebenfalls ein alter Kumpel Francos belagert wurde -, aber nüchtern betrachtet waren das Sentimentalitäten, die den furchtbaren Krieg um zweieinhalb Jahre verlängern und eine weitere Million Spanier das Leben kosten sollten. Als Hitler dann im November den Angriff auf Moskau befahl, pardon, als Franco dann im November 1936 den Angriff auf Madrid befahl, war es zu spät: General Winter griff ein, und frische Truppen aus Fernost, pardon, aus aller Welt (die "Internationalen Brigaden") warfen die Angreifer zurück. [Bei diesen Kämpfen kam der deutsche Kommunist Hans Beimler um, dem Alberti mehrere Gedichte widmete, die - neben den Ergüssen der berühmt-berüchtigten Anna Seghers - maßgeblich dazu beitrugen, ihn zur Martyrer-Ikone der Roten zu machen. Nach offizieller kommunistischer Version wurde er in heldenhaftem Kampfe von der Kugel eines franquistischen "Mauren" getötet. Tatsächlich wurde er wohl nach internen Streitigkeiten, wie sie unter den "Rojos" an der Tagesordnung waren, von einem seiner eigenen Polit-Kommissare liquidiert.] Aus dem spanischen Bürgerkrieg wurde ein Weltkrieg en miniature, auf dem sich ausländische Mächte tummelten, die ihre Soldaten trainieren, ihre Waffen erproben, ihre künftige Pfründe abstecken und vor allem gute Geschäfte machen wollten. (Die ach-so-brüderlichen Sowjets ließen sich von den "roten" Republikanern jedes Gewehr und jede Patrone in bar bezahlen, wie gute Kapitalisten; die Deutschen ließen sich von den Nationalisten Erze liefern; die Engländer wollten ihre Milliarden-Investitionen vor Enteignung schützen, und Frankreich und Portugal verdienten prächtig am Nachschubhandel über Land, denn die Seehäfen hatte der Völkerbund in einem Anfall von Heuchelei blockiert - geschenkt war nichts, nicht mal der Tod, denn der kostete Munition, und die war den ganzen Krieg über knapp.) Im Februar 1937 hätte Franco noch einmal die Chance gehabt, den Krieg vorzeitig zu beenden: Freiwillige aus Italien, Portugal und Irland (jawohl, brave Katholiken!) hatten seine Reihen wieder aufgefüllt; aber statt damit Madrid anzugreifen, ließ er sie Málaga erobern, pardon befreien, eine isolierte Hafenstadt der "Roten" ganz im Süden, die früher oder später von selber kapituliert hätte; aber dem demonstrativ frömmelnden Franco ging es um eine wertvolle Reliquie, die ihm mehr wert war als Madrid: um die Hand der heiligen Teresa, die sich just dort befand. Er sollte sie bis an sein Lebensende als Talisman bei sich tragen - so wie andere Abergläubische es mit Hasenpfoten tun -; bloß bei einem half sie ihm nicht: Als er im März 1937 endlich zum zweiten Angriff auf Madrid ansetzte, holten sich die "Nationalen" gegen die inzwischen durch weitere "Internationale Brigaden" verstärkten Verteidiger erneut blutige Nasen.

[Goya, Erschießung spanischer Aufständische durch französische Besatzer]

Madrid wurde also von den Republikanern gehalten - und von der deutschen "Legion Condor" bombardiert. Im Prado nehmen die Museumswärter die alten Schinken von den Wänden, damit sie nicht den Bombenangriffen zum Opfer fallen. Als sie in den Raum mit Goya-Gemälden kommen - Dikigoros fleißige Leser wissen von einer anderen "Reise durch die Vergangenheit", daß sich dessen berühmteste Darstellungen mit dem Krieg der Spanier gegen Napoleons Franzosen befassen -, steigen die Gemalten plötzlich aus den Bilderrahmen und erzählen den Bediensteten vom Krieg gegen die ausländischen Invasoren. Ist es nicht diesmal wieder genau das gleiche? Ist es 1936 nicht wieder die patriotische Pflicht eines jeden anständigen "Español de raza", sich am Kampf der Regierung gegen die Aufständischen und anderen Ausländischen zu beteiligen? Seid Ihr verwirrt, liebe Leser? Habt Ihr die Fronten auch anders im Hinterkopf? Waren nicht Francos "Nationalisten" die guten spanischen Patrioten, und die "Republikaner" die vom Ausland - von Rußland, Frankreich, Mexiko und den "Internationalen Brigaden" aus aller Welt unterstützten Vaterlandsverräter? Tja, so sah man das nach dem Krieg - aber 1936 sah man das ganz anders, beinahe genau umgekehrt: Auf republikanischer Seite kämpften anfangs praktisch nur Spanier; bei den aufständischen Militärs dagegen setzte man von Anfang an auf die Fremdenlegion und die marokkanischen Kolonialtruppen (diese waren es auch, welche auf Francos Seite die meisten "Kriegsgreuel" begingen - aber das ist eine andere Geschichte). Darum konnte damals tatsächlich jeder gute Spanier glauben, sich auf die Seite der "Republikaner" stellen zu müssen - auch wenn Dikigoros überzeugt ist, daß es bei deren Sieg zu einem weiteren, noch schlimmeren Bürgerkrieg zwischen den "echten" Republikanern, den Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten gekommen wäre (wie er in Katalonien bereits während des Bürgerkrieges von den Kommunisten und Linkssozialisten gegen die trotzkistische POUM geführt wurde - aber auch das ist eine andere Geschichte). Schaut Euch das Feindbild, welches das republikanische Propaganda-Ministerium von den "Nacionales" zeichnete, einmal genau an: Da ist der Militarist mit der Kanone, der Kapitalist mit dem Geldbeutel (und dem Hakenkreuz am Jackenaufschlag - die Republikaner sahen die Nazis also in erster Linie als Geldgeber!), der Pfaffe und die beiden nordafrikanischen Söldner in Mameluckentracht - sie ziehen Spanien am Galgen hoch, eine Persiflage auf den Schlachtruf (und Gruß) der Nationalen: "Arriba España [hoch Spanien]".

[anti-nationales Propagandaplakat]

Und das Feindbild der Gegenseite? Bleiben wir doch der Einfachheit halber im Prado. Dort gab es ja nicht nur ein Goya-Zimmer, sondern auch eines mit den Werken eines Malers, der seiner Zeit um mindestens 400 Jahre voraus war, und den die Nazis von Rechts wegen mit zu den "entarteten" hätten zählen müssen: Hieronymus, dessen Eltern aus Aachen nach Herzogenbusch (oder 's Hertogenbosch) eingewandert waren, und der sich deshalb "van Aaken" nannte, während ihn die Nachwelt in Holland "Bosch" und in Spanien "El Bosco" nannte. Man rätselt, d.h. die studierten "Kunst-Historiker" rätseln bis heute herum, ob er mit seinem Triptychon "Garten der Lüste" das Paradies oder die Hölle darstellen wollte.

Beides falsch, liebe Leser, und Dikigoros kann Euch verraten, was er meinte: Er meinte ganz konkret das, was dazwischen lag, nämlich die Erde, den großen Sündenpfuhl, den man damals auch mit "Sodom und Gomorrha" umschrieb. Und genau so sah es nach Auffassung der "Nationalen" bei den "Rojos [Roten]", den Linken, den Republikanern, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten aus - oder dazu wollten sie Spanien machen, wenn sie obsiegten: zu einem Ort der gottlosen Ausschweifungen und fleischlichen Sünden, und die Kirche bestärkte sie und ihre Anhänger darin. Unterschätzt den Einfluß der katholischen Kirche auf das damalige, fromme Spanien nicht, liebe Leser; was sie ihren braven Schäfchen erzählten, fand Gehör und trug zum Ausgang des Bürgerkriegs nicht weniger bei als die Waffenhilfe des Auslands. Die Kirchenführer wußten offenbar nicht, daß sie sich mit der Unterstützung der Franquisten ihr eigenes Grab schaufelten; denn ihre Organisation gedeiht stets nur in der Verfolgung oder in der Diaspora - sobald sie legal, quasi Staatskirche wird, schwindet das Interesse, denn ohne Martyrer ist sie als typische "Martyrer-Religion" für den Normalverbraucher nicht mehr interessant, und bei wachsendem materiellen Wohlstand braucht man weder ihren Trost im Diesseits noch ihre Vertröstung auf ein besseres Leben im Jenseits. Die christliche Kirche ist immer nur dort stark gewesen, wo ihre Anhänger in Armut und Unterdrückung lebten - so gesehen hätte ihr damals gar nichts besseres geschehen können als ein Sieg der Kommunisten.

Exkurs. War der Spanische Bürgerkrieg also absurdes Theater, in dem lauter Narren mit spielten? Im Rückblick kann und muß man diese Frage wohl bejahen; und der größte Narr von allen war Hitler, der damals seinen ersten großen - vielleicht sogar schon den größten und folgenschwersten - außenpolitischen Fehler beging. Er wußte nichts von Franco (nicht einmal von dessen sefardischer Abstammung), nichts von dessen Verbündeten, nichts von dessen Zielen. Hätte Hitler die Spanier damals in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, dann wäre der Bürgerkrieg wahrscheinlich mit einem Sieg der Rojos zuende gegangen, und Spanien hätte noch Jahre lang am Boden gelegen - wirtschaftlich und vor allem militärisch. 1940, nach dem Frankreich-Feldzug, hätten ein paar deutsche Regimenter durchrollen können bis zum damals noch so gut wie unverteidigten Gibraltar und es den Briten mit Leichtigkeit aus der Hand geschlagen. Die Briten hätte das ihre Herrschaft über das Mittelmeer gekostet, sie hätten weder Malta noch Ägypten halten können, ganz zu schweigen davon, daß sie Griechenland und Kreta nicht hätten besetzen können, so daß es wahrscheinlich nicht einmal zum Balkanfeldzug gekommen wäre. Großbritannien hätte schlicht Frieden schließen müssen, es hätte keinen Rußland-Feldzug und keine Ausweitung des mitteleuropäischen Konflikts zu einem Weltkrieg gegeben. Statt dessen ließ sich Hitler von seinem "braven Verbündeten" Franco den Zugriff auf Gibraltar verwehren (so wie er sich von seinem "braven Verbündeten" Mannerheim den Zugriff auf die Murmanbahn verwehren ließ - aber das ist eine andere Geschichte), und der Krieg ging verloren, und mit ihm die Freiheit nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas, vom Atlantik bis zum Ural - und natürlich auch die Freiheit der kleineren Völker auf der Iberischen Halbinsel, die Franco gnadenlos platt machte, und die Hitler folglich ebenso auf dem Gewissen hatte wie die der kleineren Völker der so genannten "Sowjet-Union". Exkurs Ende.

Doch darum geht es hier ja nicht, sondern um die Frage, ob sich der spanische Bürgerkrieg von 1936 mit dem Krieg gegen Napoleons Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vergleichen läßt, wie es uns Albertis Theaterstück weis machen will (wie es die Legende wissen will, ging die Idee zu dieser Parallele auf die berühmt-berüchtigte Dolores Ibárruri alias "Pasionaria" zurück). Richtig ist, daß Frankreich seit Jahrhunderten ein Erbfeind der Völker der Iberischen Halbinsel war. Wer hatte den Basken und Katalanen das östliche Drittel ihrer Länder geraubt? Wer hatte im 17. Jahrhundert - in dem Spanien Portugal und die Niederlande verlor - den 30-jährigen Krieg noch elf Jahre gegen Spanien weiter geführt? Wer hatte im 18. Jahrhundertg den "Spanischen Erbfolgekrieg" angezettelt, um auf den spanischen Thron einen Bourbonen zu setzen? (In jenem Krieg verlor Spanien alle seine außer-iberischen Besitzungen in Europa; nur Katalonien und das Baskenland konnte es - gewaltsam - halten, ebenso seine überseeischen Kolonien; allerdings rissen sich die Engländer Gibraltar unter den Nagel, den beherrschenden Felsen an der Einfahrt zum Mittelmeer). Und wie war das im 19. Jahrhundert? Bis zur Französischen Revolution hatte gutes Einvernehmen zwischen den Monarchen geherrscht; dann ergriff in Frankreich Napoleon die Macht. Der galt und gilt ja nun - obwohl er sich bald darauf zum Kaiser ernannte - als besonders "fortschrittlich", ganz im Gegensatz etwa zu Hitler oder Mussolini (obwohl die es beide in weit höherem Maße waren - aber das vergeßt ganz schnell wieder, liebe Leser, denn es beweist nur, daß Fortschritt bloß um des Fortschritts Willen kein Wert an sich ist, und das hören einige unserer heutigen Politiker gar nicht gerne :-). England - oder, wie es seit 1801, seit der Gleichschaltung Schottlands hieß, Großbritannien - war selber noch eine konservative Aristokratie, und deshalb war es den Briten ziemlich wurscht, wie fortschrittlich oder nicht die Herrscher auf dem Kontinent waren - Hauptsache die "Balance of Power" [das "Gleichgewicht der Kräfte"] blieb gewahrt. Zu diesem Behuf besetzten die Engländer kurz mal Portugal, und Napoleon hätte blind sein müssen, wenn er nicht gesehen hätte, daß das nur der erste Schritt war auf dem Weg, auch Spanien zu besetzen und Frankreich von Südwesten in den Rücken zu fallen. Ergo kam Napoleon den Briten anno 1808 zuvor, besetzte Spanien und zwang den König zur Abdankung - sehr zur Freude aller fortschrittlich, parlamentarisch gesonnenen Kräfte, die sich prompt im schönen Cádiz - der berühmten Hafenstadt unweit Gibraltars - versammelten und eine schöne, neue Verfassung nach dem Muster der französischen Republik ausarbeiteten. (Diese selbst ernannten Republikaner, die für sich in Anspruch nahmen, die alten "Cortes" - das Stände-Parlament - zu verkörpern, sollten noch einige Jahre an diesem geduldigen Stück Papier herum murksen, bis sie die Südwein-Vorräte des nahe gelegenen Jérez [daher der Name "Sherry" - eine englische Verballhornung] vollständig vernichtet hatten, und sich danach sang- und klanglos auflösen.)

Aber wenn die guten, fortschrittlichen Republikaner den bösen ausländischen Invasoren keinen Widerstand leisten, wer waren dann die Träger des Volksaufstands gegen die französischen Besatzer, der am 1. Mai 1808 im ganzen Lande ausbrach? Die Antwort auf diese Frage ist den heutigen Gutmenschen so peinlich, daß sie in ihren Märchen- und Geschichtsbüchern mit Schweigen über sie hinweg gehen: Es waren die bösen Monarchisten, die bösen, kapitalistischen Großgrundbesitzer, das Offizierskorps und - last, not least - die böse katholische Kirche, mit anderen Worten: genau diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die sich auch 1936 auf Seiten der Republik der Invasion der bösen deutschen und italienischen Fascisten entgegen stemmten, nicht wahr, Señor Alberti? Oder sollten sich die Figuren aus den Bilderrahmen da ein wenig vertan haben? [Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Fünf Jahre, nachdem Napoleon endgültig gestürzt war, wurde in Spanien die Republik ausgerufen; und nur zwei Jahre später marschierten die Franzosen wieder ein, besetzten das Land und den Thron in Madrid erneut mit einem König. Was tat Goya? Dreimal dürft Ihr raten, liebe Leser, aber Ihr werdet nicht drauf kommen: er ging ins Exil, und zwar... nach Frankreich!] Nun, sie konnten ja nicht hell sehen, sonst hätten sie gewußt, daß es genau umgekehrt war: Genau diejenigen Teile der Bevölkerung, die sich 1808 wie ein Mann gegen die "Befreiung" von König, Kirche und Kapitalismus durch den "fortschrittlichen" Napoleon erhoben, stellten sich 1936 wie ein Mann hinter Franco und seine Mit-Putschisten. Beide Male siegten diese Kräfte, und das war gut so (was immer man von Franco persönlich halten mag - das ist eine andere Geschichte). Als Madrid im März 1939 fiel, kapitulierte die "republikanische" Regierung der Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten, und ihre Anhänger gingen ins Exil, auch Alberti, der sich pikanterweise nicht Mexiko aussuchte (das die Republikaner bis zuletzt unterstützt hatte), sondern Argentinien, wo vier Jahre später ebenfalls ein Militärputsch statt fand, der letzten Endes den bösen fascistischen Diktator Perón an die Macht spülte. Aber Alberti störte das nicht. Warum ging er nicht in die ruhmreiche Sowjetunion? Er hatte sie in den 30er Jahren wiederholt besucht, war von seinem Abgott Stalin sogar persönlich empfangen worden und von diesem offenbar schwer beeindruckt; denn er widmete ihm nach seinem Tode im März 1953 (also ohne Not, wie etwa die bemitleidenswerten Emigranten, die in der SU gelandet waren, sondern im sicheren Argentinien!) einen heute nur noch peinlich wirkenden Lobeshymnus: "Vater, Meister und Genosse... Stalin, Du bist nicht gestorben..." Dikigoros kann diese Frage auch nicht beantworten (aber er ist ihr auch nicht allzu intensiv nachgegangen; denn dies ist ja nur ein Exkurs :-) Drei Jahre später schrieb Alberti wie gesagt seine "Kriegsnacht im Prado-Museum".

Aber reicht das bisher gesagte aus, um Alberti den Vorwurf zu machen, mit seinem Theaterstück die Geschichte verfälscht zu haben? Oder will Dikigoros darauf hinaus, daß gemalte Personen doch gar nicht aus ihren Bilderrahmen steigen und ihrem Betrachter Geschichte[n] erzählen können? Aber nein, liebe Leser, wer sagt denn, daß Bilder nicht zu uns sprechen können? Wie machen wir uns denn unser Bild von der Zeitgeschichte? Nein, natürlich nicht aus der BILD-Zeitung - die ist ja verpönt -, aber doch wohl aus den Fernseh-Nachrichten, seit die Bilder laufen gelernt haben, nicht wahr? Denn was uns da vorgeführt wird, muß doch die Wahrheit sein, das könenn wir ja mit eigenen Augen sehen, oder? Glaubt Ihr das wirklich? Dann glaubt Ihr vielleicht auch, daß der Schwanz mit dem Hund wedelt? (Wer diese Anspielung nicht versteht, schaue sich bei Gelegenheit mal "Wag the Dog" an, eine wirklich nette Komödie zum Thema :-) Aber hier fehlt es an einer wesentlichen Voraussetzung: Es gab nämlich im fraglichen Zeitpunkt gar keine Bilder im Prado, die aus dem Rahmen hätten fallen oder steigen können, denn das, was Dikigoros zu Beginn des Absatzes unter dem Goya-Bild "Erschießung der Aufständischen" aus der Sicht Albertis geschrieben hat, ist schlicht und einfach falsch, auch wenn es heute Eingang in unsere Geschichts- und Märchenbücher gefunden hat. Die "Legion Condor" bombardierte Madrid damals nicht, denn Franco hatte sich das ausdrücklich verbeten. Er vertrat die romantische Auffassung, daß der Krieg möglichst wenig zivile "Kollateralschäden", wie man das heute nennt, anrichten sollte - das war ja das Kernstück seiner Propaganda gegen die Roten, die in den von ihnen beherrschten Gebieten ein blutiges Terror-Regime errichteten und alles zerstörten, was nicht niet- und nagelfest war, von Kirchen bis zu Fabriken. Nein, er wollte es besser machen - und erreichte genau das Gegenteil. Ohne Luftunterstützung scheiterten, wie wir gesehen haben, seine beiden ersten Offensiven gegen Madrid, der Krieg wurde verlängert, und die Verluste unter der Zivilbevölkerung stiegen immer weiter an. (Nach vorsichtigen Schätzungen betrugen sie ca. 1 Million Menschen, die im "Hinterland" Mord und Totschlag zum Opfer fielen; dagegen kamen durch Kampfhandlungen "nur" ca. 200.000 Kombattanten um.) Eines hatten jene beiden Offensiven allerdings bewirkt: Die tapferen Bonzen der roten Republik zogen von Madrid ins sichere Valencia um. Dabei brachten sie nicht nur ihre wertvollen Ärsche, pardon Köpfe, in Sicherheit, sondern auch vieles andere: den Staatsschatz z.B., viele Tonnen Goldbarren, deren meiste schließlich in Rußland landen sollten. Und - die Bilder der Museen. Nicht, weil die "Roten" sich viel aus Kunst gemacht hätten; aber erstens brauchten sie die Museen als Lazarette, Folterkammern (in Anlehnung an ihre russischen Vorbilder "Checas [Tschekas]" genannt) und Magazine für Waffen, Munition und Verpflegung (der Bonzen, nicht der Untertanen - die in der "roten" Zone bitter Hunger litten; Franco ließ in den ersten beiden Kriegsjahren seine Flugzeuge statt Bomben Weißbrot in Tüten über ihren Städten abwerfen, um sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und eine "fünfte Kolonne" zu schaffen); und zweitens hatten die Schinken auf dem Kunstmarkt ja einen Wert, d.h. man konnte sie verkaufen, eintauschen oder verschenken. So wurden denn die Bilder aus dem Prado - 545 an der Zahl - "in Sicherheit" gebracht: Manuel Azaña, der korrupte Präsident der "Republik", der auf Schloß Perelada ganz fürstlich residierte (in Katalonien, nordöstlich von Figueras, nur 20 km von der französischen Grenze entfernt, um sich schnell absetzen zu können, wenn es "klingelte"), riß sie sich unter den Nagel (oder, wie es auf der Webseite des Prado-Museums heute geschrieben steht: "Die Bilder folgten der republikanischen Regierung auf ihrer Wanderschaft" - sie waren also wie bei Alberti aus ihren Rahmen gestiegen und mitgewandert :-); allenfalls ihm hätten sie etwas sagen können - oder Stalin, dem er ein paar Bilder Goyas als "Freundschaftsgabe" schicken ließ. Erst 1938 begann Franco, für seine Schlachten massive Luftunterstützung anzufordern; und Madrid traf es erst im März 1939, kurz vor Toreschluß, weil ein paar unverbesserliche rote Hardliner partout nicht kapitulieren wollten, obwohl der Krieg für sie längst verloren war. Erst da erlitt Madrid größere Schäden - freilich nicht zu vergleichen mit denen, welche die gezielten Flächen-Bombardements mitteleuropäischer Wohnviertel durch die Allierten im Zweiten Weltkrieg anrichten sollten. Nach der Kapitulation der roten "Republikaner" ging Azaña ins Schweizer Exil; die Bilder nahm er mit und stellte sie offiziell im Genf beim Völkerbund unter, in Wahrheit aber im Genfer Kunst- und Geschichtsmuseum aus - er und seine Mit-Exilanten mußten ja von etwas leben, und die Eintrittsgelder waren happig. Über den weiteren Verbleib liest man heute auf diversen "anti-fascistischen" Webseiten allerlei Blödsinn, z.B., daß Hitler nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gedroht habe, die Schweiz und/oder den Völkerbund zu bombardieren, jedenfalls Genf anzugreifen, und daß die Bilder deshalb wieder zurück nach Spanien gebracht worden seien. Richtig ist, daß ab April 1939 praktisch alle Staaten der Welt (d.h. mit Ausnahme Mexikos und der Sowjet-Union) die Franco-Regierung als einzige legitime Vertretung Spaniens ansahen, auch der Völkerbund und die Schweiz; da konnte man Francos Forderung nach Rückgabe der die Gemälde, die ein republikanischer Privatmann - denn mehr war Azaña bei seiner Flucht aus Spanien nicht mehr - hatte "mitgehen" lassen, schwerlich widersprechen. Sie gelangten Ende August 1939 (also noch bevor England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärten und damit aus dem Polenfeldzug einen Weltkrieg machten) wieder in den Prado, wo sie - mit Ausnahme der damals in die Sowjet-Union verschenkten Stücke - bis heute hängen.

1965 kehrte Alberti Argentinien den Rücken und nach Europa zurück, ausgerechnet ins einstmals fascistische Italien - auch dafür weiß Dikigoros keine Erklärung. 1973 gab Franco die Regierungs-Geschäfte und zwei Jahre später die Löffel ab, so daß Alberti weitere zwei Jahre später nach Spanien zurück kehren konnte, wo die bösen "Nationalisten" inzwischen alles mühsam wieder aufgebaut hatten, was der Bürgerkrieg zerstört hatte. Alberti lebte noch ein paar Jahrzehnte wie die Made im Speck - als gut dotierter Abgeordneter der wieder zugelassenen Kommunistischen Partei - und erfreute sich seines wachsenden Ruhmes, ohne noch viel dafür tun zu müssen. Niemand behelligte ihn oder irgend einen anderen der "Roten", die den Bürgerkrieg überlebt hatten, der so viele ihrer Landsleute das Leben gekostet hatte - selbst die "Pasionaria", an deren Händen das Blut Zehntausender klebte, durfte zurück kehren und in Frieden sterben. Was hatte Alberti einst in seiner - nur Spaniern bekannten - "Elegie an Ignacio Sánchez Mejías" geschrieben: "Mich wird einmal der Tod in Pantoffeln holen; in rosa Strümpfen und schwarzen Pantoffeln wird er mich dann bereit finden." Und genau so kam es: Alberti starb 1999 hoch betagt eines natürlichen Todes und ging als der größte spanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts in die Literatur-Geschichte ein (zu Unrecht, aber das ist eine andere Geschichte); sein Geburtshaus ist in den Rang eines staatlichen Museums erhoben worden (allerdings klettern die dargestellten Personen nicht mehr aus den Bilderrahmen und erzählen keine Geschichten aus der Geschichte mehr :-); Spanien hat längst seinen Frieden mit den Kommunisten gemacht (schon der alte Franco hatte angesichts seiner zunehmenden Isolation im Westen 1972 ein Wirtschaftsabkommen mit der Sowjet-Union geschlossen - Breschnjew hatte da keine Berührungsängste!) und sich inzwischen sogar deren Geschichtsschreibung als offizielle Lesart zu eigen gemacht. (Dennoch sitzt Albertis Tochter Aitana nach wie vor als Exilantin in Kuba bei ihrem Freund Fidel Castro :-) Zum 100. Geburtstag hat man Alberti eine 10-Euro-Gedenkmünze gewidmet, auf deren Rückseite Juan Carlos (der sich aus unerfindlichen Gründen "der Erste" nennt - als ob es noch einen zweiten geben würde :-) ziemlich bedröppelt aus der Wäsche guckt - wie sollte er nicht? Vielleicht ist es der Beginn einer "generación del 2002".

Anno 2006 drehte Shawn Levy in enger Anlehnung an "Noche de guerra..." den Film "Night at the Museum" (wobei er die Handlung vom Prado in Madrid ins Naturgeschichtsmuseum von New York City verlegte), ohne Alberti auch nur mit einem Wort zu erwähnen - der Ideenklau hätte ja sonst auffallen können. Aber obwohl die jüdische Medienmafia weder Geld noch Mühe scheute, um das Opus hoch zu jubeln, wollten es die Zuschauer nicht sehen - nicht einmal in der BRD, wo es im Folgejahr unter dem Titel "Nachts im Museum" auf den Markt geworfen wurde. Irgendwann ist auch die Geduld des geduldigsten Publikums erschöpft.

Nachtrag. Nein, es hat keine "generación del 2002" gegeben. Als "bedeutendsten Theatermacher Spaniens" hat man einen gewissen Albert[o] Boadella hoch gejubelt, als Judaslohn für seinen Verrat. Denn Boadella, Jahrgang 1944, ist eigentlich Katalane; und seine Eltern hatten gegen Francos Zentralstaat und für ein freies Katalonien gekämpft. Andere Katalanen tun das immer noch - aber in den Augen politisch-korrekter Gutmenschen ist das nicht mehr opportun. Heute werden diejenigen, die Kataloniens kulturelle Eigenständigkeit bewahren und seine politische Eigenständigkeit erlangen wollen - wohlgemerkt ganz friedlich und "demokratisch" - als "krankhafte Nationalisten" und "Nazis" verunglimpft, und Boadella spielt mit seinen Theaterstücken den Vorreiter - oder versucht es zumindest, denn kein anständiger Katalane geht ins Theater, um sich diesen Mist anzutun. Nein, die Völker Spaniens haben nichts aus der Vergangenheit gelernt; aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.


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