Wirrnis und Vernebelung

von Jürgen Roth (konkret Nr. 1/99)

Der russische Ministerpräsident hat, die Staatskasse zu füllen, das staatliche Monopol für Alkoholika wiederhergestellt und damit den Circulus vitiosus der russischen Selbstberauschung fürs erste wieder geschlossen.

«- trinken drauflos, völlig unverblümt, als wären sie die Krone der Schöpfung. Trinken im Bewusstsein ihrer Erhabenheit über den Rest der Welt ...» Wenedikt Jerofejew

Man kennt seinen Russen ja. Zwar fliegt er ins All und bietet den Sternen die Stirn, baut Prachtalleen und Atommeiler, U-Bahnkathedralen und erstklassige Rennräder (oder Eishockeypucks), leitet Flüsse um und entwickelt Kunstregen, sinfonische Kadenzen von schwermütiger Erhabenheit und Stalinorgeln; gründet Milchwerke groß wie Hochöfen und fertigt Zigaretten aus Spanplatten; ja, pflegt die Kunst des Frickelns, der Hundeabrichtung und des närrischen Parlierens. Doch andererseits hält er einem Präsidenten gewissermaßen widerwillig, aber stur die Stange, der rund um die Uhr neben sich steht oder zu Boden rauscht und «in der Welt» (U. Wickert) ein Landesbild vermittelt, das nur begrenzt fernsehtauglich zu nennen ist. Was also geht im Russen vor Wie tickt er ?

Schrumpfung und soziale Desintegration

Technologisch gesehen verachtet der Russe, soviel wäre zu sagen, die Feinmechanik und präferiert die Gesamt- oder Paketlösung (siehe U-Bootprogramm). Sein Charakter gleicht dem eines Bären und seine Stärke der eines stolzen Greifs. Trotzdem, Schattenseiten werden unter den Eindrücken der leicht ins Stocken geratenen kapitalistischen Umwälzung zunehmend klarer. Neben der Konstruktion und Bedienung schneller Handfeuerwaffen liebt er den raschen Griff zum Glas. Seine Häuser läßt er implodieren, seine Felder verkarsten, sein Vieh setzt er auf den Hungerast. «Kein Hund kommt heraus, um den Fremden zu verbellen», berichtete die «FAZ» am 28. November 1998 aus den Weiten der Taiga. «Das Krankenhaus praktisch geschlossen», Kolchosemitglieder treten zum Glauben über, die Futtermittelproduktion ist eingestellt.

Schrumpfung und soziale Desintegration, wohin man blickt. Jelzin hält ein Nickerchen. Die Hauptstadt röhrt und tobt. Das Land schlummert zart und trinkt. «Auf dem Dorf beschreibt man deshalb die Männer nach dem Grad ihrer Abhängigkeit vom Wodka» («FAZ») und zählt die Toten. Frühvergreisung und Debilität verdunkeln den Locus spiritus des hinteren Riesenreiches Wirrnis und Vernebelung statt Elektrifizierung. Alle Menschen werden müder.

«Fünf Tage lang trank ich täglich eintausendfünfhundert Gramm, um es zu Hause auszuhalten, und hielt es trotzdem nicht aus», gesteht der Brigadier Wenitschka in Wenedikt Jerofejews alle Dostojewskische Schwall- und Rauschprosa überflügelnder Novelle Die Reise nach Petuschki (1973, dt. München 1978). Während seiner Zugfahrt nach Petuschki, dem unerreichbaren Paradies, versumpft er derart konsequent, als gelte es, den edlen Vorsatz der «planvollen Gestaltung des gesellschaftlichen Stoffwechsels» (Engels) auf die Reorganisation neuronaler und physischer Kapazitäten zu richten. (Friedrich Engels war ein kompetenter Zecher, Marx stand ihm kaum nach, doch beide ächteten den Branntwein ob seiner politisch dysfunktionalen, eben weniger belebenden denn sämtliche theoretischen und Klassenkampfstrategien verheerenden Wirkungen.) Der Gesellschaft des Aufbaus und ihren bürokratischen Apparaten zu entkommen, «montiert sich» (E. T. A. Hoffmann) Wenitschka vollabsichtlich am Arbeitsplatz, die Genossen ziehen mit, er erstellt Alkoholdiagramme über Monatsleistungen und preist den Segen geistiger Getränke, ob Cognac oder Eau de Cologne: «O Freiheit und Gleichheit! O Brüderlichkeit und Schmarotzertum! O Wonne, keiner Rechenschaft zu unterliegen! O glückseligste Zeit im Leben meines Volkes O Zeit zwischen Öffnung und Schliessung der Geschäfte! Wir legten alle Scham und weitere Sorgen ab und lebten nur noch für geistige Werte.»

Jerofejews Ode an den Suff ist dem Russen als solchem gewidmet. Er liebt die Freiheitsmomente, welche das ruinös-komatöse Bechern spendet, jene im Alltag stabil verankerte rituelle Beseligung, die, wenn viel geweint wird, zum endlosen Leichenschmaus gerät. Die Fahrt aufs Land, wo Russen sich heute, so die «FAZ» deprimiert, bevorzugt betrunken spontan erschiessen, gleicht einer Abfolge phänomenal humaner Augenblicke und steiler Erkenntnisgewinne: «Bitte sehr, die schenken ein und trinken, ohne sich im geringsten zu genieren. Die rennen nicht auf die Plattform hinaus, verrenken sich nicht die Hände. Der Stumpfsinnige kippt einen, grunzt und sagt: Ah! Die rinnt wie geölt, die Pisse! Dann der Gescheite, kippt einen und sagt: Trans-zen-den-tal!»

Etwas Jenseitiges, Metaphysisches, etwas Unerklärliches haftet, scheint's, dem russischen Trunke an. Während der Weg des christlichen Europa in die Moderne über vornehmlich lutherische oder calvinistische Morallehren und deren Selbstdisziplinierungstechniken und -vorschriften verläuft, fliesst weiter östlich orthodox der Wodka. Dem «Prozess der Ernüchterung und Entkörperlichung», wie Hasso Spode (Die Macht der Trunkenheit, Opladen 1993) den Gang der säkularen, sich industrialisierenden Gesellschaften unter Anteilnahme ihrer erst frömmelnden, dann agitierenden Temperenzler- und Abstinenzlerorden deutet, korrespondiert zwischen Brest und Wladiwostok die Konstanz narkotischen Zechens mit steigender Entleibungstendenz.

Allein, die Schnapsreligion und der Wille zum gottlosen Taumel gründen in spezifischen historischen Dispositiven.

Russland ist ein echter Sonderfall, ein Territorium geschichtlicher Stagnation. Keine Debatte über Wirtshäuser und Parteibudiker erreichte je den Wodkakontinent, kein Mässigkeitsbewegter bezwang je die großen Spritseen. Denn obschon nicht ausgemacht scheint, ob der Russe seinen Seelentröster selbst erfand oder litauische Kaufleute zu Beginn des 15. Jahrhunderts erstmals Wodka importierten die sozial-institutionellen Bedingungen für den Dauervollrausch schuf er zweifellos.

Eine Gesellschaft säuft ab

Iwan der Schreckliche installierte Destillen und Schnapshähne, wie eine luzide Studie Sonja Margolinas in der «Berliner Zeitung» vom 17. Oktober 1998 zeigt. 1552 nahm er Kasan ein und wurde des Kabaks, eines rundum versorgenden Gasthauses, gewahr. Da der expandierende Zentralstaat erheblich gesteigerter Steuereinnahmen bedurfte, ordnete er die Errichtung von Kabaks zunächst in Moskau an und «rationalisierte» die Schenken zugleich, verbot nämlich Speiseverzehr und bequemes Mobiliar. Vereidete Aufseher, Kneipwächter mit Beamtenstatus, überwachten die Funktionsfähigkeit der neu geschaffenen öffentlichen Einrichtung, konfiszierten hausgebrannten Spiritus, schufen ein Klima der Gewalt und Bespitzelung und kontrollierten die Erfüllung des vorgegebenen Trinksolls. Der «Typus des korrupten, rücksichtslosen Kabak-Angestellten» war geboren.

Iwans Zwangsmaßnahme, durchaus ein Akt von foucaultscher Infamie, stellte die Reproduktion der Staatsapparate sicher, während die Reproduktionsfähigkeit der Bevölkerung schwand. Eine Gesellschaft säuft ab, ein Herrscher sieht Land: Im 17. Jahrhundert überziehen das Zarenreich unzählige Spelunken und Tankstellen, die immense Steuersummen akkumulieren. «Unter besondrem Sporn des Bereicherungstriebs» (MEW 23, S. 641) schwingt sich der Staat zum Ur- und Hyperkapitalisten auf und zwingt seinem Fussvolk die Buddel an die Lippen, gerät allerdings Dialektik von Herrschaft und Rationalisierung selbst in Abhängigkeit, eine allerdings nüchtern monetäre: «Eigenartig blieb die Abhängigkeit des Staates vom Wodka, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. 1859 machte der Wodkahandel 20 Prozent des inneren Warenumsatzes und fast 46 Prozent der Staatseinnahmen aus» (Margolina).

Staatlich verordnete Wodkaexzesse

Eine Welt, zwei Sozialgeschichten des Alkohols: Hie, vorneweg in England unter der Last der Branntweinepidemie (das Festland und die USA reagieren notgedrungen später), von Industrieinspektoren und Produktionsmitteleignern, also der besitzenden und herrschenden Klasse forcierte, erpresserische Kontrolle, Domestizierung, Trockenlegung, der massvolle Umstieg auf die organischen Alkoholika Wein und Bier, die traditionellen Kräftigungs- und Nährmittel; da, womöglich begünstigt durch die nachsichtige Haltung der russisch-orthodoxen Kirchen gegenüber den «Sorgenbrechern», die Erhaltung und Ausdehnung vormoderner Sozialakte wie Zu- und Wetttrinken. Destillierter Alkohol sättigt und stärkt nicht, sondern stachelt auf und zehrt aus. Das wild reizende Fluidum wirkt, pharmakologisch betrachtet, dauerhaft stillegend.

Vielleicht spielt der russische Sonderweg in der wissenschaftlichen Rauschliteratur keine Rolle, weil er schwer zu begreifen ist. Staatlich zwecks Füllung der Kasse verordnete Wodkaexzesse zu jeder Zeit und (mittlerweile) an jedem Ort unterminieren alle Versuche, Arbeit und sog. freie Zeit zu strukturieren und zu verwalten (Stechuhr einerseits, rebellische Handlungen wie Blaufeiern und Maschinenstürmerei einhegende gewerkschaftliche Organisationen andererseits). Die Industrielle Revolution zerstörte ländliche Lebensformen («Alles Ständische und Stehende verdampft») und schuf eine neue Klasse (selbst-)bewußter Lohnabhängiger, der Wodka verlangsamte sämtliche gesellschaftlichen Verrichtungen und hielt den Menschen auf dem Hofe fest.

Rätselhaftes Russland

«Während Bier und Wein in Zügen getrunken wird und der Vorgang der Berauschung ein allmählicher ist, wird der Branntwein gekippt, und der Rausch ist die sozusagen schlagartige Folge. Einen Vorgang der Beschleunigung des Rausches stellt der Branntwein dar, innerlich verbunden anderen Beschleunigungsvorgängen der Moderne», schreibt Wolfgang Schivelbusch (Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, München/Wien 1980) über das England des 18. Jahrhunderts. Verkehrtes Russland. Russland erreichte nie das Durchgangsstadium der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren regulierenden Überbauten. Den Sprung vom zaristischen Absolutismus in den Sozialismus begleitete zwar der Akzelerierungsstoff Wodka. Indes, jene, die hätten produktiv gemacht werden sollen, schliefen am Tresen ein.

Rätselhaftes Russland. Es stimulierte, erhob die Schnapsintoxikation zur «Staatspflicht» (Margolina): «Der russische Absolutismus bestrafte seine Untertanen ... für schlechte Trinkdisziplin.» Europa stranguliert die Abhängigen, indem es sie bildet und ihnen die abstrakte Freiheit der Arbeitsplatzwahl und der Gesangsstunde zubilligt, der russische Steuereintreiber statuiert «die freiwillige Pflicht des Volkes, sich im staatlichen Lokal zu betrinken», unter Aufsicht und zum Wohle der Autokratie.

Circulos vitiosus

Laut Spinoza anerkennt bereits der Knieende die Allmacht des Schöpfers; i. S. Iwans des Schrecklichen anerkennt der resignierende Wodkaabhängige die Unveränderlichkeit der Welt, mithin den Staat. Bis heute. Schon 1925 hatte man die Wodkaproduktion legalisiert, nachdem sie 1918 verboten worden war. 1982 trieb die sowjetische Administration ein Drittel ihrer Steuern bei den Säufern ein. Gorbatschow, der Retter des Vaterlandes, beherzigte Brechts spätes Diktum «Wozu brauchen wir noch zu trinken, außer ihr wißt Getränke, die nüchtern machen» (Me-ti Buch der Wendungen), appellierte 1985 via «Prawda» an wen auch immer: «Laßt uns mit der Vergiftung des Volkes aufhören» und führte, trotz späterer Rücknahme der Alkoholkontingentierung, den Zusammenbruch herbei.

Um zu retten, was nicht zu retten ist, stellte Ministerpräsident Primakow jüngst seine erste Amtshandlung das in einem schäbigen Akt des Liberalismus 1992 abgeschaffte Staatsmonopol für Alkoholika als Conditio sine qua non der russischen Volkswirtschaft wieder her.

Der Kreis schließt sich. Russland schwankt im Circulus vitiosus der Selbstberauschung eine tradierte und zugleich die «postsowjetische Realität, die ihren Ursprung im Trinkhaus hat» (Margolina). Just dort, wo Karl Kautsky, den Abstinenzlern um Viktor Adler scharf opponierend, 1891 den Hort politischer Reflexion und solidarisierender Geselligkeit erblickte, im Wirtshaus («Die Politik der Bourgeoisie kann desselben entbehren, nicht aber die Politik des Proletariats»), stürzt für Rußland singular-strukturell alles zu Boden.

Der Arbeiter, erkannte Friedrich Engels, «verlangt mit Gewalt nach einem Stimulus von Aussen; sein geselliges Bedürfnis kann nur in einem Wirtshaus befriedigt werden». Wo aber keine Arbeit, mutiert der Kopf zum Schankraum, den es zu fluten gilt, und der Schankraum zum Strohhalm des Staates, der Schnapslachen und -leichen anzapft und aussaugt. Soweit, immerhin, hat es der (nachholende) Neokapitalismus gebracht dass er nichts Neues gebracht hat.


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