Nr. 7 - 17. März 2000

Der islamische Fundamentalismus als Gefahr für den Westen

Die neue Weltunordnung

Von Bassam Tibi

Professor Bassam Tibi, der an der Universität Göttingen politische Wissenschaft lehrt, gehört zu den weltweit besten Kennern des Islam. In seinem neuesten Buch, aus dem wir nachstehend mit Einverständnis des Verlags ein Kapitel wiedergeben, setzt sich Tibi vertieft mit dem Spannungsfeld zwischen westlicher Dominanz und islamischem Fundamentalismus auseinander.

Die heutige Weltordnung ist ein Produkt der europäischen Dominanz. (In dieser Interpretation werden die Vereinigten Staaten als ein Anhängsel Europas und seines Zivilisationsprozesses verstanden.) Von Sayyid Qutb, dem ideologischen Vater und der führenden Autorität des islamischen Fundamentalismus, stammt die Vorhersage, die Tage der westlichen Vorherrschaft seien gezählt, und für den Islam sei die Zeit gekommen, seinen Anspruch auf die Führung der Welt anzumelden. Er hat damit den Bezugsrahmen geschaffen, in dem die muslimischen Aktivisten des späten 20. Jahrhunderts die Weltpolitik begreifen, während sie gleichzeitig ihr Zivilisationsbewusstsein entwickeln.

«Führung der Welt übernehmen»
Die Anhänger des islamischen Fundamentalismus lehnen nicht nur die bestehende Weltordnung ab, weil sie auf westlichen Normen und Regeln beruht, sondern stellen auch die Forderung auf, sie durch eine auf islamischen Regeln beruhende islamische Ordnung zu ersetzen. Sayyid Qutb hat einmal rundheraus erklärt: «Nur der Islam ist geeignet, die Führung der Welt zu übernehmen.» Genau dies haben islamische Fundamentalisten im Sinn, wenn sie von der neuen Rolle des Islam in der Weltpolitik sprechen. Eine andere Autorität auf dem Gebiet des islamischen Fundamentalismus, der Pakistani Abu al-A'la al-Maududi, ist gleichfalls der Ansicht, nur der Islam sei «geeignet, die Führung des modernen Zeitalters zu übernehmen».

Erschwerter Dialog
Ein derart radikales, umfassendes normatives Modell schwächt nicht nur den internationalen Konsens, sondern beeinträchtigt auch die Art der Kommunikation und des Verhandelns über bestehende Unterschiede. Durch die Verbreitung der Kommunikations-Technologie wurden kulturell unterschiedliche Völker einander in einem beispiellosen Ausmass zu gegenseitigem Bewusstsein und Interaktion gebracht, doch diese technische Nähe wird durch die radikal gegensätzlichen Anschauungen derselben Völker weitgehend überschattet. Kommunikation besteht nicht nur aus Worten und Technologie, sondern vor allem aus einem Diskurs, und wenn der freie Diskurs nicht respektiert wird, kann es keine wirkliche Kommunikation geben.

Im Islam gibt es kein kulturelles Verständnis von Individuation und demzufolge auch kein Konzept der individuellen Menschenrechte. Im Islam wird das Individuum lediglich als Teil eines Kollektivs gesehen, sei es der universellen islamischen Umma (Gemeinschaft) oder eines der Kollektive, die dieser gegenüberstehen (die Feinde des Islam). Aus ethischer Sicht kann es jedoch trotz aller kulturellen und zivilisatorischen Unterschiede keinen Kompromiss in bezug auf die universelle Gültigkeit der individuellen Menschenrechte in den internationalen Beziehungen geben.

Der europäische Philosoph, der vor langer Zeit die Grundlagen des modernen Weltbildes schuf und dessen Name zum Synonym des modernen Diskurses wurde, nämlich René Descartes (nach dem der Kartesianismus benannt ist), entschied sich dafür, sein Hauptwerk nicht «Abhandlung», sondern «Diskurs» zu nennen. Für ihn war Diskurs etwas Diskutierbares: «Ich habe nicht die Neigung zu lehren, sondern zu kommunizieren.» Würde der Diskurs in diesem Sinne weltweit akzeptiert, könnten die Anhänger verschiedener Weltanschauungen rational miteinander über die sie trennenden Unterschiede sprechen. Doch der Fundamentalismus steht diesem kartesianischen Diskurs entgegen. Wenn ein religiöser Fundamentalismus, sei er islamischer oder anderer Art, zu der Grundlage wird, auf der argumentiert werden soll, kann es keine substantielle Kommunikation zwischen unterschiedlichen Zivilisationen mehr geben. Die islamischen Fundamentalisten zum Beispiel stellen keine kulturell abweichende Vision für die Weltpolitik zur Debatte. Vielmehr behaupten sie, Überbringer einer unveränderlichen, absoluten göttlichen Botschaft zu sein, die sie der gesamten Menschheit vermitteln und - je nach Lage - aufzwingen müssen. Inhalt dieser Botschaft ist das islamische Recht, die Schari'a, für die gesamte Menschheit. Nach den Worten des muslimischen Fundamentalisten Sabir Tu'ayma ist die islamische Schari'a nicht nur der grosse Entwurf für die Muslime, sondern für die Menschheit insgesamt:

«Die islamischen Regeln sind nicht auf die Muslime und ihre Gesellschaften beschränkt. Sie sind aufgestellt worden, um alle menschlichen Beziehungen zu organisieren, und daher für die gesamte Menschheit bestimmt, egal, ob sie islamisch oder noch nicht islamisiert ist, ob sie im Frieden lebt oder sich im Kriegszustand befindet, denn die islamischen Regeln schaffen internationales Recht.»

Fixiertes Weltbild
Im Unterschied zur kartesianischen Weltsicht ist das islamische Weltbild nicht debattierbar, da es auf der Schrift - dem Koran - beruht, die als absolut und göttlich angesehen wird. Damit wird klar, dass es für muslimische Fundamentalisten keine andere Plattform für internationale Interaktion und Kommunikation geben kann als ihren eigenen, zur politischen Formel verzerrten religiösen Glauben. Insofern sind die Auswirkungen fundamentalistisch geprägter politischer Optionen für den Zerfall des internationalen Konsenses von Bedeutung.

Den Westen besiegen
In der Welt des Islam werden die von den heutigen, noch nicht an der Macht befindlichen islamischen Fundamentalisten vertretenen politischen Optionen, insbesondere jene der «Wiederherstellung der globalen Herrschaft des Islam», zunehmend zum Ausdruck der politischen Optionen der Bevölkerungsmehrheit. Aber schon im 19. Jahrhundert begegnet man in den Schriften des islamischen Erneuerers al-Afghani Anspielungen auf die Ideen der Raf'rayat al-sulta (Vorherrschaft) und des Ghalab (Dominanz) als Grundelemente des Islam. Nikki Keddie, die amerikanische Herausgeberin von Afghanis Schriften, weist darauf hin, dass viele Hauptthemen der gegenwärtigen Wiederbelebung des politischen Islam auf ihn zurück gehen, weil er den «Islam als eine Kraft zur Abwehr des Westens und zur Stärkung der Muslime durch ihre Einheit» sah. Gemeint ist damit die Einheit der Muslime als eine der westlichen entgegengesetzter Zivilisation. Aus dieser Perspektive gesehen, ist Modernisierung kein Entwicklungsziel, sondern ein Instrument, mit dem sich die Machtbalance in der Welt zugunsten des Islam verändern lässt. Ein zeitgenössischer muslimischer Fundamentalist, Hasan al Scharqawi, stellt in ähnlicher Weise unumwunden fest:

«Als Kemal Atatürk (die Muslime) aufrief, den Westen nachzuahmen, hatte er nichts (anderes) im Sinn, als sich dem Westen anzugleichen. [...] Dies ist nicht unsere Absicht. Unser Ziel ist, zu lernen, wie man die modernen Waffen handhabt und darüber hinaus, wie man sie herstellt und weiterentwickelt, um unsere Feinde zu (besiegen).» Diese Äusserung macht die Implikationen der Weltsicht islamischer Fundamentalisten sowie auch die Verknüpfung von Machtdiffusion und zunehmender kultureller Fragmentation deutlich. Laut Joseph Nye liegt die Ursache der Machtdiffusion in der Verbreitung der Technologie, die es nichtwestlichen Staaten ermöglicht, ihr militärisches Potential zu verstärken. Die olitisierung der kulturellen Fragmentation trägt dann nicht nur zum weiteren Zerfall des internationalen Konsens bei, sondern wird in Verbindung mit der Verbreitung der Waffentechnologie vor allem zu einer Quelle von Unordnung und Konfrontation innerhalb der bestehenden globalen Machtstruktur.

Bassam Tibi

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