Wann sterben die Deutschen aus?

Eine Modellrechnung von Kassandra {27. August 2009}

mit Links und Anmerkungen von Nikolas Dikigorosa

Demographischer Wandel, Migration, Überfremdung – das bevorstehende Aussterben der Deutschen ist in aller Munde. Ob das allerdings passiert, hängt im Wesentlichen davon ab, was man als „deutsch“ definiert. Einige Gewissheiten gibt es aber, die es nicht kleinzureden gilt.

Dass die Deutschen aussterben, glauben die meisten Deutschen schon allein deshalb nicht, da sie ja selbst deutsch sind und auch Unmengen anderer Deutscher kennen. Hinzu kommt, dass insbesondere die Jüngeren innerhalb ihres eigenen Lebenshorizontes, der die Erfahrungswelt eines relativ kurzen Zeitabschnitts widerspiegelt, keine grundlegenden Veränderungen zu erkennen vermögen. Ihre erfahrene soziale Realität ist aber sowohl in räumlicher wie auch zeitlicher Hinsicht höchst selektiv. Das ihnen bekannte Umfeld sagt nichts über die Gesamtgesellschaft aus, genausowenig ist aus einer zeitlich begrenzten Lebenserfahrung heraus, die sich zudem schnell auf veränderte Realitäten einstellt, ein Blick fürs Ganze eines in die mittlere Vergangenheit reichenden Prozesses möglich, ganz zu schweigen von einer sinnvollen Zukunftsprognose.

Weil die Lebenswelt des Einzelnen nicht ausreicht, bestimmte Dynamiken zu überblicken, ist die Überraschung umso größer, wenn wissenschaftliche Prognosen Dinge ankündigen, die außerhalb jeder von aktuellen Parametern betriebenen Vorstellungskraft liegen. Demographie wird daher zuweilen als unverlässliche Kaffeesatzleserei abgetan, Horrorszenarien von den aussterbenden Deutschen demzufolge als Humbug abgelehnt. Der Historiker Thomas Etzemüller etwa behauptet, dass „uns unser Aussterben als Volk seit hundert Jahren prophezeit“ wird.¹ Und da es bis jetzt nicht eintrat gebe es keinen Grund zur Hysterie. Die Demographen seien unpräziser, als sie uns glauben lassen wollten.

Fakt ist aber: Die Eltern von morgen sind bereits geboren. Ihre Zahl muss nicht geschätzt werden, sie kann anhand der Geburtenzahlen der vergangenen Jahre ganz einfach abgelesen werden. Im Folgenden wird eine Modellrechnung aufgestellt, die sich auf das Wesentliche bezieht. Sie betrachtet die Entwicklung der Frauen im gebärfähigen Alter in der Bundesrepublik, was erkennbar entscheidender für die Entwicklung Deutschlands ist als absolute Zahlen, wie die momentane Einwohneranzahl. Als entsprechende Alterskohorte werden demzufolge Frauen im Alter von 15 bis 39 Jahren betrachtet. Hat eine Frau dieses Alter überschritten, scheidet sie in der Regel aus der Menge der potenziellen (Neu-)Mütter aus.²

Betrug 1985 die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter noch 14,24 Millionen, fielen im Jahre 2005 schon nur noch 11,18 Millionen in diese Kohorte.³ Im Jahre 2020 wird diese Zahl bei nur noch 9,74 Millionen liegen. Diese Frauen sind ja alle schon auf der Welt, wir kennen also ihre genaue Zahl, unberücksichtigt bleiben lediglich zukünftige Ein-, aber auch Auswanderungsbewegungen.

In gerade einmal etwas mehr als einer menschlichen Generation ist die reproduktive Basis in Deutschland also auf 68,4% ihres vormaligen Wertes gefallen. Dieser Prozess ist historisch einmalig, und in seinen Auswirkungen beispiellos. Keinen Wert haben also Analysen, die auf ähnliche Prognosen vom Aussterben der Deutschen von vor 100 Jahren verweisen, weil wohl nie in der Geschichte der Menschheit eine Gesellschaft über einen so langen Zeitraum (seit Beginn der 1970er Jahre) weniger Kinder bekam, als für ihre Bestandserhaltung notwendig wäre.

Dieser Prozess hat darüber hinaus eine eingebaute Zeitverzögerung, sodass die Folgen eines Ausbleibens des Nachwuchses erst 20-30 Jahre später spürbar werden, wenn aus keinen Kindern nun keine Eltern geworden sind. Die steigende Lebenserwartung tat ihr übriges dazu, dass die absolute Einwohnerzahl in der Bundesrepublik noch nicht sank. Prognosen dieser Art werden daher von manchen als Horrorszenario empfunden, das doch wohl bestimmt nicht eintreten wird, schließlich ist man an die (kurzweilige) Realität gewöhnt, und in der gab es seit dem Krieg nie mehr schrumpfende Einwohnerzahlen. Tatsache ist aber, dass dieser schleichende Prozess, der historisch betrachtet überhaupt nicht schleichend, sondern überaus rasant stattfindet, längst begonnen und die Weichen für die nahe Zukunft gestellt hat. Die Zahl der möglichen Eltern wird bis 2020 im Vergleich zu 1985 um fast ein Drittel zurückgehen, selbst wenn ab heute jede Frau hierzulande 5 Kinder bekäme.

Diese reproduktive Basis, deren Zahl 1985 noch über 14 Millionen betrug, kann bis 2044 auf 6,33 Millionen, bis 2070 auf rund 4 Millionen, und bis Ende des Jahrhunderts auf gerade noch 2,5 Millionen absinken, und wäre damit innerhalb eines einzigen Jahrhunderts um 91% zurückgegangen. Dieses Szenario tritt ein, wenn die Kinderzahl pro Frau bei den heutigen 1,3 Kindern bleibt, die Außenwanderung ausgeglichen ist, und alle anderen Faktoren konstant bleiben. Dieses Szenario muss nicht eintreten, aber wenn die heutigen Lebensweisen und Umstände so bleiben wie sie sind, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass es nicht eintritt. Soll heißen: Wer davon nicht überzeugt ist, ist Gegenbeweise schuldig. Bis jetzt deutet alles darauf hin, dass es so ablaufen wird, und da wir die Zukunft nicht kennen, und mögliche Einflussfaktoren in beide Richtungen nicht miteinbeziehen können, ist es vernünftig, von dieser auf heutigen Tatsachen basierenden Analyse auszugehen. Dieser Logik folgen auch etwa die Berechnungen zur Lebenserwartung. Sie ist vernünftig, andere Rechnungen müssen auf den Faktoren Vermutung, Hoffnung, oder eben Kaffeesatzleserei beruhen.

Denkbar wäre nun natürlich, dass zukünftige Zuwanderung ausgleichend auf diesen Bevölkerungsverlust wirkt. Um das jetzt schon feststehende Defizit bis 2020 auszugleichen, und allein den Bestand von 2005 aufrecht zu erhalten, sind in diesen 15 Jahren über 1,4 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter aus dem Ausland nötig. Da Zuwanderung aber nicht nur in Form von Frauen im gebärfähigen Alter geschieht, und diese Gruppe selbst bei erheblich jüngerem Altersdurchschnitt der Zugewanderten nicht mehr als 20% ausmachen wird, beliefe sich die benötigte Zuwanderung in den kommenden Jahren bis 2020 also mindestens auf 7 Millionen Menschen. Das wäre im Jahresschnitt etwa drei Mal so viel wie in den vergangenen Jahren üblich.

In diesen Zusammenhang fällt die von manchen Bürgern geäußerte Angst vor „Überfremdung“. Ob eine Gesellschaft „überfremdet“ wird oder nicht, ist eine reine Definitionssache, da Überfremdung sich nicht wie Temperatur oder Windstärke messen lässt. Tatsache ist, dass 2005 im gesamtdeutschen Durchschnitt 35% aller Kinder einen „Migrationshintergrund“ besitzen4, deren Eltern also selbst Ausländer oder Eingebürgerte sind, oder von ausländischen Elternteilen abstammen. In Ballungsgebieten wie Nürnberg, Frankfurt oder Stuttgart sind diese Kinder bereits in der 2/3-Mehrheit. Auf Überfremdung weist das trotzdem nicht unbedingt hin, da Überfremdung ein gefühlsabhängiger Begriff und ohnehin schwer in Zahlen ausdrückbar ist. Präzise ausrechnen lässt sich aber, wie der Anteil an Zugewanderten sich in naher Zukunft entwickeln wird. Ob der Einzelne dies dann als Überfremdung empfindet, bleibt ihm selbst überlassen.

Die Kohorte der gebärfähigen Frauen 2020 lässt sich auf Basis des Anteils an den Geburten 1981 bis 2005 (gemittelt wohl um die 30%) ungefähr in einen Teil ohne (6,82 Millionen) und einen Teil mit Migrationshintergrund (2,92 Millionen) aufteilen. Nicht berücksichtigt sind hier Ein- und Auswanderung. 2005 emigrierten etwa 145.000 Deutsche, während das Saldo der Migranten bei 224.000 Zuzügen lag. Nimmt man – wie oben – an, dass der Anteil der Frauen im betrachteten Alter an diesen Bewegungen jeweils bei etwa 20% liegt, kann man mit einem jährlichen Schrumpfungsprozess der deutschen Frauen (ohne Migrationshintergrund) von 29.000, sowie einer jährlichen Zuwachsrate der Migrantinnen um etwa 45.000 rechnen. Dazu kommen unterschiedliche Geburtenraten, realistische Werte sind wohl 1,7 Kinder bei den Frauen mit, sowie 1,1 bei den Frauen ohne Migrationshintergrund. Berücksichtigt man diese Annahmen, so korrigieren sich die Zahlen für 2020 auf 3,6 Millionen Frauen mit und 6,39 Millionen ohne Migrationshintergrund. Schon eine Generation später, um 2044 also, haben sich die Verhältnisse umgedreht, behält man oben angenommene Parameter konstant. Zu diesem Zeitpunkt ist die Kohorte der einheimischen Frauen dann auf 2,81 Millionen gefallen, während die der zugewanderten nun bei 4,14 Millionen liegt. (Nicht berücksichtigt wurden dabei Mischehen, deren Kinder auch zu denen „mit Migrationshintergrund“ zählen.) Irgendwann um 2035 wird die reproduktive Basis der Zugewanderten, die gegebenen Annahmen vorausgesetzt, also die der Einheimischen überholen. In den Großstädten ist dies längst geschehen.

Ob man dies nun als Hinweis auf drohende „Überfremdung“ aufnimmt oder nicht, bleibt einem selbst überlassen. Ein „Migrationshintergrund“ an sich sagt ja auch noch nichts über Art und Umfang der Anpassung dieser Kinder an die deutsche Gesellschaft aus. Von einer „Mehrheitsgesellschaft“ zu sprechen lohnt sich jedenfalls nicht mehr.

Was man daraus für Konsequenzen sieht, ist also wie gesehen jedermanns persönliche Sache. Die Realität impliziert für gewöhnlich weder eine Wertung noch eine Handlungsempfehlung. Man sollte sich jedoch keinen Illusionen hingeben. Nur weil man bestimmte Umstände gar nicht anders gewohnt ist, heißt das nicht, dass sie für immer so bleiben. Es hilft einem dabei auch kein aus der Vergangenheit herangezogener Vergleich, um sich einzureden, dass diese historisch niedagewesene Dynamik schon auch wieder in geordnete Bahnen verlaufen wird.


¹ Etzemüller, Thomas in: Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 10. Februar 2007.

² Potenzielle Mutterschaften im Alter von 40 und älter (oder unter 15) werden demnach hier nicht berücksichtigt. Dafür werden auch die Todesfälle vernachlässigt, die vor einer potenziellen Mutterschaft innerhalb der betrachteten Kohorte geschehen. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, das Lebensalter der Kohortengrenzen nicht zu erreichen, liegt in Deutschland laut aktuellen Sterbetafeln bei 1,463% (gemittelter Wert aus den Angaben bis zum 15. bzw. bis zum 39. Lebensjahr).

³ Alle im Folgenden verwendeten Angaben beruhen, soweit nicht anders ausgewiesen, auf Quellen des Statistischen Bundesamts, insbesondere der zusammenfassenden Übersichten „Eheschließungen, Geborene und Gestorbene“ (Statistisches Bundesamt 2007, Wiesbaden)

4 Aktualisierung: Im Jahr 2019 hatten 21,1 Millionen Menschen und somit 26,0% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt). Unter den Kindern von 0 bis unter 5 Jahren besaßen 40,4% einen Migrationshintergrund (Mikrozensus 2019, Tabelle S. 37).


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