Poonal

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen
Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen
Nr. 103 vom 26.07.1993

BRASILIEN

Der Süden zeigt separatistische Tendenzen

von Viktor Sukup

(Buenos Aires, APIA-POONAL).- Die Festnahme des Separatistenführers Irton Marx Anfang Mai kennzeichnet vielleicht in einer nicht unwesentlichen Frage das Ende einer Epoche in Brasilien. Die von der Kolonialzeit des Landes ererbte nationale Einheit, bisher kaum je ernsthaft in Frage gestellt, könnte in akute Gefahr geraten. Mehr als juristische und polizeiliche Methoden werden jetzt die strukturellen Faktoren entscheidend sein, um dieser relativ neuen Herausforderung entgegenzutreten.

Separatistenführer verhaftet

Daß das große portugiesische Kolonialreich in Amerika, im Gegensatz zum noch um etwa die Hälfte größeren spanischen, unter Beibehaltung seiner Einheit die Unabhängigkeit erreichen konnte, ist im wesentlichen durch historische, ökonomische und geographische Faktoren zu erklären. Wirtschaftlich war Brasilien schon im 18. Jahrhundert durch die reichen Goldfunde in der zentralen Region Minas Gerais zu einer Einheit geworden, in der die südlichen Regionen enger mit dem ursprünglich vorherrschenden Nordosten verbunden worden waren.

In Spanisch-Amerika kündigte sich der Niedergang des Kolonialreichs schon Ende des 18. Jahrhunderts an. Die Silbervorkommen im bolivianischen Potosí gingen zur Neige, Vizekönigreich Peru verlor an Macht und es entstanden neue Agrarexportzonen, wie in Venezuela, um nur einige Gründe zu nennen. Und statt der jahrelangen, blutigen Unabhängigkeitskriege - die oft genug in Wirklichkeit interne Bürgerkriege waren - gab es in Brasilien einen praktisch friedlichen Übergang: Der junge Sohn des letzten portugiesischen Königs, der schon seit 1808 in Rio aufgewachsen war, übernahm als Kaiser Pedro I. die Führung des Landes, das 1822 seine Unabhängigkeit erklärte.

Größere und andauernde regionale Spannungen, die die nationale Einheit des Landes bedrohten, hat es in Brasilien seither wenige gegeben. Sicher, es gab bald eine bedeutende Revolution im nördlichen Pará (Amazonien) und eine andere im extremen Süden. Hier wurde 1836 in der südlichsten Provinz, heute Bundesstaat Rio Grande do Sul, die República de Piratini ausgerufen, und erst einige Jahre später, schon unter Kaiser Pedro II. (1840-1889) gelang es der Zentralregierung, diese Sezession, der sich auch die angrenzende Provinz Santa Catarina angeschlossen hatte, durch Kompromisse zu beenden. Im Norden war während der gleichen Jahre die Repression der schließlich siegreichen Regierungstruppen extrem brutal, aber ab 1845 waren beide "Probleme" gelöst, das eine durch Verhandlungen und das andere gewaltsam.

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Europäische Einwanderungswelle in den Süden

Dennoch entwickelten sich vor allem der Süden und der Südosten mit der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufstrebenden Metropole Sâo Paulo immer mehr in eine andere Richtung als der arme und rückständige Norden. Seit den Jahren von Pedro I. gab es eine relativ bedeutende deutsche und schweizerische Einwanderungswelle im fernen und außertropischen Süden, später auch eine noch zahlreichere italienische sowie kleinere Gruppen von PolInnen, UkrainerInnen, JapanerInnen etc. Aus Österreich bzw. Österreich-Ungarn kamen etwa 85.000 Menschen zwischen 1884 und 1939, aus Deutschland 200.000 zwischen 1884 und 1973, die sich zur großen deutschen Kolonie gesellten. Die Zahl der italienischen und portugiesischen EinwanderInnen beläuft sich auf jeweils etwas über anderthalb Millionen in dieser Periode.

Noch heute gibt es z.B. Orte im Bundestaat Paraná, wo der lokale Polizist Deutsch und Polnisch sprechen muß, um sich verständlich zu machen. Schätzungsweise ein Viertel der 12 Millionen EinwohnerInnen von Rio Grande do Sul - etwas weniger in den erwähnten nördlich anschließenden Staaten Santa Catarina und Paraná - sind deutscher oder deutschsprachiger Abstammung. Seit der ersten Volkszählung (1872) ist die Bevölkerung dieser "Region Süden" von weniger als einer auf über 25 Millionen angewachsen, der Anteil an der Gesamtbevölkerung stieg von einem Zwölftel auf ein Sechstel.

Diese Entwicklung hängt damit zusammen, daß insbesondere der Kaffeeanbau und später die beginnende Industrialisierung Brasilien in eines der wichtigsten Einwanderungsländer verwandelten. Diese Einwanderung beschränkt sich aber im wesentlichen auf den Süden einschließlich des an Paraná anschließenden Bundesstaat Sâo Paulo, der heute etwa ein Fünftel der Bevölkerung und über die Hälfte der Industrie auf seinem Territorium konzentriert.

Mit dem aus Rio Grande do Sul stammenden, nationalistischen Diktator und späteren konstitutionellen Präsidenten Gétulio Vargas der Jahre 1930-54, nahm Brasilien einen raschen industriellen Aufschwung. Unter ihm und seinem Nachfolger Juscelino Kubitschek, dem Baumeister Brasilias, entwickelte sich das Zentrum Sâo Paulo, woran auch verschiedene Maßnahmen zur Dezentralisierung nichts änderten. Das bald folgende Militärregime sollte jedoch mit seinem technokratisch-autoritärem Stil die regionalen Ungleichgewichte noch deutlich verschärfen.

Millionen Wirtschaftsflüchtlinge wanderten so vom armen Nordosten in das sich dynamisch entwickelnde Sâo Paulo und andere Städte im Südosten wie Rio de Janiero und Belo Horizonte. In den fernen Süden kamen allerdings nur wenige. Hier blieb die Gesellschaft weiterhin sehr europäisch geprägt, mit relativ geringen Einkommensunterschieden und weit weniger sozialen Spannungen, sowie einer relativ dynamischen Industrie.

Pro-Kopf-Einkommen im Süden ist zweieinhalb mal höher als der Bundesdurchschnitt

All diese historischen und sozio-ökonomischen Zusammenhänge sind wesentlich, um den heute aufstrebenden Separatismus im Süden zu verstehen. "O Sul é meu pais" (der Süden ist mein Land), steht auf Wänden und Aufklebern. Leute wie Irton Marx, ein von einem deutschen Offizier abstammender Unternehmer aus Rio Grande do Sul, erhalten Zulauf. Viele wollen heute nicht mehr für die "faulen" BrasilianerInnen im Norden und Nordosten Steuern zahlen, ähnlich wie die NorditalienerInnen, die auf die südlichen Terroni herunterschauen, nicht ohne rassistische Untertöne in beiden Fällen. Sie beklagen sich mit Recht, daß die vier südlichsten Bundesstaaten (mit Sâo Paulo) mit 36,5% der brasilianischen Bevölkerung nur 27,2% der Bundesabgeordneten stellen und 63,6% der Bundessteuern zahlen. Die privilegierte Stellung im Lande ist eindeutig: Mit etwa 5.300 US-Dollar ist das Pro-Kopf-Einkommen immerhin zweieinhalbmal so hoch als der nationale Durchschnitt.

Es ist klar, daß ein neues unabhängiges Südbrasilien, auch ohne Sâo Paulo, ein lebensfähiges Gebilde mit relativem Wohlstand sein könnte, wie etwa Katalonien, Norditalien oder Flandern. Aber ob diese Flucht vor den gemeinsamen Problemen des Landes mittel- oder selbst kurzfristig sinnvoll wäre, steht auf einem anderen Blatt. Die Problematik ist hier überall grundlegend ähnlich, ohne Überlegung über die riesigen Gewinne aus dem Zugang zum gößeren, nationalen Markt anzustellen, ohne den es keine vergleichbare industrielle Expansion hätte geben können.

Die soziale Krise hat sich verschärft

"Es wäre naiv zu ignorieren", meint Celso Furtado, sicher einer der seriösesten Ökonomen Brasiliens, "daß die Entwicklung der Techniken zur Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe unter die Kontrolle von transnationalen Unternehmen führt. Aber wie kann man ignorieren, daß die Aushöhlung der nationalen Entscheidungssysteme unvorhersehbare Folgen für die politische Ordnung weiter Gebiete der Erde haben wird, vor allem in unterentwickelten Ländern mit großer territorialer Ausdehnung und tiefen regionalen Ungleichheiten wie Brasilien?"

Eben hier liegt der Kern des Problems. Die seit Jahren andauernde schwere strukturelle Krise des Landes, die sich unter dem Gauner-Präsidenten Fernando Collor de Mello seit 1990 noch deutlich verschärft hat, verwandelt Brasilien immer mehr in ein soziales Pulverfaß. Im extremen Süden ist es relativ "ruhig" und es gibt keine 15 Morde pro Tag wie in Rio, keine Massenplünderungen von Supermärkten durch verzweifelte SlumbewohnerInnen und kein Millionenheer von marodierenden Straßenkindern. All das gibt es zwar auch in Curitiba, Florianópolis und Porto Alegre, den Hauptstädetn der drei Südstaaten, aber weit weniger als im nahegelegen 17-Millionen-Moloch Sâo Paulo, wo bereits lokale Skinheads beginnen, Jagd auf die oft farbigen Einwanderer aus dem Nordosten zu machen.

Noch ist die separate Republik Pampa Gaúcha eher ein Hirngespinst von ExtremistInnen und Wirrköpfen wie jenem heute einsitzenden südbrasilianischen Irton Marx. Aber wenn die schwere nationale Krise nicht bald entschärft wird, könnten diese sehr wohl Zulauf bekommen.


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