Brasilien kämpft gegen Gewalt auf den Straßen

Maßnahmen der Regierung haben kaum Aussicht auf Erfolg

von Ulrich Achermann (Textarchiv der Berliner Zeitung, 23.06.2000)

RIO DE JANEIRO, 22. Juni. In der vergangenen Woche entführte der 21-jährige Mulatte Sandro do Nascimento in Rio de Janeiro einen Stadtbus. Bevor er selbst starb, tötete er vor den Augen der Nation eine seiner Geiseln. Die Busentführung wurde in all ihren makabren Details vom brasilianischen Fernsehen vier Stunden lang direkt in Millionen von Haushalten übertragen. Die Militärpolizei sorgte überdies dafür, dass sich die Bürger Brasiliens sicher sein dürfen, in dem sozialen Bürgerkrieg des Landes jederzeit selbst zum Opfer werden zu können. Nachdem die Beamten den Tod der Geisel nicht zu verhindern wussten, brachten sie den bereits angeschossenen, verletzten Täter aus Rache im Patrouillenfahrzeug um: Sie erdrosselten ihn mit einem Badetuch.

Die Aufruhr darüber, dass man in Brasilien nicht mehr auf die Straße gehen kann, ohne sich in Todesgefahr zu begeben, war ungleich heftiger als die Entrüstung über den Mord der Militärpolizei. Die Regierung des angesehenen Soziologen Fernando Henrique Cardoso musste handeln und präsentierte umgehend ein ambitiöses Programm gegen Mord und Totschlag, das mit umgerechnet fast 400 Millionen Mark genauso viel kosten wird wie alle zuvor auf diesem Gebiet unternommenen Versuche. Die vorgesehenen Maßnahmen indes - mehr Polizei, Einschränkung des Waffenverkaufs, Installation einer Million zusätzlicher Straßenlaternen - werden wohl nicht viel bringen.

Denn in Brasilien gibt es zwei Arten von Kriminalität. Die eine wird mehrheitlich von farbigen, jungen Brasilianern verübt, die auf diese Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten. Weil die Übergriffe zumeist außerordentlich brutal sind, werden die Täter von den Sicherheitskräften verfolgt. Die andere Art der brasilianischen Kriminalität wird offiziell geduldet, weil sie in der Regel von der gut situierten weißen Oberschicht verübt wird. In Rio de Janeiro, so plauderte vor kurzem ein bekanntes Partysternchen aus, bestellt sich der modebewusste Mensch die Prise Kokain telefonisch. Ein Kind oder auch eine Schwangere liefert daraufhin postwendend den Stoff wie der Kurier die Pizza.

Als im Juli 1993 eine Patrouille der Militärpolizei kaltblütig acht im Portal der Candelaria-Kirche von Rio de Janeiro schlafende Straßenkinder erschoss, löste die Tat weltweit Protest aus. Inzwischen sind die Proteste verstummt, und die "soziale Säuberung" durch Todesschwadrone zur gängigen Praxis geworden. Davon nehmen aber weder die brasilianischen Medien noch die Öffentlichkeit Notiz.

In der Julinacht 1993 hatten vor der Candelaria-Kirche insgesamt 72 Straßenkinder Zuflucht gesucht. 64 von ihnen überlebten das Blutbad. Doch seither sind von diesen 64 weitere 39 eines gewaltsamen Todes gestorben - sei es als Täter bei Überfällen, im Bandenkrieg oder als Opfer von Todesschwadronen. 25 sind noch am Leben; zehn von ihnen sitzen in Haft, zwei haben Aids, zwei sind Größen im Drogengeschäft geworden. Auch die anderen neun sind keine Kinder mehr, aber leben noch immer auf den Straßen, im Labyrinth der Gewalt von Rio. Genau genommen sind es nur noch acht: der neunte war jener Mulatte Sandro, den die Militärpolizei in der vergangenen Woche umbrachte.

"Zwischen 1979 und 1998 stieg die Zahl der Morde in Brasilien um 273 Prozent. " F. H. Cardoso


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