- 1 BvR 1301/86 -

 

Beschluß des Ersten Senats vom 15. Juni 1988

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Z. - Bevoll-

mächtigter: Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Philipp, Viktoriastraße 12, Mann-

heim - gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vorn 24. September 1986

 

- 8 RK 8/85 -

 

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

 

GRÜNDE:

 

A.

 

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Entscheidung

des Bundessozialgerichts, mit der die Revision der Beschwerdefüh-

rerin gegen das Urteil eines Sozialgerichts zurückgewiesen wurde.

Dieses hat die Klage der Beschwerdeführerin gegen ihre gesetzliche

Krankenversicherung auf Unterlassung der Finanzierung von

„rechtswidrigen“ Abtreibungen als unzulässige Popularklage abge-

wiesen.

 

I.

 

Das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Fe-

bruar 1975 (BVerfGE 39, 1 - Fristenregelung) verkündete Fünf-

zehnte Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I

S. 1213) hat §218a StGB neu gefaßt. Danach ist ein mit Einwilli-

gung der Schwangeren durch einen Arzt vorgenornmener Abbruch

der Schwangerschaft nicht nach §218 StGB strafbar, wenn nach

ärztlichen Erkenntnissen eine medizinische, eine eugenische, eine

ethische oder eine soziale Indikation vorliegt.

 

Durch § 1 Nr. 2 des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum

fünften Strafrechtsrefonngesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsge-

setz - StREG) vom 28. August 1975 (BGB1. I S. 2289) wurde in den

zweiten Abschnitt des Zweiten Buches der Reichsversicherungs-

ordnung ein neuer Unterabschnitt ,,IIIa. Sonstige Hilfen" einge-

fügt. Danach haben Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse

oder einer ihnen nach § 507 Abs. 4 RVO gleichgestellten Ersatzkas-

se bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft

Anspruch auf Krankenkassenleistungen. Für die Leistungsgewäh-

rung gelten grundsätzlich die für die Krankenhilfe maßgeblichen

Vorschriften. Im einzelnen lauten die Bestimmungen:

 

§ 200f RVO

 

Versicherte haben Anspruch auf Leistungen bei einer nicht rechtswid-

rigen Sterilisation und bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der

Schwangerschaft durch einen Arzt. Es werden ärztliche Beratung über

die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft, ärztliche Untersu-

chung und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für eine

nicht rechtswidrige Sterilisation oder für einen nicht rechtswidrigen

Schwangerschaftsabbruch, ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arz-

nei-, Verband- und Heilmitteln sowie Krankenhauspflege gewährt. An-

spruch auf Krankengeld besteht, wenn Versicherte wegen einer nicht

rechtswidrigen Sterilisation oder wegen eines nicht rechtswidrigen Ab-

bruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt arbeitsunfähig werden, es

sei denn, es besteht Anspruch nach § 182 Abs. 1 Nr. 2.

 

§ 200 g RVO

 

Die für die Krankenhilfe geltenden Vorschriften gelten für die Lei-

stungsgewährung nach den §§200e und 200f entsprechend, soweit

nichts Abweichendes bestimmt ist. …

 

Der in §200f Satz 1 RVO verwendete Begriff des „nicht rechts-

widrigen“ Abbruchs der Schwangerschaft wird von der im sozial-

rechtlichen Schrifttum herrschenden Auffassung mit der in §218a

Abs. 1 Satz 1 StGB gebrauchten Formulierung „nicht strafbar“

gleichgesetzt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,

Bd. I/2, S. 284 k, 285, 286; Peters, Handbuch der Krankenversiche-

rung, Teil II, Band 2, Anm. 4 zu §200f RVO; Schroeder-Printzen

in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Kommentar, 2. Aufl.,

Anm. 3 zu §200f RVO; Aye/Göbelsmann/Müller/Schieckel/

Schroeter, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 5 zu §200 f, S. 248).

Dem folgend gewähren die gesetzlichen Krankenkassen ihren Mit-

gliedern bei nach § 218 a StGB nicht strafbaren Schwangerschafts-

abbrüchen die nach den Vorschriften über die Krankenhilfe vorge-

sehenen Leistungen.

 

II.

 

1. Nach §54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage vor den Sozialge-

richten die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsan-

spruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungs-

akt nicht zu ergehen hatte.

 

Die Beschwerdeführerin erhob unter Berufung auf diese Vor-

schrift Klage beim Sozialgericht und beantragte:

 

1. die Beklagte zu verurteilen, solange sie Mitglied der Beklag-

ten ist, Leistungen nach §§ 200 f und 200 g RVO, § 17a Abs. 2

bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklagten an Versi-

cherte oder mitgeschützte Personen ausschließlich für solche

Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, die wegen nach-

weislichen Vorliegens der Indikation nach § 218 a Abs. 1 StGB

nicht rechtswidrig sind, und für jeden Fall der Zuwiderhand-

lung ein Ordnungsgeld anzudrohen, dessen Höhe in das Er-

messen des Gerichts gestellt wird,

 

2. hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,

solange die Klägerin Mitglied der Beklagten ist, für Schwan-

gerschaftsabbrüche Leistungen nach §§ 200f und 200g RVO, 4

§ 17 a Abs. 2 bis 4 der Versicherungsbedingungen der Beklag-

ten an Versicherte oder mitgeschützte Personen zu erbringen,

ohne daß sie

 

a) die Nichtrechtswidrigkeit,

 

b) hilfsweise die Nichtstrafbarkeit des Schwangerschaftsab-

bruches in angemessener Weise selbst überprüft hat, sowie für

jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld anzudro-

hen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.

 

Das Sozialgericht war anfänglich der Auffassung, die Klage sei

nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Das Begehren der Beschwerdefüh-

rerin sei nicht auf die abstrakte Feststellung der Ungültigkeit einer

Norm, sondern darauf gerichtet, die beklagte Krankenkasse zu

verpflichten, konkretes Verwaltungshandeln einzustellen.

 

Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem Bundesver-

fassungsgericht die Frage vor, ob die §§ 200 f, 200g RVO insoweit

mit Art. 2 Abs. 1, ferner mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3

Abs. 1 sowie mit Art.4 Abs. 1 GG vereinbar seien, als in diesen

Vorschriften Kassenleistungen für solche Schwangerschaftsabbrü-

che vorgeschrieben seien, die aus anderen Gründen als dem Vorlie-

gen einer lndikation nach § 218 a Abs. 1 StGB rechtmäßig seien.

 

Das Bundesverfassungsgericht sah die Vorlage als unzulässig an.

Grundsätzlich sei eine auf § 54 Abs. 5 SGG gestützte vorbeugende

Unterlassungsklage eines Mitglieds gegen seine gesetzliche Kran-

kenkasse statthaft. Die von der Beschwerdeführerin erhobene Kla-

ge sei jedoch als Popularklage unzulässig. §54 Abs. 5 SGG eröffne

nicht die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle. Hinsicht-

lich der Begründung der Entscheidung im einzelnen wird auf den

Beschluß des Ersten Senats vom 18.April 1984 - 1BvL 43/81 -

(BVerfGE 67, 26) verwiesen.

 

2. Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Klagebegehren weiter.

Das Sozialgericht wies die Klage ab. Sie sei unzulässig, weil es der

Beschwerdeführerin an der erforderlichen Klagebefugnis fehle.

 

Diese könne nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-

gerichts zur Klagebefugnis von Zwangsmitgliedern öffentlich-

rechtlicher Verbände begründet werden; denn diese Rechtspre-

chung lasse sich nicht auf Zwangsmitgliedschaften im Bereich des

Sozialversicherungsrechts übertragen. Bei der Erfüllung staatlicher

Aufgaben durch die Träger der Sozialversicherung gehe es nicht um

die Interessenvertretung bestimmter Bevölkerungsgruppen, son-

dern um die Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen. Mitglieder

des Zwangsverbandes hätten keinen Anspruch auf Leistungen an

einen Dritten. Entsprechend gebe es keinen Rechtsanspruch eines

Mitglieds darauf, daß die Leistung gegenüber einem Dritten einge-

stellt werde. Die Kontrolle über die Mittelverwendung obliege den

Selbstverwaltungsorganen und den Aufsichtsbehörden.

 

Das Bundessozialgericht hat die Sprungrevision der Beschwerde-

führerin zurückgewiesen. Auch für die reine Leistungsklage nach

§54 Abs.5 SGG sei ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Die

Beschwerdeführerin sei durch die beanstandeten Leistungen der

Beklagten nicht in ihren eigenen Rechten verletzt, weil diese sich

nicht unmittelbar gegen ihren Rechtskreis richteten.

 

Auf Art. 2 Abs. 1 GG könne die Beschwerdeführerin ihr Verlan-

gen auf Einstellung der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Verwal-

tungspraxis der Beklagten nicht stützen. Wollte man jedem Mit-

glied wegen seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft

das Recht zugestehen, von ihm mißbilligte Leistungen an andere

Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer

gesetzlich nicht vorgesehenen abstrakten Rechtskontrolle führen.

 

III.

 

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des

Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin rügt Verletzung

von Art. 2 Abs. 1, von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1,

von Art.4 Abs. 1 und Art. 19 Abs.4 GG durch die angegriffene

Entscheidung, wobei sie nur Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 und

Art. 19 Abs. 4 GG macht und im übrigen auf den gesamten bisheri-

gen Vortrag, insbesondere auf die Revisionsbegründung nebst

nachfolgenden Schriftsätzen an das Bundessozialgericht verweist.

 

Sie trägt vor:

 

Während des ganzen Verfahrens habe sie die Auffassung vertre-

ten, daß §§ 200 f, 200 g RVO mit der Verfassung vereinbar seien, die

Beklagte diese Bestimmungen jedoch durch gesetzesüberschreiten-

des und rechtswidriges Verwaltungshandeln mißachte und sie da-

durch in ihren Rechten als Zwangsmitglied verletze. Nur hilfsweise

habe sie sich auf die Verfassungswidrigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO

berufen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom

18. April 1984 (BVerfGE 67, 27) beziehe sich daher nicht auf ihren

Antrag, die Beklagte des Ausgangsverfahrens möge sich auf die

Wahrnehmung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben be-

schränken.

 

Sie habe ausschließlich vorgetragen und nachgewiesen, daß die

Beklagte das Tatbestandsmerkmal „nicht rechtswidrig“ in zehntau-

senden von Fällen vernachlässigt und auch mit ihren Beiträgen

rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche finanziert habe. Das

Bundessozialgericht habe ihren Anspruch nicht berücksichtigt, daß

die Beklagte nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen

dürfe. Dies habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-

dung als selbstverständlich vorausgesetzt. Gegenstand der Verfas-

sungsbeschwerde sei mithin keine Normenkontrolle, sondern die

Frage, ob ihr als Mitglied einer Zwangskörperschaft gegen allgemei-

nes gesetzwidriges Verwaltungshandeln des Vorstands der Rechts-

weg offenstehe, weil sie behaupte, in ihren eigenen Rechten ver-

letzt zu sein. Diese Rechtsfrage sei im übrigen weit über den Bereich

der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus von grundsätzlicher

verfassungsrechtlicher Bedeutung.

 

Die Krankenkassen seien unter Erweiterung ihres Arbeitsgebiets

zu „Abtreibungskassen“ geworden. Diese Ausdehnung des Aufga-

benbereichs einer Zwangskörperschaft stehe im Verhältnis zu den

Pflichtrnitgliedern einer Neugründung gleich. Für das Bundesver-

fassungsgericht sei nie zweifelhaft gewesen, daß der Bürger unter

Berufung auf Art.2 Abs. 1 GG seine Inpflichtnahrne durch eine

neue oder erweiterte Zwangskörperschaft mit Beitragsverpflich-

tung nachprüfen lassen könne. Aus der bisherigen Rechtsprechung

des Bundesverfassungsgerichts sei nicht zu schließen, daß der

Bürger sich selbst dann nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen könne,

wenn die Ausweitung der Tätigkeit des Zwangsverbandes nicht

vom Gesetzgeber angeordnet worden sei. Sie habe daher nach

Art. 2 Abs. 1 GG das Recht, eine Nachprüfung des Verwaltungs-

handelns der Beklagten zu verlangen, sonst müßten sich die Mit-

glieder einer Zwangskörperschaft über ihre Beitragsleistungen an

rechtswidrigen oder sogar kriminellen Handlungen beteiligen, oh-

ne daß ihnen ein gerichtliches Verfahren zur Nachprüfung solcher

Übergriffe eröffnet sei. Das beitragszahlende Mitglied einer

Zwangskörperschaft stehe zu dieser in einem wesentlich engeren

Verhältnis als der Steuerzahler zum Staat, da die Zusammenfas-

sung von Bürgern zu einer Zwangskörperschaft nach ständiger

Rechtsprechung jeweils gesonderter und nachprüfbarer Legitima-

tion bedürfe.

 

Danach sei die Frage, ob sie durch die beanstandeten Leistun-

gen der Beklagten „in ihren eigenen Rechten“ verletzt sei, bei

der Begründetheit der Klage zu überprüfen. Das Bundessozialge-

richt verkenne, wie tief die Beschwerdeführerin sich durch die

Inanspruchnahme ihrer Person für Tötungshandlungen in ihren

Rechten betroffen fühle. Wenn es aus dem Hinweis des Bundes-

verfassungsgerichts, §54 Abs. 5 SGG eröffne nicht die Möglich-

keit einer abstrakten Normenkontrolle, folgere, das einzelne Mit-

glied habe keine Möglichkeit, die rechtswidrige Ausgabenver-

wendung im Klagewege zu verhindern, stelle es die Fälle einer

zwar gesetzmäßigen, aber verfassungswidrigen Mittelverwen-

dung einerseits und einer schlechthin gesetzwidrigen Mittelver-

wendung durch den eigenmächtig handelnden Vorstand anderer-

seits gleich. Es sei unverständlich, wenn das Bundessozialgericht

feststelle, die Beschwerdeführerin habe nicht berücksichtigt, daß

das Bundesverwaltungsgericht Mitgliedern öffentlich-rechtlicher

Zwangsverbände ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung

,,nicht legitimer Aufgaben" eingeräumt habe; gerade dies habe

sie vorgetragen. Offenbar sei das Bundessozialgericht der Auffas-

sung, die allgemein für Zwangskörperschaften bestehenden

Grundsätze sollten für Krankenkassen nicht gelten; eine solche

Differenzierung zwischen verschiedenen Zwangskörperschaften

sei jedoch sachlich nicht vertretbar.

 

Es gehe ihr nicht um einzelne Fehlentscheidungen, sondern um

die prinzipielle, eigenmächtige Erweiterung des Tätigkeitsbereichs

der Zwangskörperschaft durch Nichtbeachtung oder Falschausle-

gung von Rechtsvorschriften, welche in die Rechtssphäre der Mit-

glieder eingreife. Die erforderliche Abgrenzung dieser Fallgestal-

tungen habe das Bundessozialgericht nicht vorgenommen und den

klaren Vortrag der Beschwerdeführerin überhaupt nicht gewürdigt.

Der Hinweis des Gerichts, daß die Rechtskontrolle über eine rechts-

widrige Ausgabenverwendung allein den Selbstverwaltungsorga-

nen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger obliege, sei

eine bloße Leerformel. In Wirklichkeit finde im Bereich des Lebens-

schutzes überhaupt keine Überwachung der Krankenkassen mehr

statt. Dies ergebe sich aus einem Schreiben des Bundesministers für

Arbeit und Sozialordnung, wonach dieser keine Befugnis habe,

Krankenkassen in dem von der Beschwerdeführerin gewünschten

Sinne anzuweisen. Im übrigen lehne die Bundesregierung generell

jede Überprüfung der gegenwärtigen Rechtspraxis der Kran-

kenkassen ab, wie sich aus der Beantwortung einer entsprechenden

parlamentarischen Anfrage ergebe.

 

Durch die Revisionsentscheidung des Bundessozialgerichts wer-

de ihr schließlich der Rechtsweg in verfassungswidriger Weise ab-

geschnitten (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG).

 

B.

 

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit unzulässig, als die Ver-

letzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und von

Art. 4 Abs. 1 GG gerügt wird. Nimmt die Verfassungsbeschwerde-

schrift auf Ausführungen in der Revisionsbegründung und anderen

Schriftsätzen Bezug, ist den Formerfordernissen des § 92 BverfGG

nur genügt, wenn die Schriftsätze der Verfassungsbeschwerde als

Anlagen beigefügt werden (vgl. BVerfGE 47, 182 [187]). Das ist

hier nicht geschehen.

 

Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

 

I.

 

1. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt

wie denen anderer Gerichte Rechtskraftwirkung zu. Dabei bezieht

sich die materielle Rechtskraft allein auf die Entscheidungsformel,

nicht aber auf die in den Entscheidungsgründen enthaltenen Urteils-

elemente, wenngleich die Entscheidungsgründe zur Ermittlung des

Sinnes der Entscheidungsformel herangezogen werden können. Sie

bindet in einem späteren Verfahren das Gericht nur dann, wenn es

sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien

handelt (vgl. BVerfGE 4, 31 [38f.]).

 

Danach entfaltet der Beschluß vom 18. April 1984 (BVerfGE 67,

26) keine Rechtskraftwirkung im Hinblick auf die vorliegende Ver-

fassungsbeschwerde; denn der Streitgegenstand des Vorlageverfah-

rens ist nicht identisch mit dem Streitgegenstand der vorliegenden

Verfassungsbeschwerde. Das Vorlageverfahren betraf die Verfas-

sungsmäßigkeit der §§ 200 f, 200 g RVO; Streitgegenstand des Ver-

fassungsbeschwerdeverfahrens ist hingegen die behauptete Grund-

rechtsverletzung der Beschwerdeführerin durch das angegriffene

Urteil des Bundessozialgerichts. Die Beschwerdeführerin war auch

nicht „Beteiligte“ des Vorlageverfahrens. Im Verfahren der konkre-

ten Normenkontrolle haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens

zwar das Recht, sich zu äußern (§ 82 Abs. 3 BVerfGG); sie werden

dadurch aber nicht im engeren Sinne Beteiligte dieses Verfahrens

(vgl. BVerfGE. 42, 90 [91]; Ulsamer in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/

Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 82 Rdnr. 17 m. w. N.),

 

2. Eine Bindungswirkung nach §31 Abs. 1 BVerfGG kommt-

abgesehen davon, daß diese nicht für das Bundesverfassungsgericht

selbst besteht (vgl. BVerfGE 4, 31 [38 f.]; 20, 56 [87]) - schon deshalb

nicht in Betracht, weil der die Vorlage verwerfende Beschluß keine

Sach-, sondern lediglich eine Prozeßentscheidung darstellt (vgl.

Maunz in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, a.a.O., §31,

Rdnr. 18). Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht auf die zu

lnzidentfragen entwickelten Rechtsansichten, die das Bundesverfas-

sungsgericht zur Abweisung eines Antrages aus prozessualen Grün-

den bestimmt haben.

 

II.

 

§ 92 BVerfGG verlangt, daß in der Begründung der Beschwerde

das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlas-

sung des Organs oder der Behörde, durch die die Beschwerdeführe-

rin sich verletzt fühlt, bezeichnet werden. Zur Zulässigkeit einer

Verfassungsbeschwerde ist es danach erforderlich, daß sich aus dem

Vortrag der Beschwerdeführerin mit hinreichender Deutlichkeit

die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt (Vgl. BverfGE

65, 227 [232 f.]).

 

Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, das Urteil des Bundesso-

zialgerichts, mit dem die Entscheidung des Sozialgerichts über die

Unzulässigkeit ihrer Klage bestätigt wurde, verletze sie in ihren

Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG, weil sie als

Zwangsmitglied der Beklagten einen Anspruch auf gesetzmäßige

Verwendung ihrer Beiträge habe, für den ihr der Klageweg eröffnet

werden müsse. Damit ist den Anforderungen des §92 BverfGG

genügt.

 

C.

 

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde-

führerin hat keinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 1 oder Art. 19 Abs. 4

GG, daß ihr Klagebegehren durch die Gerichte der Sozialgerichts-

barkeit materiell beschieden wird.

 

I.

 

Die Frage der verfassungsrechtlichen Schranken einer Zwangs-

rnitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband hat das Bun-

desverfassungsgericht am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG geprüft

und entschieden, daß eine solche Zwangsmitgliedschaft nur im

Rahmen der verfassungsmäßigen Crdnung möglich ist. Danach darf

der Staat öffentlich-rechtliche Verbände nur schaffen, um legitime

öffentliche Aufgaben wahrnehmen zu lassen (vgl. BVerfGE 10, 89

[102]; 10, 354 [363]; 38, 281 [299]). Diese Rechtsprechung bezieht

sich ausschließlich auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen

für die Errichtung von öffentlichen Verbänden mit Zwangsmitglied-

schaft und betrifft nicht die Einwirkungsmöglichkeit des Mitglieds

eines verfassungsmäßig errichteten Zwangsverbandes auf die Si-

cherung der legitimen Aufgabenerfüllung.

 

Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang gel-

tend, daß die Krankenkassen nach Einführung der §§200f, 200g

RVO ihr Arbeitsgebiet in einer Weise erweitert hätten, die einer

Neugründung gleichkomme. Mit dieser Argumentation will sie aus

der oben angegebenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-

richts ableiten, daß das Sozialgericht über den gesetzlichen Umfang

der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen bei Schwanger-

schaftsabbrüchen zu entscheiden hat. Dem kann nicht gefolgt wer-

den. Durch die Übertragung zusätzlicher Aufgabenbereiche auf

einen Zwangsverband wird die Verfassungsmäßigkeit seiner Er-

richtung und seines Bestandes nicht berührt, wenn es - wie hier -

bei der Erfüllung der ursprünglichen, verfassungsrechtlich unbe-

denklichen Aufgaben verbleibt und die neuen Aufgaben den Cha-

rakter des Zwangsverbands nicht wesentlich verändern.

 

II.

 

Allerdings können die Mitglieder öffentlich-rechtlicher Zwangs-

Verbände nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

von dem Verband die Einhaltung derjenigen Grenzen verlangen,

die seiner Tätigkeit durch die gesetzlich festgelegte Aufgabenstel-

lung gezogen sind. Das ergebe sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 1

GG, der dem einzelnen Mitglied ein Abwehrrecht gegen solche

Eingriffe des Verbandes einräume, die sich nicht im Wirkungskreis

legitimer öffentlicher Aufgaben hielten oder bei deren Wahrneh-

mung nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprochen werde

(vgl. BVerwGE 59, 231).

 

Diese unter anderem für die Tätigkeit der verfaßten Studenten-

schaft entwickelte Rechtsprechung kann aber nicht ohne weiteres

auf alle anderen öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände übertra-

gen werden. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verbürgung

einer solchen Klagemöglichkeit des Mitglieds gegen den Zwangs

verband läßt sich nicht einheitlich beantworten. Wenn die Tätigkeit

des Verbandes über die Beitragspflicht hinaus in eigene Grundrech-

te des Mitglieds eingreift, liegt es nahe, eine solche Klagemöglich-

keit von Verfassungs wegen anzunehmen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Im vorliegenden Falle wird die Beschwerdeführerin dagegen ver-

fassungsrechtlich nur in ihrem Vermögen als Beitragspflichtige be-

troffen. Aus den Grundrechten folgt kein Anspruch auf generelle

Unterlassung einer bestimmten Verwendung öffentlicher Mittel

(vgl. BVerfGE 67, 26 [37]).

 

III.

 

Da sich eine Klagebefugnis der Beschwerdeführerin nicht aus der

Verfassung ergibt, ist hier die Auslegung und Anwendung des § 54

Abs. 5 SGG allein Sache der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und

ist der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen.

 

(gez.) Herzog Niemeyer Henschel

Seidl Grimm Söllner

Dieterich