Bundessozialgericht

Az. 1 RA 63/70

Verkündet
am 11 November
1971,
Amtsinspektor
als Urk. Beamter
d. Gesch.Stelle

Im Namen des Volkes

Urteil
in dem Rechtsstreit
Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte;

gegen

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin 54,

Ruhrstraße 2,

Beklagte und Revisionsbeklagteo

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die
mündliche Verhandlung vom 11 November 1971 durch

Präsident Prof. Dr. W.
- Vorsitzender -,
Bundesrichter Dr. S. ,
Bundesrichter S. ,
Bundessozialrichter M. und
Bundessozialrichter B.

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen vom 42 Dezember
1969 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

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Gründe

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der
Angestelltenversicherung. Die Beklagte lehnte seine "form-
losen Anträge" vom 15. November und 17. November 1965 durch
Bescheid vom 18. April 4967 ab, weil der Kläger es trotz
mehrfacher Aufforderung unterlassen habe, die für die
Rentengewährung erforderlichen Antragsvordrucke auszu-
füllen und einzureicheno Das Sozialgericht (SG) Braun-
schweig hat durch Urteil vom 15. Januar 1968 die gegen den
Bescheid gerichtete Klage abgewiesen.

Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger unter Ver-
wendung eines Antragsvordrucks der Bundesversicherungsan-
stalt für Angestellte (BfA) am 48. Oktober 1968 Rente be-
antragte Die Beklagte hat auch diesen Antrag durch Bescheid
vom 1. Oktober 1969 angelehnt, weil die für die Rentenge-
währung erforderlichen Voraussetzungen nicht hätten geklärt
werden können.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Ur-
teil vom 12. Dezember 1969 die Berufung des Klägers zurück-
gewiesen und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten
vom 1. Oktober 1969 abgewiesen. Es hat die Revision nicht
zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegte
Er rügt vor allem Verletzung des § 103 des Sozialgerichts-
gesetzes (SGG) im Verfahren des LSG. Er beantragt, ihm
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Ver-
säumung der Revisionsfrist und Revisionsbegründungsfrist
zu gewähren, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des
SG Braunschweig vom 15. Januar 1968 und die Bescheide der

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Beklagten vom 18. April 1967 und vom 10. Oktober
1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, das ange-
fochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu ver-
werfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und insofern begründet,
als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das
LSG zurückzuverweisen is.

Dem Kläger ist auf seinen Antrag gemäß § 67 iVm §§ 165, 153
SGG gegen die Versäumung der Revisionseinlegungs- und Revisione-
begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu ge-
währen, nachdem er innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts die Revision
eingelegt und begründet hat.

Obgleich das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1
SGG zugelassen hat, ist Sie nach § 162 Abs. 4 Nr. 2 SGG statt-
haft, weil die Revision ordnungsgemäß als wesentlichen Mangel
im Verfahren des Berufungsgerichts Verletzung des § 103 SGG
rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150).

In den Gründen seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht
ausgeführt, nach § 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes
(AVG) iVm § 1613 Abs. 5 Satz 1 der Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) habe die Beklagte den Sachverhalt aufzuklären.
Das bedinge aber eine Mitwirkung des Antragstellers, wie sich
aus § 1613 Abs. 1 Satz 2 RVO ergebe, Da der Kläger sich

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beharrlich weigere, an dieser notwendigen Aufklärung des Sache
verhalts mitzuwirken, indem er zunächst kein Antragsformular
eingesandt und später eine Untersuchung verweigert habe, habe
die Beklagte mit Recht den Rentenantrag abgelehnt, weil sie
nicht in der Lage gewesen sei, den Sachverhalt aufzuklären.
Zur Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Klägers
sei die Einholung eines ärztlichen Gutachtens über seinen
Gesundheitszustand unerläßlich gewesene Die im Versorgungs-
verfahren vorgenommenen Untersuchungen seien für die Frage der
Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit im Rentenverfahren nicht
zugrunde zu legen, da hier andere Gesichtspunkte Geltung
hätten. Alle von dem Kläger im Laufe des Verfahrens gemachten
Ausführungen lägen neben der Sache und hätten mit der recht-
lichen Beurteilung des hier zu entscheidenden Falles, nämlich
ob die Beklagte mit Recht den Antrag auf Rente abgelehnt habe
oder nicht, nichts zu tun.

Das LSG hat damit seiner Pflicht nicht genügt, gemäß § 105 SGG
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.

Dem LSG lagen die Versicherunkarten des Klägers vor, Sie
reichten - wie der Tatbestand des angefochtenen Urteils auch
zeigt - aus, das Versicherungsleben des Klägers und die Tätig-
keiten festzustellen und zu beurteilen, in denen er versiche-
rungspflichtig beschäftigt gewesen ist,

ln der Regel ist der Versicherte verpflichtet, bei der Beweis-
erhebung über seine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sich von
dem ihm bezeichneten Arzt untersuchen zu lassen, soweit die
vorgesehenen Untersuchungen zumutbar sind, Er braucht sich
schon einer solchen Untersuchung nicht zu unterziehen, wenn
er sich für seine Weigerung auf einen triftigen Grund berufen
kann (vgl. hierzu BSG 20, 166, 168). Hierzu sind in dem an-
gefochtenen Urteil keine Feststellungen getroffen.


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Verweigert der Versicherte die ärztliche Untersuchung ohne be-
rechtigten Grund, so darf ohne die für erforderlich gehaltene
Untersuchung nach Lage der im übrigen ausreichend geklärten
Akten nur entschieden werden, wenn er nachweislich die Auf-
forderung zur Untersuchung erhalten hat und ihm die Folgen
einer unbegründeten Weigerung angedroht sind. Es ist jedoch
nicht zulässig, allein wegen der Weigerung des Versicherten,
sich untersuchen zu lassen, in jedem Falle von vornherein auf
jede Beweiserhebung zu verzichten und auch den Versuch zu unter-
lassen, ein Gutachten nach Lage der bereits vorhandenen ärzt-
lichen Untersuchungsbefunde und Gutachten zu erstellen, deren
Beiziehung möglich gewesen wäre, oder ohne die behandelnden
Ärzte des Versicherten bzw. die von ihm selbst angegebenen
Ärzte anzuhören (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversiche-
rung, Bde III so 672 sowie Bd; II so 244 k VII). Das Bundes-
sozialgericht (BSG) hat bereits ausgesprochen, daß das Gericht
seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, wenn es, ohne
festzustellen, ob es für die Erstattung eines weiteren Gut-
achtens einer erneuten Untersuchung des Beschädigten bedarf,
allein wegen der Weigerung des Beschädigten, sich erneut unter-
suchen zu lassen, von der Einholung eines Gutachtens über medi-
zinische Fragen absieht (BSG in SozR Nr. 43 zu § 103 SGG).'

In dem vorliegenden Fall hat der Kläger seinem Schreiben vom
29. Dezember 1966 an die BfA eine auszugsweise Abschrift des
Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) Braunschweig vom
13. Dezember 1966 über die von diesem anerkannten Schädi-
gungsfolgen beigefügte Das LSG hätte ohne Beiziehung der
Akten des VersorgA die Sachaufklärung nicht als erschöpft an-
sehen dürfen. Das LSG hätte prüfen müssen, ob sich die Er-
werbsunfähigkeit des Klägers aus den ärztlichen Befunden und
Beurteilungen ergeben konnte, die sich in den Strafakten und
in den Akten des VersorgA befinden, worauf der Kläger sich
berufen hat (Bl 2 und 8 LSG-Akten).

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Schließlich hat sich der Kläger zum Beweis für seine Erwerbs-
unfähigkeit — so müssen seine Ausführungen in seiner Klage-
schrift (Bl 5 und 8 LSG-Akten) aufgefaßt werden — auf die
Stellungsnahmen der Ärzte Dr. K und Dr. G II,
beide in Goslar, bezogene Er hat sich bereit erklärt,
Dr. G II von der ärztlichen Schweigepflicht zu ent-
binden. Er hat des weiteren ärztliche Bescheinigungen des
Dr. Guischard (Lungenfacharzt) vom 24. Januar 1967 und des
Dr. K (praktischer Arzt) vom 21. Januar 1967 in Abschrift
vorgelegt (Bl 22 LSG-Akten). In seinem Schriftsatz vom
4. Januar 1968 hat er nochmals erklärt, daß das LSG von

Dr. G II ein Gutachten erhalten könne, wenn ein ent-
sprechender Auftrag erteilt werde (Bl 54 LSG-Akten).

Es ist nicht auszuschließen, daß anhand der in den Akten des
VersorgA und in den Strafakten vorhandenen ärztlichen Befunde
und Gutachten Rückschlüsse zur Feststellung der Erwerbsun-
fähigkeit des Klägers gezogen werden können. Es ist des
weiteren möglich, daß die vom Kläger angegebenen Ärzte für die
Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit ausreichende Beweise hätten
vorbringen können. Das LSG hätte im Rahmen seiner Pflicht,
den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, diese möglichen
Beweise erheben müssen. Der gerügte Mangel einer Verletzung
des § 103 SGG liegt mithin im Verfahren des LSG vor.

Da die Revision schon aus diesem Grunde gemäß § 162 Abs. 1
Nr. 2 SGG statthaft ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung,
ob auch die weiteren, von der Revision vorgebrachten Ver-
fahrensrügen durchgreifen.

Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet, da nicht
auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis ge-
langt wäre, wenn es gesetzmäßig verfahren wären Das ange-
fochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Dem Berufungsgericht
muß zunächst Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Er-

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mittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts durchzuführen.
Hierfür muß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zu-
rückverwiesen werden.

Bei seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung wird des
LSG auch über die Erstattung von außergerichtlichen Kosten
des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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