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WZ Mittwoch 23.01.2013 , Weltweit , 27 , Westdeutsche Zeitung

Streitpunkt Zwangsbehandlung

PSYCHIATRIE Kranke dürfen derzeit nicht gegen ihren Willen mit Medikamenten behandelt werden. Ärzte sehen ein erhebliches Problem.

Von Tim Attenberger

Düsseldorf. Psychiater dürfen ihre Patienten derzeit nicht mehr gegen ihren Willen mit Medikamenten behandeln. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juni entschieden, dass die jeweiligen Ländergesetze in dieser Hinsicht nicht als verfassungskonform anzusehen sind. Zudem widersprechen sie der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), die Deutschland ratifiziert hat. Darin wurde festgestellt, dass kein Mensch wegen seiner Behinderung einem Zwang unterworfen werden darf. Psychische Erkrankungen werden von den im Kontaktgespräch zusammengeschlossenen Patientenverbänden als seelische Behinderungen aufgefasst.

Fachleute fordern dringend eine gesetzliche Neuregelung
Da bislang keine gesetzliche Neuregelung existiert, ergeben sich für Patienten und Ärzte aktuell erhebliche Probleme im Behandlungsalltag. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) fordert den Gesetzgeber auf, dringend eine Neuregelung zu verabschieden.

Die DGPPN pflichtet der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zwar bei, verweist aber darauf, dass die Anwendung von Zwang als letztes Mittel nicht nur „gerechtfertigt, sondern unter medizinisch-ethischen Gesichtspunkten sogar geboten" sei, wenn krankheitsbedingt eine bedrohliche Selbst- oder Fremdgefährdung entsteht. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Patient versucht, sich das Leben zu nehmen oder einen anderen Menschen angreift und verletzt.

„Die jetzige Situation ist extrem unbefriedigend."
Leonore Julius , Geschäftsführerin eines Angehörigen-Verbandes

Da derzeit keine Zwangsbehandlung stattfinden darf, müssen laut DGPPN-Präsident Peter Falkai einige Patienten stattdessen in Kliniken isoliert und fixiert werden. Eine Besserung könne nicht eintreten, weil die Ärzte auf eine „gut bewährte medikamentöse Therapie" verzichten müssten. Anderseits würden viele Menschen mit schweren Erkrankungen gleich ganz zu Hause bleiben, weil ihre Betreuer einen Klinikaufenthalt aufgrund der nicht erfolgten Behandlung ablehnen.

Der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BAPK) sieht das ganz ähnlich. „Die jetzige Situation ist extrem unbefriedigend", sagt Geschäftsführerin Leonore Julius. Auch sie hält Zwang als letztes Mittel für legitim: „Mir sind ehemalige Patienten bekannt, die später eingesehen haben, dass eine Zwangsbehandlung aufgrund ihrer Erkrankung nicht vermeidbar war."

Das Bundesjustizministerium hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nachdem die Zwangsbehandlung wieder verfassungskonform werden soll. Im Unterschied zu vorher sollen die Hürden nun deutlich höher liegen. Die Ärzte müssen demnach künftig sicherstellen, dass sie zunächst alle anderen Maßnahmen ergriffen haben, so dass der Zwang erst als letztes Mittel ergriffen wird. Zudem würde die Zwangsbehandlung zusätzlich einer richterlichen Genehmigung bedürfen.

Der BAPK begrüßt dieses Vorhaben. „Uns ist wichtig, dass alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, bevor eine Zwangsbehandlung erfolgt", sagt Julius. Dennoch müsse jedem klar sein, dass es sich um einen immensen Eingriff und eine große Belastung für den Patienten handelt. Julius: „Bislang kam es auch immer wieder vor, dass Menschen zwangsweise behandelt wurden, obwohl die Ärzte nicht alles versucht hatten, um das zu vermeiden."

Der Bundesverband Psychiatrisch-Erfahrener (BPE) lehnt die Zwangsbehandlung dagegen generell ab und will diese aus der Psychiatrie komplett verbannen. Als äußerstes Mittel zur Gefahrenabwendung reiche das Einsperren während der akuten Phase, erklärt Vorstandsmitglied Doris Steenken. Das Verfahren dürfe „nicht durch ein neues Gesetz wieder legalisiert" werden.

PSYCHIATRIE IN NRW

KLINIKEN in Nordrhein-Westfalen gibt es nach Angaben des Landesgesundheitsministeriums derzeit 118 Krankenhäuser mit Abteilungen zur psychiatrischen Behandlung. Darin enthalten sind die Abteilungen für Kinder und Jugendliche.

PATIENTEN Die letzten verfügbaren Zahlen stammen laut Ministerium von 2010. Damals wurden rund 242 000 Patienten in Kliniken aufgenommen. Zum Vergleich: 2009 waren es rund 237 000.

Auch in Krisenzeiten dürfen psychisch Kranken nicht unter Zwang Medikamente verabreicht werden. Foto: Imago