Meditationen über den alltäglichen Filmriss
von Sebastian Noelle

1. Mindestens einmal täglich, mit etwas Aufmerksamkeit, sehen wir uns in einer Situation, in der der graue Himmel über oder die grüne Hölle unter unseren Gedanken aufreisst, und wir eine Ahnung bekommen, daß da noch etwas ist, was wir nicht wissen können. Für einen Moment fallen wir aus unserer Welt und hängen in der dünnen Luft zwischen froher Hoffnung und blankem Entsetzen.

2. Jeder Tag hat Momente, in denen der Film, den wir täglich abspulen, zu reissen droht. Der Filmriss kündigt sich an mit dem Verschwimmen unserer Konturen. Wir fangen an, das wirre Zeug, das wir mit Überzeugung zu reden gewohnt waren, selbst nicht mehr zu verstehen.

3. Der feine Film, der unseren allmächtigen Gott vor Verletzungen schützt, bekommt täglich neue Risse.

4. Der Filmriss ist die Chance, einen neuen Film einzulegen, oder, noch besser: Jeder Filmriss kann die Chance sein, keinen neuen Film mehr einzulegen.

5. Filmrisse sind Grenzerfahrungen, Momente, in denen etwas aus nichts entsteht oder in denen das Nichts das Seiende verschlingt. Filmrisse sind der Tod, die Geburt, die grundlose Langeweile, das vierte Bier oder das Lächeln der fremden Frau in der vertrauten Kneipe am Tisch gegenüber.

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