Sebastian Noelle
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Astoria, NY 11105
- U.S.A -

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ABSCHLUSSBERICHT
(September 2001-Mai 200)


Sebastian Noelle, Graduate Diploma, Jazz Gitarre
New England Conservatory, Boston

 

 

I N H A L T

 

0. "September Song"


1. "Reflections"


2. Unterricht

a) Einzelunterricht bei Bob Moses, Jerry Bergonzi und Bob Brookmeyer
b) "Ragas and Talas" mit Peter Row
c) "Microtonal Composition and Improvisation" mit Joe Maneri
d) "Jazz Ear Training" mit George Garzone
e) "Arnold Schönberg and Igor Stravinsky" mit John Heiss
f) "Composition for Non-Composition Majors" (klassisch) mit Michael Gandolfi
g) Graduation

3. "The Future's not ours to see ..."


Anhang: Musiker und Lehrer, Bücher und Filme, die mich während meinen zwei Boston-Jahren beeindruckt und beeinflusst haben

 

 

0. "September Song" (Kurt Weill)

(Dies ist eine email, die ich unter dem Titel "Musik - Sprache der Sprachlosigkeit zwischen Tag, Traum und Tod" am 18.September 2001 an Freunde versandt hatte)

"Hallo!

Einen lieben Gruss aus Boston an Euch alle! Vielen Dank an diejenigen, die sich nach den ersten Schreckenstagen nach meinem Wohlbefinden erkundigt haben. Mir geht's soweit gut. Die Schule scheint wieder im Rhythmus (wenn auch nicht in der Harmonie) zu sein. Ein beklemmendes Gefühl bleibt jedoch. "WAR". Ein unfassbares Wort.
Flugzeuge, niedrig über die Innenstadt hinwegfliegend, bekommen eine neue Bedeutung. Der Blick aus unserem Badezimmer auf das Prudential- und Hancock-Building lässt neuerdings sonderbare Gefühle aufkommen.
Es ist wieder mal in Mode, Flagge zu zeigen. Ob Regierungsgebäude, Hotel oder Privatperson, stars and stripes auf Autos, T-shirts, an Strassenlaternen.

Am 11.September schaltete ich um 10 Uhr morgens den Fernseher ein und konnte für Stunden meinen Augen nicht trauen: Ich sah die Live-Übertragung des Einsturzes des WTC. Nach dem ich wieder denken konnte, waren die ersten Gedanken folgende: Welche Szene fand in den Flugzeugen Minuten vor dem Aufprall statt? Wie sah es in den Köpfen der Entführer aus? Sind sie in den Tod geflogen, um von einigen wenigen irgendwo als Helden verehrt zu werden? Glaubten sie an ein (besseres) Leben nach dem Tod?
Die derzeitige Diskussion um die Sicherheit hierzulande geht meiner Meinung nach am Kernpunkt vorbei. Sicherheit gegen solcherart Anschläge gibt es nicht. Wer verletzen will, findet immer einen Weg. Das destruktive Moment im Menschen ist erfahrungsgemäss stärker als das konservative. Einen interessanten Gedanken äusserte einer meiner Mitstudenten: Die Dekadenz der "herrschenden Kultur" führt gerade durch den Lebenserhaltunstrieb zu ihrer Vernichtung. Die Unterdrückten sind scheinbar bereit, ihre blossen Körper als Torperdos zu gebrauchen. Wir jedoch wollen leben, überleben. Er wollte jedoch nicht soweit gehen wie Carl Schmitt, der behauptet, dass die Natur Kriege zum Kultur- und Wertewandel (nicht dass er sinnvoll wäre) benötigt.

Unter meinen amerikanischen Mitstudenten habe ich überraschend viele der Regierung gegenüber kritisch eingestellte gesprochen. Viele glauben nicht an die Wirkung eines militärischen Gegenschlags.
Wie involviert Boston ist wird mir immer bewusst, wenn ich hier Leute treffe, die Bekannte verloren haben. Dann denke ich mir immer: Wie wenig habe ich doch das Recht, "meine objektive Meinung" ihnen gegebüber abzugeben. Es ist verständlich, vielleicht sogar nötig, dass Frustration und Hass einen Ausdruck finden.

Ich persönlich hatte eine heilende Erfahrung am Donnerstag, mit meinem Lehrer Bob Moses. Wir erfüllten die Stunde mit dem, was er "playing from zero" nennt. Wie dankbar bin ich, dass ich die Musik habe, um die wortlose Seite meiner Gefühle zum Ausdruck bringen zu können.

Liebe Grüsse,

Sebastian"

 

1. "Reflections" ("Thelonious Monk Trio" veröffentlicht 1954 auf Prestige)

The United States of America. Graduate Diploma. Gitarre. Zwei Jahre Jazz. Und nach dem Erhalt der "practical training" genannten, auf ein Jahr befristeten, Arbeitserlaubnis (jedoch nur für musikalische Jobs), muss ich wohl sagen: die ersten zwei. Mein Vater prophezeihte mir heute beim Abendessen prompt, dass ich jetzt dort bleiben würde, worauf ich heftig widersprach. Was sind die Gründe für meinen Widerspruch und was sind die Gründe für meinen dem Widerspruch widersprüchlich ungebrochenen Amerithusiasmus?

"Going Ahead" (Pat Metheny, auf dem Album "Travels", veröffentlicht 1981 auf ECM)

Was tue ich eigentlich hier? Fernab der Heimat? Diese Frage beantwortet sich von selbst bei der Reise in die Heimat und seltsamerweise ist die Antwort identisch mit der Frage.
Was tue ich eigentlich HIER? Zurück? Nein, vorwärts!

"New York is Now!" (Albumtitel, Ornette Coleman, veröffentlicht 1961 auf RCA)

Mir wird klar, dass ich dankbar sein sollte für die Natürlichkeit meiner musikalischen Entwicklung. Bis jetzt kam alles irgendwie zur richtigen Zeit.Vorausgesetzt natürlich, dass alles zur richtigen Zeit kommt, wenn man weiss, dass die richtige Zeit immer ist.
Nun also New York. Studium vorbei. Genügend Diplome im Rucksack, um die Wand über meinem Bett zu pflastern.
Davon abgesehen, dass diese Wand erst noch geschaffen werden muss, denn ich habe mich zusammen mit einem Schweizer Schlagzeuger zu der Mietung eines Lofts in Brooklyn entschlossen. Und ein Loft ist nun einmal eine grosse, leerstehende Fabrikhalle, in der Wände erst noch eigenhändig gezogen werden müssen. Ein vernachlässigbarer Faktor, wenn man bedenkt, dass ein Loft die Nichtexistenz von Nachbarn beinhaltet, die Lautstärke und Wahl des Zeitpunktes kreativer Entfaltung negativ beeinflussen könnten. Und wir Jazzer, das dürfte bekannt sein, sehen New York nun mal als Ort - und Zeit - kreativer Entfaltung, und dieser Ort ist mir auf meiner Suche nach dem Vakuum, dem meine Musik eine Bedeutung geben könnte, eben jetzt begegnet. Alle Entscheidungen sollen in dem Zeitraum von sieben Atemzügen gefällt werden sagt eine alte Samurai-Weisheit. Diese hat mich nicht mal zwei gekostet.

Der dennoch spontane Einspruch gegen das prophezeihende Urteil meines Vaters - "Amerika - lebenslang!" - ist in zwei Augen-Blicken begründet. Einem in die Seele, einem in das Portemonnaie. Beide sind nicht auf Dauer belastbar mit dem "American way of life", den man am besten übersetzt mit "der amerikanische Umweg des Überlebens". Denn der Prozentsatz glücklicher Menschen ist in einer auf Kommerz-Ku, Konsum-Klux und Konkurrenzkampf-Klan gegründeten Gesellschaft leider äusserst gering.

"Time Remembered" (Bill Evans, auf verschiedenen Alben veröffentlicht)

Zweieinhalb Jahre zurück. Sebastian Noelle, Diplomant der Mannheimer Musikhochschule, macht sich Gedanken über das Bewerbungsgespräch beim Deutschen Akademischen Austauschdienst. Und zwar nicht wenige. Spielt die Prüfungssituation mit seinem Lehrer Frank Kuruc durch. Ein wenig Politur hier und da.
"Dort lernt man an der Quelle des Jazz, da ist er ja entstanden", "Dort unterrichten Musikerpersönlichkeiten, die Jazzgeschichte geschrieben haben", "... mein Spektrum moderner Stilistiken erweitern, um sie an heimatlichen Musikschulen später einmal weitergeben zu können" usw. Die Stimme des Unterbewusstseins: "Was soll ich sagen, damit sie mich nehmen?".
Zu meiner Genugtuung möchte ich hiermit die geglückte Verifikation dieser Statements verkünden um sie gleichzeitig mit einigen Differenzierungen zu verfeinern.
Die Amis sind nicht "besser". Sie machen auch nicht besser Musik. Sie improvisieren nicht einmal besser. Was sie haben ist ein wesentlich natürlicheres Verhältnis zu der speziellen Form improvisierter Musik, die irgendjemand (der Ragtime-Pianist Jelly Roll Morton und der Komponist W.C. Handy, beide aus den 20er/30er Jahren, streiten sich wahrscheinlich noch im Grabe über die Urheberrechte!) einmal Jazz genannt hat. Die Jazz-Standards, die ja zum Grossteil Stücke aus Broadway-Musicals sind, kann hier einfach jeder pfeifen. Die Basics der Bebop-Improvisation lernen die Schüler in der Junior High und beginnen an der Hochschule viel eher die Entwicklung eines eigenen Stils. Trotzdem oder gerade deshalb, weil Jazz viel mehr zum Alltag gehört, findet man hier seltener den übertrieben Respekt vor der Tradition als etwas, was man nicht anrühren darf. Ich habe in Deutschland nicht wenige Mittdreissiger getroffen, die immer noch glaubten, sie müssten erst eine perfekte Charlie-Parker-Kopie sein, bevor sie durch seine oder Miles Davis' Gnade eigene Musik spielen dürften. Das kommt mir hier schon etwas entspannter vor.

"Boston Marathon" (Gary Burton, auf dem Album "Good Vibes", veröffentlicht 1969 auf Atlantic Records)

Durch die Bostoner Jazzszene bin ich natürlich auch wieder ausgiebig gezogen, mit Konzerten im Ryles, Good Life, Limbo, Choppin' Block oder Matt Murphy's, meist mit meinem eigenen Trio. Gagen waren meist zwischen $50-$100, oder auch drunter. Zuhörer, naja, malsomalso, man freut sich immer, wenn ein par Freunde vorbeischauen und hinhören.

"Thanks again" (John Scofield, auf dem Album "Bass Desires" veröffentlicht '88 auf ECM)

Das viele Geld hat sich also gelohnt. Und das meiste des vielen Geldes kam vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem ich für immer dankbar sein werde, und mit dem ich auch weiterhin gerne regen Kontakt pflegen möchte. Kommende Stipendiaten (und auch ehemalige!) sind immer herzlich willkommen, mich zwecks Erfahrungsaustausch zu kontaktieren, am besten per email ([email protected]). Ach ja, Übernachtungsmöglichkeit gibt's bei mir auch ...


2. Unterricht

Da ich Schule und Umfeld in meinen ersten beiden Berichten ausgiebig geschildert habe, beschränke ich mich hier auf die Beschreibung der von mir belegten Kurse im Herbstsemester 2001 und Frühlingssemester 2002.

a) Einzelunterricht bei Bob Moses, Jerry Bergonzi und Bob Brookmeyer

Im Herbst 2001 war meine Lehrerkombination Moses/Bergonzi, im Frühling 2002 Brookmeyer/Bergonzi, sich jeweils zweiwöchentlich abwechselnd.

Eine typische Stunde mit Bob Moses läuft folgendermassen ab:
Ich trete ein in das mit einer alten Schreibtischlampe (seitdem Moses, er möchte ausdrücklich nicht "Bob" genannt werden, die Kerzen von den Security Guards wegen Brandgefahr verboten wurden) spärlich beleuchtete Unterrichtszimmer, ziehe meine Schuhe aus denn "This is church!" und nehme schweigend auf einem Stuhl platz. Es sprudeln in voller Lautstärke John Coltrane's "Stellar Regions" aus den Boxen und Moses dreht sich verzückt in der Mitte des Zimmers im Kreise, die Arme ausgestreckt, ab und zu seine Handflächen auf die Herzgegend legend und Laute ausstossend, von denen ich nicht weiss, ob sie mich an Hundebellen oder an das Wehklagen von Quäkerinnen erinnern. Nach zehn Minuten macht sogar Coltrane mal eine Pause, was Moses als Aufforderung versteht, einen ebensolangen Vortrag über Spiritualität zu halten, bestehend aus immer wiederkehrenden Begriffen wie "Divine Madness", "Archangel of Godfire" und uns aus herkömmlicher Religion schon bekannten wie "surrender to the spirit" und "unconditional love".
Dann wird gespielt, ich an der Gitarre, Moses am Schlagzeug oder auch am Klavier, das dann jedoch auch eher mit Fäusten, Stöcken und anderen gerade greifbaren Gegenständen traktiert wird. Seine Drumsticks schnitzt sich Moses auf seinen spirituellen Streifzügen durch die Wälder übrigens selbst.
Wenn das jetzt alles etwas lächerlich klang, verschleiert es die Tatsache, dass Bob Moses tatsächlich eine mitreissend kompromisslose Gestalt ist, was kreatives und tief emotionales Musizieren betrifft. Freie Tonalität und Form verstehen sich von selbst. Statt einzuzählen wird einmal gemeinsam tief ein- und ausgeatmet und mit dem ersten Ton verschmelzen beide Musiker zu einer Einheit oder noch besser, einer "Nullheit", denn "one is too many", wie sich Moses auszudrücken pflegt. Bis zum Ende der Stunde und darüber hinaus befindet man sich in einem Trancezustand, der süchtig macht. Ich habe aus diesen Erfahrungen viel Kraft geschöpft und mir wurde wieder brennend heiss klar, dass die Essenz der Musik weit mehr ist als das Erlernen und Anwenden von Stilistiken, Formen und Regeln, nämlich - mit Moses Worten des göttlichen Wahnsinns - "burning bad karma".

Die Arbeitsweise von Jerry Bergonzi ist der von Moses polar entgegengesetzt. Sein Lehrerverständnis ist nicht das eines Gurus sondern eines Vermittlers von musikalischen Werkzeugen, sprich Skalen, Rhythmen und Akkordsubstitutionen. In diese Regionen drangen wir ziemlich tief vor, die Skalen bestanden aus 3,4,5,6 oder 9-11 Tönen, da ich von herkömmlichen, aus 7 oder 8 bestehenden, inzwischen nun wirklich genug gehört hatte. Ähnlich verhielt es sich mit den Rhythmen (5,7 und 9 gegen 4 waren die Schwerpunkte) und Harmonien (Gross-/Kleinterzforschreitungen wie z.B. den Coltrane-Changes aus "Giant Steps": vorwärts, rückwärts, in Moll und Dur).

Bob Brookmeyer ist einer der wichtigsten Komponisten des Jazz, vor allem auf dem Big-Band-Sektor. Ausserdem ist er der bekannteste Vertreter der Ventilposaune, seit den 40er Jahren aktiv. "Don't try to be interesting, just show us who you are and you'll catch my interest." Lehrte er mich. Neben intensivem Duo-Spiel (Jazz-Standards oder freie Improvisation) zeigte er mir hilfreiche und originelle Übungen wie z.B. sein kompositionspädagogisches Steckenpferd, die "White Note Exercises". Ich musste zu jeder Stunde drei vollgeschriebene Notenblätter mitbringen, die Bedingungen waren: Nur Töne der C-Dur-Skala ("White notes"), den Umfang einer Oktave nicht überschreiten, nur ganze, halbe, Viertel- und Achtel-Noten, viele Pausen lassen. Innerhalb dieses Rahmens musste ich nun ein Motiv entwickeln bis es ausgereizt war. Es stellte als gar nicht so einfach heraus, Bob mit meinen Ergebnissen zufriedenzustellen, bis sich in der letzten Stunde dann doch nach dem Durchspielen meiner letzten Übung ein Lächeln auf seinem Gesicht einstellte und er mich entliess mit den Worten: "Now you got it!".

b) "Ragas and Talas" mit Peter Row

Peter Row ist einer der führenden Ethnomusikwissenschaftler und hat sich auf klassische indische Musik spezialisiert. Er ist ausserdem ein ausgezeichneter Sitar-Spieler und hat lange in Indien gelebt und studiert. Dieser Kurs war sehr straff organisiert und beschäftigte sich gründlich mit der Analyse (aural und theoretisch) und Klassifikation von Ragas. Die indische Rhythmik (Talas) wurde nur am Rande behandelt. Besonders eindrucksvoll und hilfreich war die unmittelbare Illustration der Skalen und Melodien durch Mr.Row auf der Sitar. Leider wurde die Klasse nicht besonders animiert, das Material auf dem eigenen Instrument umzusetzen, was mir als praktisch orientiertem Jazzer ein wenig gefehlt hat.


c) "Microtonal Composition and Improvisation" mit Joe Maneri

Jetzt habe ich das Vergnügen, ein weiteres Exemplar der beachtlichen Zahl originellster Querdenker der New England Conservatory vorzustellen. Joe Maneri ist 74 Jahre alt, ein Männlein von annähernd ballartigen Aussmassen, mit Glatze, langem weissen Bart, winzigen Äuglein und einer krächzenden und lispelnden Fistelstimme. In den 40er Jahren studierte er mit Josef Schmid, einem Schüler Alban Bergs und später mit dem Flaggschiff der amerikanischen Avantgarde, Milton Babbit. Sein wohl grösster Verdienst ist die Entwicklung eines komplexen mikrotonalen Systems, das einen Ganztonschritt in 12 gleiche Teile gliedert. Eine Oktave besitzt somit 96 Töne und der kleinste Tonschritt besteht aus 16 Cent (1 Ganztonschritt = 200 Cent). In einem wöchentlichen dreistündigen Kurs vermittelt Joe einer ausgewählten Schar traditionsüberdrüssiger Studenten die Kunst des mikrotonalen Singens/Spielens/Komponierns/Improvisierens. Die meiste Zeit wird auf das Singen verwendet, da es sich als nicht so einfach herausstellt, z.B. auf Anhieb eine Quarte plus einen Sechstelton zu intonieren. Ausserdem verlangt Joe dies alles bald auch in mikrotonaler Zwei-/Drei-Vierstimmigkeit, im Kontrapunkt gesetzt wohlgemerkt!
Zum Glück lockert der Meister das Ganze mit seiner skurrilen Anekdotenkunst auf. Kleines Beispiel gefällig?
Nach der ungeplanten Geburt des ersten Sohnes wünschte sich Frau Maneri ein zweites Kind, ein Unterfangen zu welchem Herr Maneri seine Mitarbeit schlicht verweigerte ("Another little bastard? Are you mad?!"). Auf der Suche nach einer Lösung, beschloss das Paar täglich zwei Stunden in einer kleinen Kapelle zu meditieren, was für Joe gleichbedeutend ist mit mikrotonaler Gesangsimprovisation. Jeder in seiner Ecke, verbale Kommunikaton ausgeschlossen. Nach fünf Monaten war Frau Maneri soweit: Sie verkündete, ein zweites Kind sei ihr nicht mehr wichtig. Damit war das Problem jedoch für Joe noch nicht gelöst, er brauchte zwei weitere Monate Mikromeditation, um den Wunsch seiner Frau nach einem zweiten Kind zu akzeptieren.
Da wären wir auch schon bei seinem zweitliebsten Unterrichtsthema: Der Telepathie.
Es gab regelmässig Hausaufgaben zur Einübung derselben, beginnend mit Zahlen von 1-10, über Buchstaben bis zu ganzen Sätzen, deren erfolgreiche Übermittlung allerdings tägliche Übung über Jahre erfordert. Joe traf sich nach dem 11.9.2002 längere Zeit wöchentlich mit einem Kreis Telepathiekundiger, um Osama Bin Laden Botschaften der Liebe zu senden.


d) "Jazz Ear Training" mit George Garzone

George Garzone, Mitglied der Bostoner Kult-Jazzgruppe "The Fringe", die seit 30 Jahren allmontäglich in der "Lizard Lounge" in Cambridge ihre Melange aus Jazz und Noise zum Besten gibt, vermittelte in diesem Kurs sein Konzept, Dreiklänge per Halbtonschritt zu verbinden, wobei sich weder der Dreiklang noch die Umkehrung wiederholen durften, es sollte möglichst "zufällig" klingen. Dadurch entstehen Melodien, die, obwohl an kein tonales Zentrum gebunden, doch eine starke Geschlossenheit aufweisen. Die Melodien mussten sowohl gesungen als auch auf dem Instrument gespielt werden.


e) "Arnold Schönberg and Igor Stravinsky" mit John Heiss

Dieser Kurs war mit zwei Tests und einer Hausarbeit mit Abstand der arbeitsintensivste meiner gesamten Boston-Zeit und auch sehr umfangreich, was das behandelte Material betrifft. Die wichtigsten Werke dieser beiden Kompositionsgiganten des 20. Jahrhunderts wurden durchgehört und analysiert. Meine persönlichen Favoriten waren Igors "Symphony of Psalms" und Arnolds "Survivor from Warsaw". Für meine Hausarbeit wählte ich das Thema "Stravinsky's and Schönberg's influences on Jazz" und interviewte zu diesem Zweck Bob Brookmeyer und George Russell, zwei Jazzkomponisten, die viel mit Zwölftonreihen experimentiert haben.


f) "Composition for Non-Composition Majors" (klassisch) mit Michael Gandolfi

Diesen Kurs wählte ich, um meine Kompositionskenntnisse ausserhalb des Jazzgebiets zu erweitern. Michael Gandolfi ist ein sehr begabter, noch relativ junger Komponist, der viele Preise zu verzeichnen hat. Die Schwerpunkte dieses Kurses waren Zwölftonkomposition und Minimalismus. Alle zwei Wochen wurde von jeden Studenten eine Komposition in der gerade behandelten Stilistik verlangt, die dann auch in der Stunde vom Blatt gespielt wurden. Sogar ein kleines, aber sehr erfolgreiches Abschlusskonzert wurde organisiert.


g) Graduation

Mein Abschluss bestand aus mehreren Teilen: Der Gesamtnote (GPA=grade point average), die sich aus den einzelnen Kursnoten zusammensetzte, dem Abschlusskonzert, mit dem ich qualitativ und quantitativ (hinsichtlich der Zuhörerzahl) sehr zufrieden sein konnte, und der Graduation Ceremony.
Diese Veranstaltung ist etwas, was es so in Deutschland nicht gibt. Dort bekommt man sein Diplom einfach zugeschickt, geht mit Freunden noch einen drauf trinken und dann tschüss (Na gut, leicht untertrieben!).
In Amerika gelten die Äusserlichkeiten bekanntlicherweise mindestens so viel wie die Inhalte. Zuerst einmal darf man sich über die schwarzen Roben und die Hüte mit den akademischen Bommeln (die von allen gleichzeitig in einem traditionellen Ritual von der rechten auf die linke Seite gelegt werden müssen) amüsieren. Dann werden Klassenfotos gemacht, natürlich in hierarchischer Reihenfolge: undergaduate diploma, bachelor of arts, graduate diploma (zu denen ich gehörte), master of arts, artist diploma, PhD (doctor) und honorary doctor. Dann lässt man die knapp vierstündige Zeremonie über sich ergehen, in der Presidenten, Fakultät, Studenten und Ehrengäste, in mittelalterlich anmutende Gewänder gekleidet, hohe Reden schwingen. Ist man dann noch wach, erlebt man mit, wie jede(r) der 300 Graduanten das Diplom vom Präsidenten mit Glückwunsch überreicht bekommt. Danach kann man sich, juchei, dann doch noch wohlverdient den Magen vollschlagen, die Leber geht allerdings leer aus, wie so oft in diesem trinkerunfreundlichen Land. Andererseits: wer trinkt schon freiwillig Budweiser.

Mein persönliches Highlight dieses Tages war die Anwesenheit von Sonny Rollins, einem legendären Hardbop-Saxophonisten, der bei dieser Gelegenheit den Ehrendoktor verliehen bekam.

 

3. "The Future's not Ours to see ..."

Die Auswirkungen meines logisch folgenden Schrittes, nach New York zu ziehen und dort Arbeit zu suchen, kann ich noch nicht absehen. Ich verspreche mir allerdings nochmal einen nicht geringen Schub an Erfahrungen, musikalischen und aussermusikalischen, in der Stadt, in der das Überleben schon eine Leistung ist.
Ich habe eine sehr schöne Wohnung in Astoria, einem Stadtteil Queens gefunden (mit dem Brooklyn-Loft war's dann letztendlich doch nix - scheiterte an der hohen Kriminalitätsrate der Neighborhood - aber doch mit Keller zum musizieren), zusammen mit einem schweizer Schlagzeuger und einem deutschen Pianisten, die ich beide in Boston kennengelernt habe. Liebesleben floriert auch mal wieder, was will man mehr. Ein wenig Beständigkeit im Geldbeutel vielleicht? Die nächste Zeit wird wohl auch den ein oder anderen finanziellen Enthusiasmusdämpfer bereit halten, der Gelegenheitsjobsuchenwahnsinn (kürzlich fragte mich eine Amerikanerin nach dem längsten deutschen Wort, vielleicht kann ich sie damit in noch grössere Verzückung versetzen als mit "Desoxyribonukleinsäure") wartet schon. Trotzdem. "Keep going and never stop", wie George Garzone einmal sagte. Die Stimmung steigt. Jetzt wird's ernst. Endlich.

 

Anhang: Musiker und Lehrer, Bücher und Filme, die mich während meinen zwei Boston-Jahren am meisten beeindruckt und beeinflusst haben

- Lehrer: Bob Moses, Gene Bertoncini, Joe Maneri, Ran Blake, George Russell

- Musiker: Kurt Rosenwinkel, Mike Gamble, Joe Lovano, Alban Berg ("Wozzeck"), Igor Stravinsky, Oliver Messiaen ("Quartet for the End of Time")

- Bücher: "Elementarteilchen" (Michel Houellebeq), "Ulysses" (James Joyce), "Nun singen sie wieder" (Max Frisch), "Nausea" (Jean-Paul Sartre), "Improvisation" (Derek Bailey)

- Filme: "Dancer in the Dark" (Lars van Trier), "Diva" (Jean-Jaques Beineix), "The Wrong Man" (Alfred Hitchcock), "Stalker", "Nostalghia" (beide Andrej Tarkovsky), "Breathless" (Jean Luc Godard), "Fat Girl" (Catherine Breillat), "Waking Life" (Richard Linklater)

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