Sebastian Noelle
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Boston, MA 02120
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ABSCHLUSSBERICHT
(2/2001 bis 6/2001)

 

Sebastian Noelle, Jazz-gitarre, Graduate Diploma Program
am NEW ENGLAND CONSERVATORY in BOSTON

 


Gliederung


0. Inhalt ................................................................................................. 2


1. Kurze Zusammenfassung des Zwischenberichts .................................... 3


2. Was hat sich im zweiten Semester geändert? ........................................ 3


3. Kurse im Sommersemester 2001 .......................................................... 4


a) Intervallic Improvisation, Jerry Bergonzi
b) Development of rhythmic Skills, Michael Cain
c) Film Noir, Ran Blake
d) World Percussion, Jamey Haddad

4. Highlights ............................................................................................ 6


5. Allgemeine Bemerkungen und Ausblick 2001/2002 .............................. 7

 


1. Kurze Zusammenfassung des Zwischenberichts

In meinem Zwischenbericht vom Januar 2001 habe ich ausführlich die Vorbereitungszeit in Deutschland, die Schule, das offiziell inoffizielle amerikanische Hochschulsystem, die Freizeitmöglichkeiten in und um Boston und die kulturellen Differenzen beschrieben, ausserdem Tips für kommende Stipendiaten gegeben.
Die "Ups and Downs" der Visabeschaffung, die Zulassung zur Schule, die transatlantischen Telefonate, die logistischen Listen - die Zeit davor ist genauso spannend wie das neue Land selbst.
Ich führte meine Gründe auf, die mich dazu bewogen, an das New England Conservatory, ein in Jazzkreisen hoch gehandelter Name, zu gehen: Das breitgefächerte Kursprogramm, das die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit fördert und der famose Lehrkörper, allen voran meine Hauptfachlehrer John Abercrombie und Gene Bertoncini, deren Unterricht ich auch dieses Semester wieder geniessen durfte.
Auch stellte ich fest, dass die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA durchaus zu verkraften sind und nicht in der Lage waren, mich zu entmutigen, im Gegenteil, es machte mir Spass, das Spiel "Freiheit" (Regel Nummer eins: Gehorche keinen Regeln!) mitzuspielen und dabei die Grenzen meiner Eigenständigkeit zu sondieren.
All dies ist so geblieben und kann gerne nochmal im Zwischenbericht nachgelesen werden.


2. Was hat sich im zweiten Semester geändert?

Natürlich hat das Leben trotzdem das getan, was es so gerne tut: Es ging weiter. Die am deutlichsten sichtbaren Unterschiede waren natürlich die neuen Kurse, auf die ich aber in einem eigenen Abschnitt näher eingehen werde.
Was nicht so offen zutage tritt, weil es sich in einem schleichenden Prozess vollzieht, ist ein menschliches Phänomen jenseits wissenschaftlicher Greifbarkeit: die Integration. Dass die Dauer der Anwesenheit die Akzeptanz und damit auch die Autorität steigert, kann ich mir nicht rational erklären, und dieser Mechanismus birgt an sich wohl auch mancherlei Gefahren, aber es ist wirklich so.
D.h. in der Praxis: Im ersten Semester war ich niemand, im zweiten war ich wer. Wobei ich zu meiner Verteidigung anführen könnte, dass ich auch einige Sympathien für meine "öffentlichen" Schulauftritte (mit Lewis Nash und mit Bob Moses) bekam. Auch ist jedes eigene "Recital", von denen ich eines (gemäss meiner Zwischenprüfungspflicht) bestritt, Gelegenheit, sich einen schulinternen Ruf zu erspielen.
Dies und die vorsichtige Bildung eines dauerhaften Freundeskreises hatte zur Folge, dass sich meine soziale Muskulatur erheblich entspannte.

Auch änderte sich das Klima zum Frühling, Menschen wie Wetter wurden sonniger, ich konnte den Luftbefeuchter wieder einpacken, und es gab sogar mal eine kurze Periode, in der ich unsere Klimaanlage ganz abschalten durfte.


3. Kurse im Sommersemester 2001

Einen Kurs habe ich beibehalten, das war das "Lydian Chromatic Concept" bei George Russell. Lehrer und Inhalt habe ich im Zwischenbericht ausgeführt, ebenso den Gitarrenunterricht bei John Abercrombie und Gene Bertoncini, der auch wieder ähnlich ablief.

Neu hinzu kamen die Kurse "Intervallic Improvisation" bei Jerry Bergonzi (Saxophon) und "Development of Rhythmic Skills" bei Michael Cain (Piano). Ausserdem war ich angestellt als Teaching Assistant (TA) für den Kurs "Film Noir" bei Ran Blake, der mich aufgrund meiner Erscheinung im vorjährigen "Personal Style" Kurs engagierte.

a) Intervallic Improvisation

Jerry Bergonzi ist weltweit einer der führenden Experten in der schulischen Vermittlung von Jazz-Improvisation. Er veranstaltet häufige Workshops in den USA und Europa, ist weiterhin Lehrer am Berklee College of Music und gibt auch noch Privatstunden. Dieser Kerl sprüht vor Vitalität und Selbstbewusstsein ohne aufdringlich zu wirken. Bei ihm geht es eindeutig um das Handwerk, nicht um den individuellen künstlerischen Ausdruck. Das A und O: sogenannte Konzepte, die klassische Haßliebe eines jeden Improvisators auf dem Weg zu einem persönlichen Stil.
"Pentatonic Concept" und "Rhythmic Concept" sind zwei Titel seiner zahlreichen Publikationen, und nun eben "Intervallic Concept", sein neustes Werk.
Die Kernidee ist hier, einmal die ganze Akkord-Skalen-Theorie zu vernachlässigen, und sich stattdessen auf bestimmte Intervalle zu beschränken, sei es in einer Improvisation oder einer Komposition. Das Buch dazu enthält hunderte von Beispielmelodien, durch den fehlenden Skalen-Bezug natürlich atonal, die in den Einzelprüfungen gesungen, für sich gespielt und als Rohmaterial für eine Improvisation über einen Jazz-Standart benutzt werden mußten.
So wurden sämtliche Intervallkombinationen durchgemacht und die Aufgaben lauteten z.B. "Improvisiere nur mit Sekunden und Quinten!", "Schreibe eine Komposition mit zwei Teilen, jeden mit einem jeweils anderen Intervallpaar!".
Dieser Kurs hat mir in meinem Solospiel neue Wege gezeigt, ich habe mir das genommen, was ich gebrauchen konnte, sogar z.T. schon in mein Spiel integriert. Als Kompositionkonzept taugt diese Idee jedoch nur bedingt: Was für Einige "hip" geklungen haben mochte, klang für mich oft eher nach einer weiteren seelenlosen Etüde

b) Development of Rhythmic Skills.

Dieser Kurs war für mich ein zweischneidiges Schwert. Die rhythmischen Übungen (der Leiter Michael Cain nannte sie "Meditations"), die aus dem Singen und Spielen von Ostinati in den sonderbarsten Metren bestanden, begeisterten mich in dem Maße, dass ich meinen Bruder, der mich für drei Wochen besuchte, auch gleich damit infizieren wollte.
Die andere Hälfte der Zeit wurde verwendet auf die Analyse von Hiphop-Titeln von Bands wie De la Soul, Mosfet oder Outkast. Dieser Musikstil hat mich zugegebenermaßen noch nie richtig in seinen Bann ziehen können. Entweder waren mir die maschinengenerierten Rhythmen (Harmonie und Melodie spielen eine eher untergeordnete Rolle) zu monoton für eine künstlerische Aussage (hingegen nicht zum Tanzen!) oder die Texte zu angeberisch, meistens jedoch beides (allerdings konnte ich mich dabei in Sachen Schlagzeugnotation üben).
Dazu kam, dass Mr. Cain ein äußerst mitteilungsfreudiger Bursche war, was sich hin und wieder in Monologen romanähnlichen Ausmaßes, meist von der Sorte "Heut' morgen stand ich auf und, wisst Ihr, was mir da passiert ist usw." manifestierte. Wieder nahm ich mir den süßen Kern, spuckte die bittere Schale wieder aus und zog weiter.

c) Film Noir

Kein Semester darf mehr für mich vergehen ohne einen Kurs mit dem einzigartigen Ran Blake. Während ich ihn in meinem Zwischenbericht noch als autistisches Genie bezeichnete, habe ich inzwischen festgestellt, dass Ran durchaus eine Art Kommunikationssystem besitzt, das jedoch aus äussert gewöhnungsbedürftigen Chiffren besteht. So musste ich öfters seine Assistentin Ilona Tipp, die selbst am Rande der Verzweiflung schon fast zuhause ist, um Entschlüsselung bitten.
Als Teaching Assistant waren mir einige verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut worden, z.B. die Planung und Vorbereitung des Unterrichts, das Ausleihen der Filme, die Anwesenheitskontrolle, das Auswerten der "papers" (Aufsätze) und nicht zuletzt die Notengebung. Ran ist dann für das Chaos zuständig, das jedem seiner Kurse dieses von mir so geliebte anarchistische Flair gibt.
Der Inhalt des Kurses bestand neben dem Schauen der Filme aus der Analyse der Charaktere, dem Zusammenhang zwischen Musik, Cinemaphotographie und Handlung und dem Verarbeiten der Themen in eigenen Improvisationen.
Alfred Hitchcocks Werk ("Vertigo", "The wrong Man", "The Man who knew too much") dominierte eindeutig die Szene. Davon abgesehen war Ran daran interessiert, auch einige Filme, die nicht direkt dem "Film Noir" zuzuordnen sind, zu präsentieren, so z.B. den französischen Film "Diva", in dem es um einen Opernsängerin geht, die aus Prinzip keine Plattenaufnahmen macht, sondern nur Liveauftritte veranstaltet. Dies führte zu einer interessanten Diskussion über die Frage, ob die wirklich göttlichen Momente in der Musik überhaupt festgehalten werden dürfen, oder ob nicht durch ihre Reproduktion auf Tonträger ihre Magie verschwindet.

d) World Percussion

Die Teilnahme an diesem Kurs verdanke ich dem unorthodoxen Lehrkörper des Berklee College of Music in Person von Jamey Haddad, seines Zeichens Percussionist u.a. bei Pop-Star Paul Simon. Ich konnte mich dank eines befreundeten Berkleestudenten in diesen Kurs einschleichen. Das Motto dieses Kurses: "Whatever your main instrument is - you gotta have a drum in your life!". So lernten wir, verschiedenste Stilistiken auf der "Frame Drum" (Rahmentrommel) umzusetzen.
Als Fazit ein Satz, den ich vor einem Jahr noch als emanzipierte Esoterik belächelt hätte: Neben rhythmisch-motorischem Training hat jede Trommel-Klasse auch eine therapeutische Funktion. Oder auf amerikanisch: Just do it!!


4. Highlights

Trotz der Wirkung, die die Schule als Informationsballungszentrum auf mich ausübte, kann ich ruhigen Gewissens behaupten, dass es zwei ausserschulische Ereignisse gab, aus denen ich mehr gelernt habe als aus allen Kursen zusammen.
Es gelang mir, CD-reife Studioaufnahmen sowohl mit Gene Bertoncini als auch mit John Abercrombie zu produzieren. An diesen Projekten, die mir sehr am Herzen lagen und für mich sozusagen das i- oder, besser gesagt, die ü-Tüpfelchen (es sind ja zwei) meines Auslandsjahres waren, habe ich nicht nur mein Durchsetzungsvermögen und mein Organisationstalent geprüft, sondern auch viel über das Arbeiten von Profis im Aufnahme-Studio gelernt. Ich weiss jetzt, dass hinter allen grossen Namen, die man meist nur vom CD-Cover kennt, Menschen stehen, die mit ihrem Gemüt genauso von dieser Welt sind wie Du und ich. Sie wollen sich wohlfühlen, im Großen und im Kleinen. Das Taxi Punkt halb drei vor der Schule, die Wegbeschreibung zum Studio für jeden kopiert, der Chicken-Salad schon geliefert, bevor sich John's Hungergefühle im nächsten Solo akustisch bemerkbar machen - mir wurde bewusst, dass die perfekte musikalische Vorbereitung nur soviel wert ist, wie die Geschicklichkeit beim Jonglieren mit den Eventualitäten.
Der Lohn der Mühe war groß - nach dem Passieren dieser Meilensteine machte ich erstmal eine gute Zeit Rast auf der "Cloud Nine" (was in der etwas bescheideneren deutschsprachigen Idiomatik "Wolke sieben" bedeutet), bevor ich mich jetzt - auf der Suche nach finanzierbaren Veröffentlichungsmöglichkeiten - in der für Jazzmusik dünnen Luft der sogenannten "Labelpolitik" deutscher Plattenfirmen wieder etwas abkühlen darf.

Ein weiteres Erlebnis, das nicht direkt mit der Schule zu tun hatte, war ein Projekt mit dem "Massachussetts College of Art", bei dem einer der Studenten eine Ausstellung zum Thema "Musik und Kunst" organisierte, bei der 15 improvisierende Musiker zwischen den auch als Trennwände fungierenden Malereien spielten, und zwar alle gleichzeitig. So wurde durch Veränderung des Standortes auch ein jeweils anderer Klangeindruck geschaffen. Der Rhythmus und die Form des Ganzen wurde von zwei Schlagzeugern zusammengehalten, die an zwei gegenüberliegenden Ecken des Raumes positioniert waren und einander über Monitorboxen hören konnten.
Zusammenspiel mal ganz anders als gewohnt - ein Balanceakt zwischen individuellem Ausdruck und Einheit dieses großen improvisierenden Kollektivklangkörpers.

Einem weiteren Ziel kam ich ebenfalls ein Stück näher: Einen festen wöchentlichen Trio-(Gitarre/Kontrabass/Schlagzeug) Auftritt. In dieser Formation spielte ich während der letzten zwei Monate jeden Montag in einer Bar namens "KAPOW". Die Atmosphäre war sehr angenehm, der Grund, trotzdem die Segel dort wieder zu streichen, war die mangelnde Bezahlung, die nur aus Trinkgeld bestand. Bei der sprichwörtlichen Bostoner Musikerdichte finden sich leider allzuleicht Bands, die umsonst spielen. Das macht zwar niemand auf Dauer mit, aber der Wirt kann sich ja dann wieder neue Leute suchen. Ausserdem ist ein Montag generell ein eher unglücklicher Tag: man erholt sich eher von den Anstrengungen der Wochenends-Feierlichkeiten.
Trotzdem habe ich etwas Zuversicht gewonnen auf der Suche nach regelmäßiger Spielpraxis, und will nächstes Jahr auf jeden Fall wieder wöchentlich meine Musik einem Publikum präsentieren, da mir das Bild des einsamen Künstlers im Elfenbeinturm doch eher Unbehagen bereitet.

Weitere Highlights waren die häufigen Besuche in der "Regattabar", dem bekanntesten Bostoner Jazzclub, wo ich u.a. in den Genuss der Tonkunst von Jim Hall, Joe Lovano, John Scofield oder Kurt Rosenwinkel kam.

 

5. Allgemeine Bemerkungen und Ausblick 2001/2002

Das Stipendium hat mir in finanzieller Hinsicht das Leben sehr erleichtert. Meine Eigenbeteiligung überstieg die Summe, die ich für meinen Lebensunterhalt in Deutschland benötigte, nicht zu sehr. Man muss natürlich einkalkulieren, dass man dort auf Einnahmen, die man hier durch Auftritte hätte, verzichten muss. Das Annehmen von Gagen, deren Höhe sowieso eher zur Belustigung denn zur Bedürfnisbefriedigung taugt, ist zudem noch illegal. Dies macht sich eher jetzt, kurz vor Beginn meines zweiten Jahres bemerkbar: Die Pölsterchen sind plötzlich weg.
Ich war erstaunt, eine nicht geringe Anzahl von Studenten mit äußerst abenteuerlichen Finanzierungsplänen zu treffen, einige davon hatten es in der gleichmäßigen Verteilung von Schulden auf Kumpel und Kumpelskumpel zu einer wahren Meisterschaft gebracht.

Mitte Februar machte ich zu meiner Erleichterung die Erfahrung, dass auch die Versicherung (ich war über den DAAD bei HTH worldwide versichert) reibungslos funktionierte. Aufgrund eines Verdachts auf Hirnhautentzündung unterzog ich mich im "Brigham Women's and General Hospital" einer Untersuchung samt zwei Infusionen und Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit, die sich als recht unangenehm herausstellte.
Ich benutzte das Formular, das mir Sally Glasser vom DAAD New York zugesandt hatte, und ließ den Arzt unterschreiben (Nicht vergessen!). Mit der Abrechnung hatte ich dann gar nichts mehr zu tun. Kosten für Medikamente werden jedoch nur zur Hälfte übernommen.

Die allgemeine Stimmung an der Schule war von einer oberflächlichen Kollegialität geprägt: Lass mich in Ruhe und ich lass Dich in Ruhe. Je nach Stimmungslage war ich um diese Tatsache froh, dass mir niemand direkt auf die Nerven ging oder betrübt, dass sich die Menschen nicht zuhören. "Intercultural Communication" als Selbstzweck - hauptsache, es wird geredet, der Inhalt ist wurst. Man tut immer interessiert, ist aber leider gerade auf dem Weg zur eigenen Karriere.

Aus dem unerschöpflichen Fundus interessanter Kurse am New England Conservatory habe ich mir für nächstes Jahr "Talas and Ragas", Indische Skalen und Rhythmen (bei dem Sitaristen Peter Row), "Microtonal Improvisation" bei Joe Maneri und einen weiteren Jazz-Improvisationskurs, diesmal bei dem Saxophonisten George Garzone, ausgesucht.
Die Reise zum Kern meiner musikalischen Seele geht weiter.

Rottendorf, d. 26.7.2001

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