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Interessen |
Wie
weit inzwischen in Deutschland
die Mißachtung der alten Sprachen und ihres Bildungswertes vorangeschritten
ist, dafür ist nur ein besonders schlagendes Beispiel, daß diese Würdigung
eines Lateinlehrers durch seinen Schüler im Amtsblatt NRW 11/02 als Glosse
wohl zur allgemeinen Erheiterung der Gesamtschulfraktion abgedruckt worden
ist. Allerdings
stellt sich die Frage, ob jemand, der nicht einmal Textgattungen richtig
einzuordnen weiß oder schlicht Texte nicht versteht, hinsichtlich seiner bildungspolitischen Auffassungen überhaupt noch ernst genommen werden kann Kognak, Kaffee, Zigaretten ,,Schulmeister“: Autoren der ZEIT preisen Lehrer, denen sie viel verdanken Von
Herrn Rießner hieß es, er ernähre sich ausschließlich von Kognak,
schwarzem Kaffee und Zigaretten. Mein Freund Ullrich und ich haben ihn einmal
zu Testzwecken überfallartig besucht, in seiner von Büchern verdunkelten,
augenscheinlich niemals aufgeräumten und niemals geputzten Wohnung, und
fanden ihn im Lichtkegel einer Er
fühlte sich übrigens nur maßvoll gestört und setzte übergangslos das
Unterrichtsthema des Vormittags fort, Sallust und die Bundesrepublik, der
,,Staat als Beute“ einer korrupten Clique auch heute wieder. Heute, das war
damals in Rießners Perspektive das scheinrevolutionäre Geschwätz der 68er
an den Unis, er sah darin nichts als ein rhetorisches Mittel der Linken, sich
den Zugang zu den Fleischtöpfen der Macht zu verschaffen, ganz ähnlich wie
Sallusts Catilina von sozialer Ungerechtigkeit redete, aber seine eigene prekäre
Lage meinte, die er durch einen Staatsstreich in privater Absicht wenden
wollte. Der
Gräzist Wolfgang Rießner, Ostflüchtling von der Universität Greifswald,
als Studienrat gestrandet an dem Westberliner Arndt-Gymnasium, kein
zufriedener, aber ein leidenschaftlicher Lehrer, betrieb die Aktualisierung
der Antike mit idiosynkratischer Rabiatheit. Wir glaubten ihm seine Parallelen
nicht oder nur halb, das meiste verstanden wir kaum, aber nicht aus Fremdheit
gegenüber den klassischen Autoren, sondern aus Unkenntnis unserer Gegenwart.
Wir waren gleichwohl fasziniert, geblendet, hingerissen; denn was wir
verstanden,
war, daß man solche Parallelen ziehen konnte, die Antike also nicht tot,
sondern voller intellektueller Rießner
dagegen brachte eine querulatorische Energie in den Unterricht, er zappelte
vor Eifer und intellektueller Nervosität, es machte ihn schier wahnsinnig,
sich bei grammatikalischen Übersetzungsproblemen aufhalten zu müssen. Denn
er wollte zum Stoff und durch den Stoff hindurch zur Brisanz, er wollte uns
nicht nur unterrichten, sondern auch ärgern. Das Material dazu bezog er nicht
nur von den Klassikern, er stopfte es auch in seine Grammatikübungen und
selbst erfundenen Beispielsätze, das Gerundiv-Exempel Ad laevos eliciendos
(,,um die Linken hervorzulocken respektive zu provozieren“) wurde für uns
zum geflügelten Wort. Der
Druck, den er auf grammatikschwache Schüler ausübte, war beträchtlich,
selbst die indolentesten wollten bei ihm nicht versagen, und zwar nicht
ihretwegen, sondern weil sie ihn nicht quälen wollten. Rießner setzte diesen
Effekt skrupellos ein, er Selbst
faule und faulste Schüler ertrugen den Schmerz nicht, den diese Vorführung
zur Anschauung brachte. In den Nachhilfestunden, die ich später gab, erlebte
ich Rießner-Geschädigte, die in Heulkrämpfe ausbrachen, weil sie mit istemi
nicht zurande kamen. Mädchen, die sonst nur für Mode, Make-up und Partys
lebten, durchnäßten meinen schockfarbenen Rippenpullover mit ihren Tränen
(es waren die siebziger Jahre), und ich versuchte ihnen zu erklären, daß man
das Mitleid mit Rießner nicht übertreiben dürfe, er sei doch alles in
allem an seinem Schicksal selber schuld und im Übrigen ein ziemlich rabiater
Bursche. Tatsächlich wissen wir heute, daß sie und ich diesem rabiaten
Burschen vieles verdanken, manchmal denke ich: alles. Jens Jessen, Die ZEIT, vom 10. 10.2002
Mein Großvater, Heinrich Ohnesorge, etwa um 1920 vor seiner Klasse in der Borbachschule in Witten-Annen.
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