<<ZURÜCK>>

Interpretation des Gedichts "Wartende" von Ulla Hahn

Das von Ulla Hahn verfaßte moderne und gesellschaftskritische Liebesgedicht "Wartende" thematisiert die Tendenz der Gesellschaft, alleinstehende, vor allem Frauen, allein nach ihrem Familienstand zu definieren und den Druck, der durch diese Reduktion auf das Individuum ausgeübt wird.

Die Nichterfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen führt zu dem starken Wunsch nach der Möglichkeit zur Selbstverleugnung und der Flucht vor der Wirklichkeit in Illusionen, um dem Zwang zur Selbstrechtfertigung und selbständiger Aktivität zu umgehen. Das Alleinsein wird durch die Ablehnung von außen zum unerträglichen Zustand, welcher als unverantwortbar angesehen wird und die Existenzberechtigung der einzelnen Personen in Frage stellt.

Um zu einem selbstbewußten, autonomen Standpunkt zu gelangen, muß das Individuum sich den gesellschaftlichen Zwängen stellen und sich bewußt von ihnen distanzieren.

Der Druck der Konvention wird schon im ersten Vers zum Ausdruck gebracht. "Sie" (V. 1), die Protagonistin des Gedichts, "sitzt an einem Tisch für zwei Personen" (V. 1), und zwar "allein" (V. 2). Dieser Gegensatz, welcher noch durch das Enjambement hervorgehoben wird, zeigt aus der Perspektive der Umsitzenden (Gesellschaft), dass die Situation nicht der Norm entspricht, nach der an einem Zweipersonentisch auch zwei Personen sitzen müssen. Die bereits in der Überschrift auf ihre passive Rolle als Wartende reduzierte Person wird sowohl inhaltlich durch die offensichtliche regelwidrige Einsamkeit als auch formal durch die Position des Personalpronomens "Sie" als erstes Wort der ersten Zeile isoliert und aus der sicheren Anonymität herausgehoben.

Mit "diesem wachen, starren Blick" (V. 2), mit dem die Person "umher" (V. 3) sieht, signalisiert sie, dass sie sich ihrer Situation durchaus bewußt ist. Die sich anscheinend widersprechenden Adjektive wach und starr lassen den Eindruck entstehen, dass die Person unter Drogen oder unter einem sehr starken inneren Druck steht und in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt ist. Sie macht den Eindruck, "als hätt sie was verloren" (V. 3). Durch den metaphorischen Charakter dieser Aussage wird auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass die Person sich nicht aus sich selbst heraus in einer suchenden, bzw. wartenden Position befindet, sondern von der Gesellschaft bzw. von oktroyierten Normen in diese hinein gezwungen wird. Zudem kommt zum Ausdruck, dass sie eigentlich selbst gar nicht weiß, was sie sucht, da sie ja eigentlich in Wirklichkeit nichts verloren hat.

In ihrer halt- und orientierungslosen Situation "hält" (V. 4) sie sich "an einem Buch" (V. 4) "fest" (V. 4), welches mit einem "Strick" verglichen wird. Der Wunsch nach Flucht aus der unerträglichen Situation und vor der Selbstverantwortung bringt die Gefahr mit sich, in völlige Selbstverleugnung abzugleiten, was durch die zweideutige Metapher des Stricks angedeutet wird: ein Strick kann dazu dienen, jemanden aus einer gefährlichen Situation zu retten, aber auch dazu, jemanden zu strangulieren und ihn damit jeden Antriebs und jeder Möglichkeit zur Aktivität zu berauben.

Die Flucht in die Illusion gelingt der Person jedoch nicht oder nur unvollständig. Die erste Strophe endet nach dem vierten Vers nicht mit einem Satzzeichen, sondern mit einem Enjambement. Am Anfang der zweiten Strophe wird von "Augenpaaren" (V. 5) gesprochen, welche "mitleidlos und spitz" nach der Person "züngeln" (V. 6). Die Kälte und Gefahr assoziierenden Adjektive und Verben sowie das im Plural stehende Substantiv lassen sie in einer bedrohten, einsamen, einer Vielzahl von Gegnern ausgelieferten Situation erscheinen, in welcher sie der repressiven Macht der Gesellschaft hilflos gegenübersteht. Der Eindruck der Unerträglichkeit des Ausgeliefertseins an eine übermächtige Vielzahl übelwollender Kontrahenten wird in der nächsten Zeile noch verstärkt, wo davon die Rede ist, dass die Blicke "wie Wellen über ihr zusammenschlagen" (V. 7), ihr also jede Möglichkeit, sich zu behaupten und weiter zu existieren, zu nehmen scheinen.

Indem die Augenpaare sie in der nächsten Metapher "auf den Plastiksitz" (V. 8) "niederdrücken" (V. 8) nehmen sie der Person gleichzeitig die Möglichkeit, sich aus der Situation zu befreien, was damit korrespondiert, dass diese die sie im wahrsten Sinne des Wortes bedrückenden (beengenden) Normen schon in ihrer Jugend aufgezwungen bekam und verinnerlicht hat. Mit der Erwähnung des Materials "Plastik" (V. 8) wird gleichzeitig die Unnatürlichkeit dieser Normen hervorgehoben, welche im Kontrast zu den "Schenkeln" (V. 9) der Frau stehen, welche ihre Sexualität symbolisieren. Die Tatsache, dass unter den "Schenkeln" (V. 9) der Stuhl "klebt", dass diese an sich gegensätzlichen Objekte also künstlich miteinander verbunden sind, zeigt, wie sehr die Sexualität durch die Normen eingeschränkt und unterdrückt wird.

Das sich im "Glas" (V. 10) der Person befindende "Eis schmilzt klirrend schneller" (V. 10) dadurch, dass sie das Gefäß schließlich "schwenkt" (V. 9). Die durch das Unbehagen hervorgerufene Aktion der Person verdeutlicht ihren Wunsch, sich selbsttätig aus der Situation zu befreien, was durch das Schmelzen des Eises symbolisiert wird, wobei das lautmalerische Adjektiv klirren ihre Ungeduld zum Ausdruck bringt. Diese nicht normgemäße Regung versucht sie jedoch sofort zu verdrängen und durch einen noch stärkeren Wunsch nach Realitätsflucht zu ersetzen, da sie sich nicht stark genug zum autonomen Handeln fühlt. Daher "versänk" (V. 11) sie "gern als Erfindung in ihr Buch" (V. 12). Damit gäbe sie jede Selbstverantwortung, jeden Zwang zur Entscheidung und sogar ihre gesamte Identität ab. Jedoch ist sie sich nun selbst bewußt, dass die Flucht in die Illusion letztendlich unmöglich ist, denn im Gegensatz zu der am Anfang des Gedichts stehenden "Strick"-Metapher steht dieser Satz im Konjunktiv.

Diese Erkenntnis führt zu einem inhaltlichen Bruch innerhalb der vierten und letzten Strophe, deren zweiter Vers damit beginnt, dass die Person das Buch "zuschlägt" (V. 13). Damit trennt sie sich von ihrer fiktiven Zuflucht, und zwar abrupt, wie der Gebrauch des hart klingenden Verbs schlagen nahelegt. Gleichzeitig wird der Vers durch den Punkt am Satzende in zwei Hälften geteilt, was im Gegensatz zu den vorher verwendeten Enjambements steht; es entsteht ein formaler Bruch, welcher den inhaltlichen hervorhebt. Die Person wird zum aktiv handelnden Individuum, welches sich den eigenen Ängsten bzw. dem Druck der Gesellschaft stellt und Verantwortung für sein eigenes Handeln übernimmt, wobei es sich von den Normen und damit von der Selbstreduktion löst.

Die endgültige Ablösung von der Norm geschieht dadurch, dass die Person "zahlt und geht" (V. 14). Durch das Begleichen einer Rechnung mit Geld übernimmt sie symbolisch die Konsequenzen für ihr eigenes Tun, womit sie gleichzeitig eine Schuld (sich selbst gegenüber) begleicht und signalisiert, dass sie einen bestimmten Abschnitt (Lokalbesuch) als beendet ansieht, was sie bekräftigt, indem sie die Lokalität verläßt.

Der abschließende, sehr kurze und daher sehr entschlossen wirkende Satz "Es ist genug" (V. 14) bringt die Willenskraft, welche durch das Abwenden von der Norm zum Vorschein kommt, zum Ausdruck. Abgesehen davon ist die vierte und letzte Strophe die einzige, welche mit einem Punkt endet, was die Entscheidung der Person als endgültig erscheinen läßt. Sie ist sich nun im klaren darüber, dass sie auch unabhängig von der konventionellen Definition ihrer Person leben kann.

© Meike Blömer, 1998

<<ZURÜCK>>

Hosted by www.Geocities.ws

1