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Nahe des Abgrunds

Am Rand der Welt stand eine kleine, heruntergekommene Bretterhütte, kurz vor dem Abgrund. Daneben befand sich die schon leicht eingerostete Kurbelvorrichtung. Jeden Morgen kurbelte Friedwelm die Sonne hoch, des abends zog er sie wieder herunter. Nachts polierte er sie, überprüfte sie auf mögliche Fehlerquellen und reparierte über Tag eingetretene Schäden. Frühmorgens tankte er sie auf, polierte noch einmal und drehte an der Kurbel. Die Kurbel mußte auch jeden Tag geölt werden. Ein mal in der Woche nahm er sie auseinander und reinigte jedes Teil. Trotz dem rostete sie langsam ein. Sie war alt. Der letzte Splitter schützender Lackfarbe war schon vor Jahren in den die Kurbel umgebenden Staub abgeblättert. Es war entmutigend, zuzusehen, wie sie rostete. Friedwelm glaubte, beinahe zusehen zu können. Jede Woche, so meinte er, war ein wenig mehr blankes Eisen der rotbraunen Vernichtung anheimgefallen. Ganz zu schweigen von der bogenförmigen Stahlschiene, auf der die Sonne lief. Sie wurde nur ein mal im Monat komplett gewartet. An jedem einundzwanzigsten kam in einem kleinen blauen PKW ein Fachmann gefahren, der mit Steigeisen hinaufkletterte und reinigte und polierte. Der Fachmann hieß Fritz. Fritz war schwindelfrei. Er stieg bei jedem Wetter hinauf, auch bei Sturm. Er war noch nie heruntergefallen. Fritz redete nicht viel. Er sagte "Guten Tag", wenn er kam, und wenn er wieder fuhr, sagte er "Auf Wiedersehen." Auf ihn konnte man sich verlassen. Friedwelm sagte ihm, wenn er etwas brauchte, und Fritz brachte es beim nächsten mal mit. Friedwelm brauchte nicht viel.
Friedwelm sah nicht gerne zum Abgrund hin. Jeden Tag saß er vor seiner Hütte und betrachtete die Straße, welche hier zum Ende der Welt führte. Niemals war er an den Abgrund herangetreten.
Am einundzwanzigsten Juli kam der kleine blaue PKW wie gewohnt gefahren, die Sonne ließ von oben alles blinken, was da noch blinken konnte. Friedwelm saß in einem Stuhl vor seiner kleinen Hütte. Vor seinen Augen stieg nicht Fritz, sondern eine ihm völlig fremde Person aus dem PKW. Die völlig fremde Person sagte "Guten Tag." Friedwelm starrte die Person an. Die Person sagte: "Ich soll die Laufschiene reinigen. Wo kann ich sie finden?" Friedwelm sah zur Kurbelvorrichtung hinüber. Es war unmöglich, die Schiene zu übersehen. Sie schwang sich von der Kurbel empor, das Sonnenlicht glänzte darauf, oben rastete eine winzige Sommerwolke an ihrer Seite.
Die Person wartete immer noch auf eine Antwort. "Dort." sagte er und deutete mit der Hand auf das offensichtliche. "Oh. Danke." Die Person ging zum PKW, nahm die Steigeisen aus dem Kofferraum und ging zu der Kurbel hinüber. Dann zog sie die Steigeisen an. Dann stieg sie langsam an der Laufschiene hinauf. Immer wieder sah die Person nach unten.
Die Person wird nicht in der Lage sein, die Schiene richtig zu warten, dachte Friedwelm. Die Schiene wird nun viel schneller rosten. Irgendwann wird sie das Gewicht der Sonne nicht mehr tragen.
Als es Abend wurde, kletterte die Person wieder an der Stahlschiene hinunter. Sie zog die Steigeisen aus und legte sie in den Kofferraum. Dann fuhr sie mit dem blauen PKW davon. Eine Staubwolke zog sie hinter sich her.
Friedwelm stand auf. Es war Zeit. Er zog die Sonne herunter. Nachts polierte er sie, überprüfte sie auf mögliche Fehlerquellen und zog ein paar Schrauben fester an.

(C) Meike Blömer

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