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Ein im Jahre 1984 veröffentlichter Quellenband betont apologetischer Natur hat uns zu folgenden Überlegungen veranlaßt.
In einer der dort publizierten
Quellen heißt es, der Kampf des deutschen Reiches gegen das bolschewistische
Rußland sei ein Kampf auf Leben und Tod gewesen. Wie fundamentalistisch
diese Aussage ist, belegt die brutale Kriegführung im Osten, die alle
bisherigen Regeln zivilisierter Kriegführung einfach über Bord
warf. Weil es um einen sogenannten "Krieg der Weltanschauungen" ging (Nationalsozialismus
gegen jüdisch inspirierten Bolschewismus), wurde auch die totale Vernichtung
des Gegners angestrebt. Die SS als Inbegriff des sogen. "politischen Soldatentums"
war aus "Weltanschauungskriegern" zusammengesetzt, weshalb ihre Kampfmethoden
die neuen Dimensionen des totalen Weltanschauungskrieges beispielhaft vor
Augen führen. Es wurde dabei in heuchlerischer Weise immer wieder
darauf hingewiesen, daß diese Kriegführung im Interesse Europas
und des Abendlandes erfolge. Daß es sich nicht um ein aus der europäischen
und abendländischen Tradition hergeleitetes, in deren Namen und zu
deren Heil geführtes Ringen handelte, sondern um eiskalte Vernichtung
gegnerischer Menschen und geistiger wie materieller Werte, muß nicht
weiter unterstrichen werden. Die nationalsozialistische und SS-Propaganda
wollte damit ihrem barbarischen Treiben im Osten (Polen und Rußland)
nur einen legitimen Anstrich verschaffen. Bei näherem Hinschauen erweist
sich diese Propaganda als perverses und zynisches Anspruchsdenken. Man
berief sich auf europäisch-abendländische Wertvorstellungen,
denen der Nationalsozialismus ursprünglich den Kampf angesagt hatte.
So war es Hitlers Regiment gelungen, den 'westlichen', undeutschen Parlamentarismus
der Weimarer Republik auszuschalten. Und den Kampf gegen die Kirchen und
sogenannte "Gesinnungstäter" wurde unvermindert weitergeführt.
Die Verwegenheit, mit der
das greulhafte Hausen der deutschen Streitkräfte, vor allem der von
der SS zur Verfügung gestellten Einsatzkommandos, als den europäischen
und abendländischen Interessen entsprechend dargestellt wurde, ist
unübertrefflich, zumal das Deutsche Reich einen Teil seiner westlichen
Gegener wie Frankreich und andere west- und nordeuropäische
Staaten besetzt hielt bzw. bekriegte.
Eine weitere Verwegenheit ist es, den gegen die westlichen Länder geführten Krieg als 'Bruderkampf' auszulegen, zumal der Kriegshergang des Gegenteils belehrt: wäre der Kampf gegen die östlich-bolschewistische Bedrohung tatsächlich das Hauptziel der deutschen Kriegführung gewesen, dann hätte sich Deutschland von Anbeginn gegen Rußland wenden müssen, doch es besetzte Holland, Belgien, Frankreich, dann Skandinavien und Hitler plante die Invasion der Britischen Insel, was er dann wegen der Luftüberlegenheit Großbritanniens aufgeben mußte. Erst dann wandte er sich gegen Rußland.
Es ist bezeichnend, daß
ehemalige "weltanschauliche Erzieher" der SS im Rahmen der Nürnberger
Prozesse den Eindruck erwecken wollten, daß ihre Organsisation
ideologisch nichts mit Hitler auf dem Hut gehabt hätte, ebenso nicht
mit den Folgen seines großdeutschen Imperialismus. In ihrem plötzlichen
Gedächtnisschwund versanken nämlich erwiesene Tatsachen:
- die Gründung der
SS, die auf Hitler persönlich zurückgeht;
- die erste bedeutende
SS-Einheit, die Leibstandarde, trug den Namen des Diktators und dessen
persönlichen Schutz;
- Hitler und kein anderer
hatte der SS den Wahlspruch "Meine Ehre heißt Treue" (zum Führer)
ausgesucht;
- die SS besorgte die menschenunwürdigsten
Programme, sprich: die 'Drecksarbeit' der hitlerschen Expansion unter dem
Mäntelchen des "politischen Soldatentums" und des "Weltanschauungskrieges".
Die Verharmloser stellten die SS sogar als kriegsscheu dar. Die Organisation des Nazireiches, die auf den totalsten aller Kriege spezialisiert war, soll den Krieg nicht gewollt haben? Der Krieg war es doch, der ihr Bestehen rechtfertigte, der Krieg war es, der ihr zur Blüte und Expansion verhalf, der Krieg war doch ihr Element!
Dieselben Verharmloser der Nürnberger Prozesszeit behaupteten sogar, und das noch in sozialdarwinistischem Geist, der Krieg sei der Feind der Besten, weil er die hinraffe. Im Krieg finde eine Gegenauslese statt. Doch als das Nazireich noch heil war, lautete dieser zum Dogma erhobene Lehrsatz ganz anders: im Krieg funktioniere das Ausleseprinzip dahingehend, daß nur die Besten daraus siegreich hervorgehen. Die opportunistisch-zynische Verkehrung ist offensichtlich.
Die in die Defensive getriebenen Apologeten der SS schreckten auch davor nicht zurück, diese Organsation mit der Problematik der "freien und selbstverantwortlichen Persönlichkeit" in Verbindung zu bringen. An der so gearteten Persönlichkeit sollen sich nur Himmler und die übrigen Potentaten "versündigt" haben. Woher diese für SS-Ideologen so untypisch liberalen Töne? Das Ziel der SS-Erziehung bezweckte gerade das Gegenteil: die Vernichtung der freien und selbstverantwortlichen Persönlichkeit, um willfährige und fanatische Befehlsempfänger und Exekutanten heranzuzüchten, deren Verbrechen in der Anonymität kameradschaftlich durchorganisierter Kollektive (das SS-Großkollektiv verstand sich selbst als Eliteorden) leicht untergingen.
Blanker Hohn spricht aus
der Behauptung, "Die freiwilligen SS-Männer hatten den Ehrgeiz, nicht
nur die tapfersten, sondern auch die saubersten und makellosesten Soldaten
der Welt zu sein. Kampf war für sie nicht nur eine natürliche
Ordnung des Lebens, sondern ein im höchsten Maße sittlich verpflichtender
Begriff. Heute fühlen sie sich in ihrer inneren Seele geschändet
und genotzüchtigt, weil man Leuten, die zwar ihre Uniform trugen,
aber nicht ihresgleichen waren, Verbrechen zu begehen und zu morden - anstatt
ehrlich, sauber und tapfer zu kämpfen - befahl."
Die Makellosigkeit und sittliche Reinheit
soll also der SS nicht abgesprochen werden können wegen denen, die
zwar die SS-Uniform trugen, aber nicht ihresgleichen waren und Verbrechen
begingen. Die nur in ihrem Monolithismus starke SS soll nun in ihren reihen
'Fremdkörper' gehabt haben. Soll also der SD (Sicherheitsdienst der
SS), der für massive Erschießungen und sonstige Greultaten,
soll das zur Waffen-SS zählende Wachpersonal der KZ plötzlich
nicht ein SS-Teil gewesen sein?
Reinen, makellosen Kampf
gibt es höchstens als Wunschtraum. Die Realität des Krieges sieht
anders aus, erst recht die des von der SS geführten "weltanschaulichen"
Krieges. Selbst wenn der größte Teil der im operativen Kriegsgeschehen
stehenden SS-Männer (Waffen-SS) sich in keinerlei Form an Unschuldigen,
Wehrlosen vergangen hat, gehörten sie einer Organisation an, die solche
Vergehen zu ihrem Programm gemacht und mit System betrieben hat. Die Spezialisierung
der einzelnen SS-Sparten entlastet die Waffen-SS-Angehörigen zwar,
doch sie müssen die Schuld mit jenen SS-Angehörigen teilen, die
Verbrechen begingen, schon aus dem einfachen Grund, weil:
a) sie es ihrem Elite-
und Korpsgeist, also ihrer Organisation schuldig sind, mit der sie sich
auch nach Jahrzehnten noch identifizieren;
b) weil sie, im Falle sie
die daraus entspringende Verantwortung wahrhaben wollen, sich nicht
einfach aus dieser gemeinsamen Verantwortung fortstehlen können. Andernfalls
kündigen sie die ewige Treue, die sie der Schicksalgemeinschaft der
SS doch geschworen haben;
c) weil sie als Mitglieder
des SS-Ordens sich gleichermaßen der menschenverachtenden, verbrecherisch
angelegten Ideologie des Nationalsozialismus in deren äußerster
Zuspitzung des "politischen Soldaten" bzw. des "Weltanschauungskriegers"
verschrieben haben, also potentiell jederzeit ihr Gelöbnis von Ehre
aus Treue selbst im Angesicht verbrecherischer Befehle hätten einlösen
müssen.
Himmler in seiner Rede vom 9.6.1942 (Geheimreden, S.160): "Das Wesen dieser größenwahnsinnig Gewordenen, auch gerade der Christen, die von einer Beherrschung dieser Erde durch die Menschen reden, muß einmal abfallen und in die richtigen Maße zurückgeschraubt werden. Der Mensch ist gar nichts Besonderes. Er ist irgendein Teil auf dieser Erde. [...] In diese Welt muß er wieder ehrfürchtig hineinsehen. Dann bekommt er einmal den richtigen Maßstab was über uns ist, wie wir in diesen Kreislauf verflochten sind".
Himmler
wendet wie jede demagogische Propaganda das Prinzip an, dem bzw. den weltanschaulichen
Gegnern und Feinden all das anzulasten, was eigentlich seiner eigenen Ideologie
vorzuwerfen ist: Größenwahnsinn ist nicht bei den Christen,
sondern bei den Nazis präsent. Gleichzeitig spricht Himmler seine
Menschenverachtung unverblümt aus. Uns spricht hier nur der
Demagoge und Zyniker Himmler an.
Der von Himmler gepredigte "naturgegeben vorausgesetzte Weltzusammenhang"
diente doch nur dem Zweck, den einzelnen zu instrumentalisieren. Himmlers
Ideen fordern Entmenschlichung, Herabstufung und Abwertung des menschlichen
Selbstverständnisses ein mit dem offensichtlichen Zweck, jede individualistische
Regung, jede individualistische Resterscheinung auszumerzen.
Die rassische Hybris, die vorgeblich daraus resultierende soziale Desintegration (im Nazijargon heißt das 'Zersetzung'), die blutliche Überlegenheit gehören zu der Kette von feindbildlichen Mystifizierungen, zu der auch die Feindfixierung auf Juden, Bolschewisten, Demokraten, Individualisten, Christen, Freimaurer, Internationalisten zählt. Hier muß der Hauptgegensatz zwischen universalistisch-humanistisch-über- national (international)-gewissenszentristisch-christlich-abendländischer Weltanschauung und partikularistisch-antihumanistisch-deutschnational-gewissenslos- deutschzentristischer nationalsozialistischer und SS-Ideologie eingebracht werden. Über den hinterhältig-demagogischen, falschen Charakter des nationalsozialistischen und SS-ideologischen Gebräus bestehen keine Zweifel. Beispielhaft ist das Paradoxon, daß der Mensch in Himmlers Anschauung überhaupt nichts Besonderes sei, andererseits Himmler den Kult des Herrenmenschen verfocht.
Ein weiteres Beispiel ist der krasse Widerspruch der nationalsozialistischen
bzw. SS-Theorie zu ihren praktischen Zielen. Das Hauptziel der Herrschaft,
zunächst über das deutsche Volk, dann über Europa und schließlich
über die ganze Welt (letzteres ohnehin utopisch), gab alle anderen
kurzfristigen Ziele und die damit verbundenen Methoden vor. Und diese Methoden
zeichneten sich durch Skrupellosigkeit (im Nazijargon "Härte") aus.
Alle zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen wurden dieser Skrupellosigkeit
ausgeliefert, diese wurden also zu bloßen Instrumenten degradiert.
Das gilt gleichermaßen von den sich als Herrenmenschen aufspielenden
Deutschen wie von deren Opfern. In der nationalsozialistischen und SS-Sicht
gab es eigentlich nur Instrumente: der einzelne hatte nur als Werkzeug
einen Wert. Näher betrachtet ergaben sich zweierlei Instrumentqualitäten:
- die "privilegierten" Instrumente, n&auuml;mlich die Angehörigen der
Herrenrasse selbst, die das "Privileg" genossen, den nationalsozialistischen
bzw. SS-Instrumenten- dienst zum Teil als Entsorger "unwerten Lebens" und
des Untermenschentums besorgen zu dürfen, ohne sich ihrer Instrumentalisierung
durch das Terrorregime bewußt zu sein;
- die rechtlosen, vogelfreien "Instrumennte", das Untermenschenmaterial,
dem das Los des Freiwildes, des Arbeitssklaven vorbehalten war.
Herrenmenschentum erfordert per definitionem Opfer, es kam ohne diesen nicht aus, weil es ohne diesen seine Existenzberechtigung eingebüßt hätte. Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren hier vorprogrammiert.
Der qualitative Unterschied zwischen herrenmenschlichem und untermenschlichem
Opfer besteht darin, daß
- der Herrenmensch sich angeblich freiwiillig opfert (eigentlich wird er
doch von Seinesgleichen geopfert). Wichtig für die Nazis war, daß
der Herenmensch sich im Glauben der Freiwilligkeit opferte.
- der Untermensch war ausgeliefert, zum Opfer verdammt, er besaß
die Qualität des freiwilligen Opfers nicht.
Aus der obigen Differenzierung ergibt sich, daß das Elitäre
von der Freiwilligkeit des Opfers bzw. vom Glauben an diese Freiwilligkeit
geprägt war. Es war also eine Glaubenssache.
Die nationalsozialistische Ideologie und Himmlers Ideen waren eine riesige Mogelpackung, eine immense Seifenblase, weil sie darauf ausgerichtet waren, den Menschen einen ideologiekonformen Glauben aufzuoktroyieren. Und die Kultivierung des (Irr)Glaubens ging bei der SS ins Extrem, daß nur noch der Glaube, kaum mehr die Glaubensinhalte relevant waren. Das ist aber Glaubensfanatismus.
Der praktische Niederschlag dieses Glaubens war:
- Bedingungslose Opferbereitschaft im Kaampfeinsatz und bedingungslose Bereitschaft,
Untermenschen zu opfern = zu vernichten. Es leuchtet ein, daß diese
Glaubensform christliches Gedanken- und Gefühlsgut nicht zuließ.
Sie war auf Vernichtung sowohl des hilflosen, wie auch des kämpfenden
Feindes angelegt und trug den Kern der Selbstvernichtung in sich.
Diese Interpretation macht Abstrich von der den nationalsozialistischen und SS-Tugenden zugrunde liegende Pervertierung. Wegner spricht diese Erscheinung lediglich als "Prozess semantischer Verschiebung" an (S.32; er führt am Beispiel des Autoritarismus (S.32-34) und des Militarismus (S.34-38)aus)). Doch Pervertierung ist mehr als "Verschiebung", sie führt im äußersten Fall zur qualitativen Abänderung der Tugenden in Anti-Tugenden.
Nationalsozialistische und SS-Treue, -Ehre und -Gehorsam funktionierten nur dem Glauben nach als Tugenden, sie waren aber durch die Zielstellungen, denen sie untergeordnet und dienstbar gemacht (=mißbraucht) wurden, nämlich Krieg und Vernichtung, zu effektiv menschenverachtenden, -herab- und -entwürdigenden Instrumenten degradiert.
Wenn nun Treue, Ehre und Gehorsam im geschlossenen nationalsozialistischen und SS-(Un-, Anti-)Wertesystem noch eine gewisse Rechtfertigung besitzen, kommt das für den Schicksalsbegriff überhaupt nicht infrage, weil an ihm - in Verbindung mit der Auffassung vom Führer als Erlöser - die Willkürlichkeit menschlicher Intentionalität augenscheinlich ist: es ist doch nicht so, daß der nationalsozialistische und SS-Schicksalsbegriff als apriori gegebenes Absolutum einzustufen ist, selbst wenn das der nationalsozialistische Vorsatz war, sondern ein menschliches Konstrukt, ein Ideolo- bzw. Mythologem, das den Zweck der Manipulation und Instrumentalisierung erfüllte. Letztere fand im sogenannten Dienen bzw. Dienst an einem überpersönlichen, angeblich den Volkswillen repräsentierenden Ideal Niederschlag.
Christliche Ideolo- und Mythologeme sind gewiß auch Konstrukte, doch im - grundlegenden - Unterschied zu denen des Nationalsozialismus und der SS sind sie das Ergebnis jahrhundertealten Werdens, einer organischen, geschichtlichen Entwicklung. Darin liegt bereits ihre Legitimität. Ihre Langatmigkeit ist doch die Gewähr der Legitimität. Die nationalsozialistischen Konstrukte strebten zwar Langatmigkeit = Dauerhaftigkeit an, diese war ihnen aber in mehrfacher Weise versagt:
a) sie besaßen keinen
ernsthaften Rückhalt im tradierten Wertesystem;
b) sie erhoben den Anspruch,
revolutionär zu sein, was sie auch durch die kompromißlose Ablehnung
des überlieferten Wertesystems waren; sie waren das Ergebnis des Anspruchs
auf einen absoluten Neubeginn - mit der Einschränkung, daß auf
die germanische Vergangenheit und das deutsche Mittelalter zurückgegriffen
wurde, um doch eine in der historischen Tradition angesiedelte Legitimierung
zu erzielen.
Die nationalsozialistischen Treue-, Ehre- und Gehorsamsbegriffe sind
ausnahmslos ideologische Ausgeburten, deren Genesis und Ausstrahlung mit
dem Odium des Arbiträren, des Willkürlichen, der Willkür
befrachtet ist. Ideologie ist nun mal gedankliche Willkür - Willkür
der Gedanken -, in äußerster Form Ideenterror politischer Ideologie
(Zur Definition von "Ideologie" vgl. auch Wo
setzt Ideologie ein?)
Bernd
Wegner meint, die "nicht ohne Erstaunen vorgetragene Feststellung,
daß ausgerechnet die SS als gesellschaftliche "Gegenelite" in so
starkem Maße auf traditionelle Führungsschichten zurückgegriffen
habe", kennzeichnet, "zumindest was die bewaffneten Teile der SS angeht,
nur eine bestimmte, für den Übergang des Nationalsozialismus
von der Bewegungs zur Systemphase charakteristische Zwischenstufe in der
Entwicklung der SS: Vor der "Machtergreifung" vornehmlich eine Bewegung
von Unterprivilegierten, begann die SS auf obermittelständische Schichten
just in dem Moment verstärkt zurückzugreifen, als sie sich anschickte,
die traditionellen staatlichen und gesellschaftlichen Machtzentren zu erobern"
(S.257f.). Zu diesen "Unterprivilegierten zählten bekanntlich
zu großem Teil ins Abseits gedrängte Randexistenzen, manche
sogar kriminell belastet, die nun in der und durch die Bewegung die Chance
witterten, in irgendeiner Form zur Geltung zu gelangen, doch nicht nach
der Maßgabe der vermeintlich von den Juden vorgegebenen Konkurrenzregeln
der freien, liberal organisierten Gesellschaft der Weimarer Republik, sondern
nach der rassischen, militanten, exklusivistisch-intoleranten, auf rassistisch-nationalistischer
Behäbigkeit beruhenden Kampf- und Promovierungsregeln der NSDAP. Selbst
wenn der freie Wettbewerb der Weimarer Republik von Cliquenwirtschaft,
die ausschließlich Juden vorgeworfen wurde, dominiert war, so war
er doch frei und größtenteils friedlich (abgesehen vom Klassenkampf
der Linken und dem paramilitärischen und militärischen Gehabe
des nationalsozialistischen Militantismus), was dem nationalsozialistischen
Modell der politischen Artikulation nicht nachgesagt werden kann, wo letztere
die vollständige, totale Kontrolle der Gesellschaft und des Staates
anstrebte, die jegliche freiheitliche Regung im Keim erstickte. Die nun
an die Macht gelangten "Unterprivilegierten" Wegners teilten die Freiheit
nach ihrem Verständnis aus, indem sie ihre eigene, parteipolitische
Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit, die der nationalsozialistischen Willkür
entspricht, für die des ganzen Volkes hielten.
Auch die konkreten Pläne der Reichsführung-SS aus der Vorkriegszeit in Richtung Einführung einer SS-eigenen Gerichtsbarkeit, auf die Wegner eingeht, ändern nichts daran, daß zwischen der Einführung der Sondergerichtsbarkeit und dem Polenfeldzug ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Wegner betont, daß die Einführung der SS-Gerichtsbarkeit ganz auf der Linie von Himmlers seit der Mitte der dreißiger Jahre betriebenen Politik lag, doch er unterschlägt den mörderischen Anlaß. Er bringt die neue SS-Gerichtsbarkeit mit der Schaffung der Waffen-SS in Verbindung und meint, sie "bekräftige gerade durch ihre Analogie zur Wehrmachtsgerichtsbarkeit den Anspruch der bewaffneten SS - einschließlich der nicht immer uumstrittenen Junkerschulen und Totenkopfverbände - auf militärische Gleichberechtiguung" (S.321). Das mag alles stimmen, doch daß diese Gerichtsbarkeit ein Patent zum schrankenlosen Morden (license to kill) war, verkennt Wegner, auch schon deshalb, weil er den einseitigen Auslegungen des SS-Angehörigen Fritz Grau, Die neue SS- und Polizeigerichtsbarkeit, in: Deutsche Justiz, 101. Jg./Ausgabe A, Nr.48/1.12.1939, S.1785 vorbehaltlos Glauben schenkt. Wegner vermeint in der Zielsetzung der militärischen Gleichberechtigung "versteckte politische Brisanz" zu erkennen, "die den ungewöhnlichen Umstand erklärt [sprich: erklären soll], daß die SS- und Polizeijudikation, obgleich längst beschlossene Sache, in den für das Verhältnis von Wehrmacht und bewaffneter SS grundlegenden Führererlassen vom 17. August 1938 und vom 18. Mai 1939 mit keinem Wort erwähnt ist" (S.321). Die Nichterwähnung geht doch darauf zurück, daß es noch keinen konkreten Anlaß zu einem solchen Schritt gab. Den Anlaß bot der Polenfeldzug, so daß wiederum klar wird, daß das eigentliche Element der SS der Krieg, der Kriegszustand war, der es ihr ermöglichte, für jene extremen Aufgaben eingesetzt zu werden, für die sie ja aufgebaut worden war.
Wegner bemerkt sodann, die gemeinsame Strafrechtspflege von SS und Polizei eigente sich vorzüglich, die von Himmler so vehement betriebene, in der Idee eines übergreifenden "Staatsschutzkorps" gedanklich vorbereitete Verschmelzung beider Institutionen voranzutreiben. Doch wir glauben, es ging Himmler ausschließlich darum, seine persönlichen Kontroll- und Zugriffsmöglichkeiten zu vermehren, daß heißt, seine Machtposition zu stärken.
Auch der Begründung, die Wegner dem Bemühen, SS- und polizeigerichtlich Verurteilte "grundsätzlich nicht mehr zum Bewährungseinsatz an die Wehrmacht" abzugeben (5.5.1944) und Himmlers Sträuben zugrundelegt, dem OKW irgendwelche Auskünfte, selbst statistischer Art, über Spruchpraxis und Strafvollstreckung in der SS zu erteilen (11.6.1944), nämlich "das beständige gegenseitige Mißtrauen zwischen Wehrmacht- und SS-Führung" (S.323) können wir nicht zustimmen. Es ging Himmler doch darum, einmal zu verheimlichen, wie hoch das Strafvergehen in den Reihen der SS war und andererseits wieviele der Fälle wirklich abgeurteilt bzw. bestraft wurden. Es hätte sich nämlich leicht herausstellen können, daß die verzeichneten bzw. abgeurteilten Fälle zahlenmäßig unverhältnismäßig gering waren im Vergleich zu den eigentlich begangenen systematischen Verbrechen, die der Wehrmacht zum Teil auch bekannt waren. Denn der Verdacht, daß die SS mit ihrer neuen, unabhängigen Gerichtsbarkeit sehr großzügig operierte, war durchaus nicht gegenstandslos.
Das Recht der Kommandeure als Disziplinarvorgesetzte im Vorfeld juristischer Ermittlungen zu entscheiden, ob "der zur Debatte stehende Fall dem zuständigen Gericht [...] vorgelegt werden" müsse (14.12.1939) (S.323), belegt die Großzügigkeit, mit der die SS Straftaten handhabte.
Es dünkt Wegner "bemerkenswert", "daß als Herausgeber solcher Entscheidungshilfen [Richtlinien und Sammelerlasse des Hauptamtes SS-Gericht] und als federführende Ministerialinstanz hinsichtlich aller Disziplinar-, Strafrechts- und Ehrenfragen eine ganz nach SS-mäßigen, nicht juristischen Grundsätzen arbeitende Behörde, nämlich das Hauptamt-SS-Gericht, fungierte" (S.324). Wir finden daran nichts Verwunderliches, weil die SS ihre eigene Vorstellung von Gerichtsbarkeit hatte, die objektiv gesehen keine war, sondern ein ausgeklügeltes Vertuschungsinstrument, das sie nun vollkommen unabhängig praktizieren konnte.
In dieselbe Richtung weisen die Polemiken des Hauptamtes SS-Gericht gegen die "verkalkten Juristen alter Schule". "Verkalkt" konnte für die SS-Rechtsexperten nur die Rechtssprechung sein, die entgegen der ihr durch den Parteitotalitarismus aufgezwungenen Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit doch noch versuchte, gerecht zu sprechen.
Es dürfte einleuchten, daß von einer Organisation, die auf Vernichtung bzw. Versklavung rassisch Minderwertiger angelegt war, auch keine moralische Rechtssprechung zu erwarten war. Ihr lag ein ureigener Sondermoral- bzw. Sonderehrenkodex zugrunde, deren Maßgabe nicht der hergebrachte Menschen- bzw. Menschlichkeitsbegriff war, sondern die allzu konkreten Begriffe 'deutsches Volkstum' und 'nordische Rasse', weshalb zutiefst unmenschlich und menschenfeindlich. Die SS-Moral war eine ANTIMORAL, was auch auf deren Ehrenkodex gilt.
Wegner spricht das nationalsozialistische System als "von situationsbedingten
Willkürentscheidungen geprägt" an, in dem die SS-eigene Gerichtsbarkeit
dem SS- und Polizeiangehörigen auch ein Minimum an Rechtssicherheit
garantiert haben soll (S. 324). Doch über "Willkürentscheidungen"
im Rahmen der SS, auch der Waffen-SS, schweigt sich Wegner aus. Er vergißt,
daß eine Rechtssprechung nicht nur durch Willkürlichkeit
als willkürlich zu gelten hat, sondern, und insbesonders durch willkürlich
nichtgesprochenes, also vereiteltes Recht. Und die SS-Gerichtsbarkeit
war in der Hauptsache auf das letztere eingerichtet. Wie wurde diese Vereitelung
gehandhabt? Die SS-Gerichtsbarkeit war prinzipiell darauf angelegt, Vergehen,
die das auf Menschlichkeit beruhende Rechtsempfinden zur Verhandlung und
Aburteilung gebracht hätte, entweder ganz zu übersehen oder systematisch
zu bagatellisieren, indem solche Vergehen einfach als Disziplinarverstöße
ausgelegt wurden. Die Freiheit der Kommnadeure, über die Schuldhaftigkeit
ihrer Untergeordneten zu entscheiden, lieferte eine weitere Handhabe, Straftaten
erst nicht einmal zum Hauptamt SS-Gericht gelangen zu lassen. Man bedenke,
daß kein Kommandeur schlecht abschneiden wollte, indem er durch die
häufige Ahndung von Disziplinarvergehen und anderen Straftaten aufgefallen
wäre. Damit waren VERTUSCHUNG und BAGATELLISIERUNG ein Hauptgegenstand
der sogenannten SS-Sondergerichtsbarkeit.
Datei: SS.htm
Angelegt: 05.02.1999
Verändert: 21.03.1999
Autor: Klaus Popa