Nebelhaftes Europaverstaendnis
Nebulous Notion of Europe

       Die bluetenreiche Journaille der Volksgruppenzeit wurde auch von Schreibern vertreten, die ausser poetischen Regungen auch vermeinten, in geopolitischen Angelegenheiten ausreichend bewandert zu sein. Dr. Otto Liess liefert ein aufschlussreiches Beispiel. Ab dem ersten Heft 1941 der sich "Zeitschrift des Suedostens" nennenden Publikation "VOLK IM OSTEN" zeichnete Liess als verantwortlicher Schriftleiter und liess seine poetische Ader gleich auf S.1 sprudeln:

30. Januar 1933

Als dann im Reich des Todes das Fackelmeer ergluehte -
wir standen draussen und vor Freude stumm -,
brach in uns auf des Gottes herbe Guete,
doch wussten wir: der Kampf ist nicht herum!

Die andern traten an uns, lauernd und voll Hassen:
"Wer ist's, dem ihr gehorcht, sind wir es nicht?"
Sie wollten, dass wir unsern Glauben lassen
und ahnen doch, dass man ein Volk nicht bricht.

Im Tagwerk spüren wir die Ewigkeit,
die uns nicht ausloescht, weil wir ganz uns gaben
und weil die Toten unsre Brueder sind.

Gebannt in Einsamkeit und Lug und Streit,
Stehn wie die Maenner unsre jungen Knaben,
Die wissen, dass der letzte Kampf beginnt.
 

      Doch nun zu Liess' geopolitischen Auslassungen. In der "Suedostdeutschen Tageszeitung" vom 23. Mai 1943 schreibt er den Leitartikel
Kampf um die Fuehrung im Suedosten,
der den Leser des 21. Jahrhunderts nicht besonders angenehm beruehrt. Liess bedient die altbekannten ideologischen Klischees der Wir/Sie Dichotomie, in der Form "Wir, die Erlesenen, Erleuchteten, Begnadeten, Aufrechten, Geradlinigen, Gruendlichen, Helden, Befreier, Lichtgestalten" - "Sie, die Betrueger, Luegner, Verhetzeer, Unterdruecker, Verschwoerer, Mordgesellen". Diese Klischees sind mit dem politischen Mythos verflochten, der Eroberungszug in Europa habe deutscherseits Europa, den Werten europaeischer Kultur und Zivilisation, der Abwehr und Ausschaltung der aus den Steppen des Ostens akuten Gefahr lauernder Bolschewistenhorden gegolten. Doch der hier vertretene Begriff des kuturellen und zivilisatorischen Europa gilt ausschliesslich dem germanisch gepraegten Mitteleuropa. Die sogenannten "westlichen Randvölker des Kontinents", d.h. die Franzosen, aber vor allem die Englaender, als Kriegsgegner, vertreten weder die europaeische Zivilisation, noch den europaeischen Gedanken, weil sie nun mal gegen das deutsche Mitteleuropa seit altersher feindselig auftraten und sich deshalb aus Europa selbst ausgeschlossen haben. Und einen nicht geringen Anteil an diesem  franko-angelsaechsischen "Aussenseitertum" haben die Juden und "Levantiner", die laut Liess auch die Staaten des europaeischen Suedostens aus der "europaeischen Front" unter der Fuehrung Grossdeutschlands herauslocken wollen. Den Anlass zu Liess' Artikel wie zu letzterer Behauptung lieferten die allmählich konkret werdenden balkanischen Landungsabsichten der Alliierten.

        Liess behauptet zunaechst, "die Fuehrung des Suedostens lag ja in allen Zeiten europaeischer Verteidigung in den Haenden Mitteleuropas". Ueber die Niederlage der Hunnen auf den katalaunischen Feldern, die Abwehrschlacht gegen die Mongolen bei Liegnitz, die Herrschaft Karls des Grossen gelangt Liess zu der "Zeit der Ohmacht des Reiches", als "der tuerkische Imperaialismus" auf die Balkanhalbinsel eindrang und bis Wien und Lemberg vordrang. Bevor Moskau im 18. und 19. Jahrhundert die "Gefahr" war, "retteten die Heldentaten des Prinzen Eugen und seine bäuerliche Erschliessung des Suedostraumes diesen Teil des Abendlandes". Diese Ereignisse aber vor allem die Praesenz deutscher Soldaten, die im Jahr 1943 "vor den Toren des Balkan-Donauraumes gegen Osten und Süden" stehen, zeigt "eindrucksvoller als je die Zusmamengehoerigkeit der Mitte Europas und des Balkans." Obzwar "das Reich" "seit einem Jahrtausend den Laendern des Balkan-Donauraumes seine besten Pioniere, wirtschaftliche und verwaltungsmaessige Organisation, kulturelle und ost auch gesellschaftliche Form geschenkt" hat, "stehen wir auch heute noch in dem geistigen Ringen um die

totale Einheit,
um die geistige Fuehrung in dem suedlichen Vorwerk des Kontinents.[...]"
        Liess beklagt, dass "besonders in den letzten Jahrzehnten die rein menschliche Bindung zum deutschen Wesen, die oft fester zusammenschliesst als nuechterne Tatsachen" oft fehlte. Das "wechselseitige Verstehen und die Bewertung der gegenseitigen Leistungen" war laut Liess gegeben, solange "die im Suedostraum beheimateten Menschen allerdings ihre Aufgabe ungeschmaelert erfuellen konnten: kolonisatorische Erschliessung des Raumes, Abwehr gegen Asien, Verhinderung raumfremder Einfluesse". "Seit aber rein
etatistische und Grossmachtideologie der einzelnen Staaten des Balkans den Usurpatoren
dieser Länder den Willen zur Wirklichkeit nahmen1, ging man ueber die Kulturtaten dieser Deutschen ebenso hinweg, wie ueber den Deutschen des Binnereiches. Die franzoesische und englische Propaganda reicht ja weit hinter den letzten Weltkrieg zurueck. Nur so konnte auch der einfache Mann von der Strasse im Deutschen ploetzlich entweder den ahnungslosen Dichterling oder den schreckenerregenden, alles "raubenden" Barbaren sehen2."


1 Etatismus franzoesischer Herkunft versus reichsdeutschen Nationalismus. Doch den Nationalsozialismus als harmlose, fern von Grossmachtgeluesten stehende Ideologie darzustellen, haelt ernster Kritik nicht stand. Und die bis zu einem gewissen Grad legitimen Regierungen der Balkanlaender als Usurpatoren einzustufen, nur weil sie sich in die Interessensphäre des Reiches nicht einbinden liessen, ist ein typisches Beispiel fuer eine ideologisch-politische Auffassung, die alles, was der unter Adolf Hitler angestrebten TOTALEN EINHEIT Europas widerstrebte und sich widersetzte als illegitim= usurpatorisch brandmarkte. Dass der eigentliche USURPATOR aber gerade der angehimmelte Fuehrer war und seine nationalsozialistische Ordnung eine Usurpierung politischer und von Menschenrechten, konnte einem fanatischen Nationalsozialisten wie Liess nicht auffallen.
2 Interessante imagologische Verdrehungen!


        Die weiteren Ausfuehrungen Liess' werfen der frueheren deutschen Politik vor, "die breite Masse" der Balkanlaender "menschlich und propagandistisch nicht erfasst" zu haben, "die hohen Preise des Weltmarktes" fuer diese Laender bezahlt und deutsche Waren dorthin verkauft zu haben und sich begnuegt zu haben, Kultur gebend zu vermitteln. Dabei vergaß sie, "dass inzwischen die westlichen Randvoelker des Kontinents in dem Bestreben eine europaeisch-asiatische Vorhut gegen die Erdteilmitte zu schaffen, die wichtigen und wenigen Mittel der öffentlichen Beeinflussung in diesen Laendern in die Hand genommen hatten. Juden, kaeufliche Levantiner und Menschen, die von der selbstlosen Weltherrschaftsgroesse oder der merkantilistischen Pracht eines Louis XIV. verzaubert waren, versuchten unabhaengig jeden Tag, jahrhundertealte Tatasachen Luegen zu strafen. Sie erzogen das Volk durch aufgedraengte oder unechte Mythen zu einem wirklichkeitsfremden Denken3 und machten es dadurch von vornherein zur Beute irgendwelcher zuendender [...]4 Parolen."


3 Das nationalsozialistische Mythen- und Mystifizierungsgehabe war wohl wirklichkeitsnaher!
4 Unleserliches Wort.


        Das Ergebnis sah 1940 so aus, dass allein Bulgarien sich den Mittelmaechten anschloss. Liess meint, "die gleiche Schwierigkeit ergab sich aber selbst nach 5 Jahren nationalsozialistischer Fuehrung 1939-1940, als die meisten Staaten des Suedostens einer Meute englisch-franzoesischer Agenten mehr glaubten als einer "Tuchfuehlung" - nahen Wirklichkeit. Fuer die innerlich unwahren Absichten dieser Sendlinge Westeuropas war bezeichnend, dass Frankreich sich stets neben der zivilisatorischen Tünche,  England aber mit jener wirtschaftlichen Vorherrschaft und der Bewunderung seiner gesellschaftlichen Formen begnügte, um dann dafuer das Blut dieser Voelker und den politischen Selbstmord dieser Staatsgebilde zu fordern5." Im Gegensatz  dazu soll die "deutsche "Gruendlichkeit"" gleich daran gegangen sein, "die Voelker kulturell und politisch zu ihrem eigenen Wesen zu fuehren6. Dass sie dabei eine levantinische Fuehrungsschicht nicht immer ueberzeugen konnte, ist verstaendlich. Ist dafuer das Schicksal Serbiens, ist dafuer der Ausbruchsversuch Griechenlands nicht bezeichnend? War doch auch Rumaenien erst in aeusserster Not und nach einem Wechsel der Fuehrung bereit, an die Seite seiner natuerlichen Verbuendeten zu treten7. Der Balkan war seit Kriegsbeginn zweimal das grosse Angriffsziel und immer wieder das Ablenkungsmanoever der europaeischen Randmaechte des Westens [....]


5 Harte Worte die aber ebensoviele Stereotype aussenpolitischer Nazi-Propaganda darstellen.
6 Interessante Sichtweise deutscher "Tiefenarbeit".
7 Statt "natuerlicher Verbuendeter" trifft eher der an mittelalterliche Verhaeltnisse erinnernde Begriff  "natuerlicher Herr(scher)" zu, zu dem Rumaenien und die anderen Balkanstaaten, solange sie nicht besetzt waren, in einem Vasallenverhaeltnis standen.


        [...] Aus einem tiefen Verantwortungsgefuehl fuer die europaeische Voelkergemeinschaft hat der Nationalsozialismus auch erkannt, dass es selbst heute im Krieg nicht bloss die Angelegenheit kommender Tage ist, neben die militaerische Vorbereitung die geistige und seelische Offensive um die Seelen dieser Voelker9 zu stellen. Es geht heute darum, diese zum staatlichen Bewusstsein erwachenden Voelker10 aufzuruetteln, in die tiefsten Schichten des sozialen Aufbaues einzudringen, damit nicht aus Tagesparolen heraus, sondern aus einem gemeinsamen Willen der militaerische und politische Kampf um die Einheit Europas gewonnen werde. [...]"

        Das Ziel der nationalsozialistischen Propagandoffensive, der sich  Dr. Otto Liess bedingungslos in den Dienst stellt, soll das

europaeische Gemeinschaftsgefuehl
sein, das diesen Raum geistig erobern muss und zusammen mit dem gemeinsamen Kampf "die Bruecke schlagen" soll, "die den Voelkern des Suedostens die Klarheit der Aufgabe und das Ziel nach einem schweren, aber siegreichen Kampf zeigt."

        Dass diese auch von der "Suedostdeutschen Tageszeitung" getragene propagandistische Offensive zu spaet gestartet wurde und auch deshalb ergebnislos verpuffte, beweist die sich stetig  zu ungunsten der "europaeischen Streitkraefte" unter deutscher Fuehrung neigende militaerische Gleichgewicht bis hin zur Niederlage.



8 Es bleibt ein Raetsel, wieso das Ueberziehen Europas mit einem bis dahin unbekannte Ausmasse annehmenden Vernichtungskrieg als "Verantwortungsgefuehl fuer die europaeische Voelkergemeinschaft" paraphrasiert werden kann.
9 Lies "propagandistische Offensive".
10 Oben verdammte Liess das "etatistische" Frankreich, hier hebt er das etatistische=staatliche Bewusstsein der Balkanvoelker hervor. Damit stehen wir vor einem Beispiel, wie Wortverdrehungen der Nazi-Propagand funktionierten: ein und dieselbe politische Realitaet wird vollkommen willkuerlich dem einen Staat (hier dem feindlichen Frankreich) abgesprochen, hingegen den besetzten bzw. Vasallenstaaten zuerkannt. Die letztere Instanz kann in ihrer Inkonsequenz und Paradoxie kaum ueberboten werden: besetzte, geknechtete Staaten bzw. eng an das expansionistische Deutschland angelehnte Staaten (wie Rumaenien oder Ungarn) sollen zu staatlichem Bewusstsein erwachen, wo deren Staaten entweder nicht mehr existierten oder eine stark eingeschraenkte Souveranitaet besassen.


Datei: Geopolitik.htm                       Erstellt: 18.09.2000                                   Autor: © Kaus Popa

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