Es faellt insgesamt auf, dass die historische Betrachtungs-, Zuordnungs-
und Interpretationsweise Ritters ganz im Zeichen der 70er Jahre steht,
als die bundesrepublikanische Geschichtsforschung nur so unter der Buerde
des FUNKTIONALISMUS und der Analyse organisatorischer Strukturen stoehnte.
So heisst es auf S. 40: die 'instrumentalistische' Betrachtung eines Uwe-K.
Ketelsen (1992, 1994) sei "durch eine 'funktionale'
" Betrachtung zu ergaenzen. Auf S. 48: "Politik, Institutionen und Ideologie
aber sind Teile von Oeffentlichkeit der Bevoelkerung, Funktion von individuellen
und kollektiven Erwartungshaltungen, Folgen historischer Bewusstseinsgeschichte,
aktuelle Einflussnahmen, [...]", die Verfasser, gewiss im Einklang zu seinem
funktionalistischen Geschichtsverstaendnis, vor der "Kausalitaet eines
Taeter-Opfer-Vorgangs" schuetzen will, welche „Kausalitaet“ er wie ein
Schreckgespenst verwirft. Auf S. 49 in Verbindung mit den Befunden einer
amerikanischen Geschichtsstudie: "Der Erkenntnisgewinn liegt in der differenzierten
Aufschluesselung eines transatlantischen Funktionsgefueges von
parteiamtlich gestuetzten, volkstumsideologisch
und nationalsozialistisch aggressiv agierenden Institutionen des Deutschen
Reiches, [...]".
Zentral erscheint Ritters Intention, die beiden grundlegenden, hochaktuellen Herangehensweisen der zeitgenoessischen bundesrepublikanischen NS-Historiographie, die Taeterproblematik und die Personalisierungs-Debatte, von der auslanddeutsche Literatur der NS-Zeit als Forschungsobjekt und vom einschlaegigen Forschungsdiskurs fernzuhalten. Eindeutig in diesem Sinn ist seine bereits zitierte Aussage von S. 48: "Politik, Institutionen und Ideologie aber sind Teile von Oeffentlichkeit der Bevoelkerung, Funktion von individuellen und kollektiven Erwartungshaltungen, Folgen historischer Bewusstseinsgeschichte, aktuelle Einflussnahmen, die nicht die Kausalitaet eines Taeter-Opfer-Vorgangs generieren." (Hervorhebung Klaus Popa).
Dass Verfasser diese Argumentation auf Gerndt, Volkskunde und Nationalsozialismus
(1987) stuetzt und die neuesten Erkenntnisse des Bandes Voelkische Wissenschaft.
Gestalten und Tendenzen der deutschen und
oesterreichischen Volkskunde in der ersten
Haelfte des 20. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Jacobeit, Hannsjost
Lixfeld und Olaf Bockhorn (Wien Koeln Weimar 1994) ignoriert, spricht nicht
eben fuer ihn. So nimmt es auch nicht Wunder, dass Ritter seine Scheu vor
der Personalisierung des Forschungsdiskurses wiederum mit Gerndt zu begruenden
versucht: es gebe naemlich
Wenn man eben ganze Sparten des Forschungsobjekts aussparen will, dann tut man es eben, doch dass das dem Forschungsdiskurs kaum foerderlich ist, bedarfGrenzen der Personenbeurteilung, weil solche Urteile [angeblich] in den personalen Kommunikationskreis und damit in die personale Lebenszeit gehoeren und sich sachwissenschaftlicher Kompetenz entziehen. [...] personale Aussagen dagegen, die ein moralisches Urteil ueber die Person einschliessen, sind heute in der Regel – und zumal nur aus wissenschaftlicher Perspektive – nicht leistbar und darum fehl am Platz (S.44).
Ueber die hier beanstandete "Monokausalitaet" weiter unten.[...] dass der Zusammenhang von NS-Ideologie und Minderheit nicht durch monokausale Taeter-Opfer-Wirkungsketten (Taeterhierarchie), sondern in ideologisch und organisatorisch vernetzten Wirkungsfeldern etc. (S.52).
Was Verfasser von Ideologiekritik haelt, sagen folgende Stellen aus:
zu Don Heinrich Tolzmann heisst es:Mag die in den vielen vergleichbaren Darstellungen grundsaetzlich identische Perspektive die heutige Beschaeftigung unter ideologiekritischen und sachbezogenen Aspekten ueberfluessig erscheinen lassen, [...] (S.47);
Dieser Versuch einer Gesamtdarstellung neige zu einer ideologiekritisch glaettenden Perspektive. (S.49, Anm. 117).
Dass es Ritter nicht um Sachbezogenheit geht, belegen bereits obige Zitate,
vor allem die von S. 44, 47 und 50. Dass Verfasser den wissenschaftlichen
Diskurs auf blosses "Fragen" = Stellen von Fragen, reduziert -
Verfasser nennt es "Fortzusetzendes Fragen" (S.50), das sich in der wiederholten Aufstellung von (Forschungs?)Programmen und Programmatiken erschoepft (vgl. S. 50):
der Verfasser insgesamt 7 neue Programmpunkte folgen laesst -,[...] erinnere ich an meine programmatische Zusammenstellung von 1994, [...],
belegt seine geballte Aussage:
Einige Zeilen tiefer formulieren Verfasser in ebenso neutraler Tonart: "fachwissenschaftlichem Fehlverhalten" (Alles S.36).Bei der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit Minderheitenkultur, Einzelpersoenlichkeiten und ihren Bezuegen zum "Dritten Reich" geht es nicht [...] um die Abqualifizierung eines Lebenswerks. Die wissenschaftsgeschichtlich notwendige Sichtung und Analyse zieht darauf ab, zu erklaeren und zu begruenden, dass die "Koordinaten voelkisch-nationaler Vorstellungszusammenhaenge und die Grundlagen des faschistischen und nationalsozialistischen Ideologiekonglomerats als antiaufklaererische, prinzipiell inhumane [...]" (Conrady) sind“. Die Frage lautet, wie und in welchen Zusammenhaengen es zu biographischen Fehldispositionen und wissenschaftlichen Fehlleistungen im Kontakt mit dieser inhumanen Ideologie und Staatsorganisation gekommen ist, [...].
Nun meine Frage: wie will der Verfasser unter den von ihm hartnaeckig vertretenen
Voraussetzungen "erklaeren und begruenden", die weder Taeterorientierung,
noch Ideologiekritik zulassen, weil eine vorgebliche Gefahr der "Monokausalitaet",
weil „Infragestellung von Lebenswerken“ drohe ? Dass der funktionalistisch
gepolte historiographische Diskurs recht mangelhaft und
unbefriedigend ist, hat die Entwicklung der
bundesrepublikanischen NS-Forschung doch hinlaenglich bewiesen. Doch Verfasser
versteift sich weiterhin auf dieser einseitigen und ganz sachungerechten
Sicht- und Forschungsweise, die zwar
organisatorisch-funktionalistische Aspekte
festhaelt, aber die menschlichen, die humanen Dimension des NS-Treibens
ignoriert. Denn im Geflecht der NS-Organisationen standen Einzelmenschen
und Menschengruppen, deren Motivationen,
Initiativen, Taten doch nicht einfach fallengelassen
werden koennen. Diese Organisationen und Funktionen, die von Ritter vielbeschworene
"Funktionalitaet" schwebte doch nicht irgendwo in der Schwerelosigkeit,
sondern ist der eindeutige
Ausdruck von Menschenwerk, das von Menschen
fuer Menschen geschaffen wurde - in unserem Fall ausschliesslich von „deutschen“
und fuer „deutsche“ Menschen, ungeachtet dessen, ob es Reichsbuerger oder
„Auslanddeutsche“ waren -, eben
von diesen allzu „deutschen“ Menschen in Gang
gesetzt und betrieben und auch eifrig und zielstrebig zu dem weiterentwickelt,
was als NS-"Perfektion" galt !
Verfasser unterzieht zusammen mit Gerndt diese grundlegenden Aspekte einem Tabuisierungsgsaufwand, indem Verfasser Gerndts Standpunkt vorbehaltlos teilt, dass diese Aspekte zwingend „in die personale Lebenszeit gehoeren“, dass sie unantastbar, nicht hinterfragbar seien ! Wenn man das so haben will, dann gilt es eben, und dann sind zusammen mit Gerndt
Dass die Realitaet des Forschungsobjekts und des wissenschaftlichen Diskurses ganz anderswo angesiedelt ist und ganz anders operiert, moechte ich an der Notwendigkeit moralischer Beurteilung festhalten. Wie will Ritterden NS in all seinen Facetten sachgerecht beurteilen, wenn er einen, wenn nicht sogar den zentralen Punkt der NS-Doktrin, das sogenannte „Sittlichkeits- und Moralgefuehl der germanischen Rasse“, das die unmoeglichsten Taten und Aktionen motivierte, durch moralische Enthaltsamkeit total ausblendet, also eigentlich ungeschehen macht ? Wie sollte ein politisches und ideologisches System, das sich in seinem Selbstverstaendnis als Inbegriff der hoechsten, der reinsten Sittlichkeit und Moral verstand, ausserhalb moralischer Massstaebe „erklaert und begruendet“, wissenschaftlich begriffen und ausgelegt werden ? Auf keinen Fall durch das Abstreifen der moralischen Sichtweise ! So erfaehrt die von Ritter vertretene menschenlose, menschenentleerte Funktionalitaet eine jede Wissenschaftlichkeit spottende Potenzierung hin zu einem Diskurs, der jeden moralischen Massstab prinzipiell ablehnt.personale Aussagen, die ein moralisches Urteil ueber die Person einschliessen [...] heute in der Regel – und zumal nur aus wissenschaftlicher Perspektive – nicht leistbar und darum fehl am Platz.
Auch scheint Ritter entgangen zu sein, dass sein eigener Funktionalismus und der daraus entspringende Diskurs sich darauf beschraenkt, Organisationen, Organisationsgeflechte und Funktionen zu benennen, also quasi zu inventarisieren, aber deren Inhalte, deren Bedeutung, deren Sinn, deren Ziel, also deren immanente FUNKTIONALITAET, zu ignorieren. Die Konsequenz ist, dass Verfasser sich nur auf der Oberflaeche des NS-Komplexes bewegt, hingegen die Gehalte, die Inhalte, die Bewandtnis dieses Komplexes ausspart. Statt sich um diese Inhalte, Intentionen, Ziele zu kuemmern, beschraenkt Ritter seinen Diskurs auf ein unendliches "Gefrage". Verfasser kommt ueber das Stadium des "Fragens", des Augen-Reibens eines sich immer wieder verwundernden Kindes nicht hinaus, was er am Ende des Aufsatzes sogar unterstreicht:
Verfasser plaediert also fuer das Weitertreten der "Frage"-Muehle, Verfasser plaediert dafuer, dass das, was er "sachliche Fragehaltung und Fragerichtung" nennt, also die einfache Fragerei das eigentliche Forschungsobjekt und den Forschungsaufwand substituiert. Und das Ganze noch mit ueberbordenden Programmentwuerfen garniert. Auf diese Weise wird Ritter niemals zu des "Pudels Kern" vordringen, sondern sich im Geflecht seiner Fragen und Programmpunkte nurEs sind in der Tat die aufzuwerfenden Fragen, denen nachzugehen ist, aber unter den wissenschaftlich angemessenen Umstaenden von sachlicher Fragehaltung und Fragerichtung. (S.54)
Um konkreter bezueglich Ritters Methodik zu formulieren: nicht die Art
der Fragen, nicht die Zielrichtung der Fragen ist entscheidend, allein
das Forschungsobjekt, in unserem Fall der NS-Komplex. Der gibt die Masstaebe
auf, er gibt die Fragen, deren Inhalte, deren Ziel vor und die sollten
vom Forscher als solche akzeptiert werden. D.h. die Fragen, die Fragestellung
hat sich nach dem Forschungsobjekt "NS-Komplex" zu richten, nicht umngekehrt
! Die Fragen sind naemlich aus diesem Objekt abzuleiten. Das Objekt ist
nicht unter einem Korsett von Tabuthemen und –zonen wie „Infragestellung
eines Lebenswerks“ oder aehnlichen Vorbehalten zu ersticken. Es kommt doch
darauf an, das Forschungsobjekt zur Sprache zu erwecken, dessen eigene
Sprache zu verstehen, nicht das Forschungsobjekt seiner eigenen Sprache
zu berauben, ihm eine wesens- und inhaltfremde Sprache aufzuzwingen, indem
man seine Botschaft durch einen undurchlaessigen und undurchdringlichen
Wall von „Fragen“ und „Programmpunkten“, also mit Konstrukten verbaut,
die aus zweifelhaften Vorwaenden erwachsen. Serioese HERMENEUTIK erfordert
und verbuergt das !