DIE TOTGESCHWIEGENE DIMENSION
The Hushed Up Dimension

IX.



Die zum System erhobene Einseitigkeit

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Die durch die Besprechung des Buches Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda, Marburg 2000, von Michael Fielitz durch Michael Fahlbusch auf dem Historikernetz HSoz&Kult der Humboldt-Universitaet seitens Stefan Scheil in Gang gesetzte Diskussion veranlasste auch den Verfasser und Herausgeber dieser Seiten, sich zu Wort zu melden. Hier soll unsere zweite Stellungnahme zu Scheil gebracht werden, die auf HSoz&Kult nicht mehr zur Veroeffentlichung gelangte. Sie wurde am 19. Mai 2002 verfasst.


In seiner erneuten Wortmeldung verlagert Stefan Scheil seine Argumentation vom gesamteuropäischen Kontext und von der damit verbundenen Beachtung der Menschenrechte in einen anderen, diesmal eher geschichtsfaktischen Kontext, der sich jedoch vom vorherigen qualitativ überhaupt nicht unterscheidet, weil weiterhin vom Tenor einer Auf- und Abrechnungsmentalitaet bestimmt, welche die historische Relevanz von Ursache und Wirkung, von Aktion und Reaktion bei der Konfrontation zweier Gruppen, hier der (Sudeten)Deutschen und der Tschechen, recht eigenwillig umkehrt bzw. zugunsten der ersteren umzudeuten versucht. Scheil kontextualisiert also, doch recht sprunghaft und am eigentlichen historisch-faktischen Kontext vorbei. So nimmt es nicht Wunder, dass er entgegen Fahlbusch u.a. den Nachweis zu erbringen glaubt, es habe in der �von Fahlbusch und anderen behaupteten Form� keine �Verbindung der �Transferplaene�  zu NS-Kriegsverbrechen� gegeben. Scheils sonderbare Kontextualisierung samt Kontextualisierungstechnik verfaehrt nach dem unhistorischen Prinzip, einwandfrei belegte Kausalstraenge durch die Postulierung von Zaesuren zu zertruemmern. Ein effektives Mittel dieser Verfahrensweise ist, die ursaechlichen Zusammenhaenge in keiner Weise zu hinterfragen, aber trotzdem vorgefertigte Antworten parat zu haben. Warum versaeumt es Scheil, die Ursachen der Benesch-Dekrete, die Beweggruende zu nennen? Warum erlaeutert er nicht, was die Siegermaechte des Ersten Weltkriegs dazu veranlasste, dem zwar auf demokratische Weise zum Ausdruck gebrachten Wunsch der Sudetendeutschen nach Anschluss an die Weimarer Republik nicht Statt zu geben? Scheil bedient ausschließlich das Argument des �Selbstbestimmungsrechts für die Sudetendeutschen�, verliert aber kein Wort ueber das Selbstverstaendnis der nach dem Zerfall der oesterreichisch-ungarischen Monarchie entstandenen Nationalstaaten wie die Tschechoslowakei. Scheil laesst ausschliesslich den  damaligen und heutigen sudetendeutschen Standpunkt gelten, vergisst aber, dass es im damaligen und auch im heutigen Selbstverstaendnis Tschechiens und des tschechischen Volkes unannehmbar war, einer nationalen Minderheit einen Freibrief zur Zerstueckelung des muehsam erkaempften eigenen Nationalstaates auszustellen.

Alle Argumente, die seiner von Gesichtspunkten (sudten)deutscher Zentriertheit bestimmten �Kontextualisierung� widersprechen oder diese gar widerlegen koennten, kehrt Scheil einfach unter den Tisch. So auch das massgebliche und gewichtigste, das die eigentliche Ursache der deutsch-tschechischen Animositaeten erklärt. Jenseits der Auseinandersetzung zweier Voelker handelte es sich doch um die Unvereinbarkeit zweier Prinzipien, die hier aufeinander prallten und gezwungenermassen in einer Sackgasse muenden mussten: das alldeutsch-pangermanische und das nationalstaatliche Prinzip, wobei letzteres auch international anerkannt und als solches auch von den Alliierten des Ersten Weltkriegs vertreten wurde. Und die Nazis hatten bereits seit ihrer parteimaessigen Zusammenfassung die Beseitigung des nationalstaatlichen Prinzips zugunsten des deutsch-voelkischen zu ihrem obersten Kampfziel erklaert. Dass die Westmaechte das sudetendeutsche Abstimmungsergebnis nach internationalem, nicht nach deutsch-voelkischem Recht behandelten, dass die Sudetendeutschen durch ihre Umtriebigkeit das internationale Voelkerrecht im Namen ihres einseitigen deutschvoelkischen Rechtsverstaendnisses wiederholt verletzten, dass die nationalen Interessen der Tschechoslowakei durch das internationale Staatenrecht abgesichert war, das ist fuer Scheil kein Thema. Ebenso nicht, dass das sudetendeutsche Auftreten bis 1938, das sich durch beschleunigte NS-Radikalisierung auszeichnete � vgl. dazu wie die von der Tschechoslowakei angeblich gegen die Sudetendeutschen gefuehrte Gewaltpolitik in der NS-Presse der Siebenbuergendeutschen oder in der Wiener Zeitschrift �Nation und Staat� vor 1933 und danach registriert wird - sich zwar auf das europaeisch anerkannte Minderheitenrecht berief, seinen �Widerstand� gegen den tschechischen Staat aber laengst nicht mehr in minderheitenrechtlicher, sondern in pangermanisch-nationalsozialistischer Stossrichtung fuehrte. Die Sudetendeutschen hatten also die Behandlung als nationale Minderheit durch eigenes Zutun, durch eigenes Verschulden verwirkt. Deshalb ist es nur verstaendlich, dass die tschechoslowakischen Behoerden und die Westmaechte das von den Sudetendeutschen getriebene Spiel falscher Staatsloyalitaeten als solches erkannten und dass sich die Tschechoslowakei mit den Mitteln, die einem souveraenen Nationalstaat zur Verfuegung stehen, dagegen zur Wehr setzte.

Scheil wendet sich auch gegen die damalige Bezichtigung der Sudetendeutschen als �Verraeter� und �Verbrecher�. Nun, ganz nuechtern betrachtet: wie sollte man Menschen nennen, denen die Zusammenfassung der Deutschen in einen einzigen Flaechenstaat oberstes Gebot und Ziel war, nicht der Fortbestand des Landes, dessen Staatsbuerger sie de facto waren? Menschen, die den Bestand des tschechoslowakischen Nationalstaates in Frage stellten, dann den Anschluss ihres Siedlungsgebietes ans Hitlerreich in ueberwiegender Mehrheit begruessten und schliesslich der expansionistischen und voelkervernichtenden Reichspolitik als Handlanger dienten?

Es leuchtet also ein, dass die Sudetendeutschen mehrheitlich das Recht als normale, in die tschechoslowakische Republik eingliederungsbereite nationale Minderheit in drei Stufen  verwirkten: vor 1938, dann mit dem Anschluss ihres Siedlungsgebietes ans Deutsche Reich und schliesslich durch ihr bedenkenloses Zutun waehrend der NS-Besatzung. Es leuchtet ferner ein, dass das Minderheitenrecht, so wie es Scheil als pro-sudetendeutsches Argument einsetzt, aus den eben genannten historischen Umstaenden nicht zum Tragen kommen kann. In diesem Kontext gewinnen die juengsten Aeusserungen des tschechischen Ministerpraesidenten Zeman ueber den Verrat als Beweggrund der Vertreibung eine greifbare und verstaendliche Grundlage.

Scheil verbittet sich des weiteren , unter Verwendung quasi-juristischer Argumente, die Kausalkette zwischen NS-Verbrechen und den Benesch-Dekreten. Er verkennt dabei, dass nicht nur die intellektuelle Dimension, sondern auch die Geschichte ueber Ironie verfuegt. Es gilt naemlich im Fall der Sudetendeutschen die Ironie, dass auch sie, die sich als Angehoerige der Menschengruppe, die sich in arrogant-exklusivistisch-diskriminierender Absicht von allen anderen sprachlich definierten Gruppen (=Voelker oder Minderheiten) abkapselte, in ein fingiertes Herrenmenschentum gegen die slawischen Tschechen versteigerten, nun durch die Benesch-Dekrete und deren praktische Umsetzung genau den Kriterien und Gesichtspunkten unterworfen wurden, die sie jahrelang bedenken- und skrupellos, im fanatisierten Rechtschaffenheitsglauben ihres Deutschzentrismus Zigmillionen Europaeern als sogenannte �Neuordnung Europas� mit verbrecherischer Energie aufzwingen wollten. Es bewahrheitete sich nämlich der Spruch �Wer Wind saet, wird Sturm ernten�, in der Weise, dass die bisherigen Peiniger nicht mehr andere Voelker zum Opferaltar fuehren konnten, sondern nun selber die Rolle der Opfer auf sich nehmen mussten.

Dieser Vorzeichenwechsel von selbsteingebildeten, ewigen Siegern in Besiegte und zur Disposition stehende Opfer, der fuer die Sudetendeutschen und fuer alle aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen gilt, dieser Entwicklung und Erkenntnis verweigert sich Scheil durchgaengig. Auch dieser Aspekt seiner A- und antikontextualisierung haelt den historischen Tatbestaenden nicht stand.


Vergleich auch:

"Kontextualisierung", das neue Spielzeug der suedostdeutschen Geschichtsforschung
oder
Der wissenschaftliche Unwert ressentimentkultureller "Gewissheiten"


Datei: Dimension10-Scheil.html                Erstellt: 21.07.2002   Geaendert: 08.04.2006   Autor und © Klaus Popa


 
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