PRUSSIA

Gesellschaft für Heimatkunde Ost- und Westpreußen e.V.

Dr. Walter T. Rix

Theodor von Schön - Preußens konservativer Revolutionär.


In der Diskussion um Preußen werden allzu oft nur bekannte Argumente bewegt. Während die Fürsprecher der preußischen Staatsidee immer wieder die Bedeutung des Staatsethos herausstellen, vermögen die Gegner in Preußen letztlich nichts anderes, als den Hort eines restaurativen Militarismus zu erblicken. Die Begrenzung beider Perspektiven hat über wesentliche Aspekte hinwegsehen lassen. So wird die Bedeutung eines Mannes, der sich nicht ohne weiteres in die vorherrschenden Denkmuster einfügt, in der gängigen Sichtweise nicht angemessen gewürdigt. Nur ein kleiner Kreis fachkundiger Historiker weiß bislang um die herausragende Rolle dieses Mannes. Aber selbst die Forschung hat noch umfangreiche Archivalien aufzuarbeiten, ehe sie in der Lage sein wird, ein adäquates Bild zu zeichnen.

Der am 20 Januar 1773 in Schreitlaugken im Kreis Tilsit geborene Theodor Heinrich von Schön studierte zunächst in Königsberg Rechts- und Staatswissenschaften und trat 1793 in den preußischen Staatsdienst ein. Entscheidend für seine geistige Entwicklung wurde ein einjähriger Studienaufenthalt in England. 1802 Rat im preußischen Generaldirektorium, wurde er der engste Mitarbeiter des Reichsfreiherrn vom Stein und zugleich dessen politischer Weggefährte. Als rechte Hand, und teilweise sogar als Vordenker Steins, hatte er maßgeblichen Anteil an den Reformgesetzen zur Bauernbefreiung und zur Städteordnung. Das wegweisende politische Testament Steins trägt unverkennbar seine Handschrift. Nach dem von Napoleon betriebenen Sturz Steins wurde er Staatsrat im Innenministerium und 1809 Regierungspräsident von Gumbinnen. Als Generalgouverneur der Länder östlich der Weichsel und als Organisator der Landwehr war er es, der die Erhebung der Landstände gegen Napoleon einleitete und damit die Weichen für den Wiederaufstieg Preußens stellte. 1816 wurde er Oberpräsident von Westpreußen und 1824 der gesamten Provinz Preußen, ab 1840 in der Funktion eines Staatsministers. Nach dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm 1V. verfaßte er anonym die für die damalige Zeit revolutionäre Schrift „Woher und Wohin?"; in der er entschieden für die Repräsentatividee eintrat und die Einberufung sogenannter Generalstände forderte. Das Bekanntwerden seiner Verfasserschaft führte 1842 schließlich zu seiner Entlassung.

Die Biographie v. Schöns ist damit in vielfacher Hinsicht eng mit entscheidenden Abschnitten der Geschichte Preußens verknüpft. Sein Werdegang vollzieht sich ausschließlich unter dem Einfluß der preußischen Staatsidee, so daß er praktisch zu deren Träger wird. Aber so wie sich Preußen in der Zeit v. Schöns mit Ideen auseinandersetzen muß, die seinen Grundsätzen zuwiderlaufen, so sieht sich auch v. Schön Ideen gegenübergestellt, die nicht ohne weiteres in sein Weltbild passen. In der Weise, wie es ihm gelingt, aus diesem Spannungsfeld heraus eine zukunftsgerichtete politische Vorstellung zu entwickeln, gleicht er als Person dem politischen Vermögen des Staates, dem er dient, nämlich aus einer existentiellen Krisensituation heraus ein modernes Staatswesen zu schaffen. Der Zusammenbruch Preußens unter dem Napoleonischen Druck ist die große Stunde der Bewährung für v. Schön als Politiker, so wie es die entscheidende Stunde der Bewährung des preußischen Staates ist.

Mit einzigartiger intellektueller Energie und ungebrochener Leidenschaft machte er sich an die Wiederherstellung des Staates. Er ließ sich dabei im Bunde mit Stein und Hardenberg von seiner politischen Vision leiten, die nach dem damaligen Verständnis durchaus Züge des Revolutionären trug. In vielem gelang es ihm, das wiederzuerweckende Staatswesen nach seinem Bilde zu formen. Doch zugleich erwuchsen ihm auch Widerstände, die sich aus den überkommenen Strukturen ergaben und die Grenzen der Möglichkeiten der preußischen Staatsidee aufzeigten. Insofern kann man den politischen Lebensweg v. Schöns als Ausdruck der Möglichkeiten sowie der Grenzen des Staates Preußen und dessen Geisteshaltung sehen und werten. In v. Schön begegnet uns einer der schärfsten Kritiker bestimmter Erscheinungen Preußens, der zugleich aber mit seiner ganzen Seele Preuße war. Dieser Sachverhalt läßt sich mit dem Begriff des "konservativen Revolutionärs" umschreiben, wie ihn auch sein bis zuletzt ungetrübter Glaube an die Macht des Verstandes als "romantischen Rationalisten" ausweist.

Der Mensch

Handlungen und Äußerungen v. Schöns weisen ihn ausnahmslos als Menschen aus, der sich allem Philosophischen und Wissenschaftlichen gegenüber aufgeschlossen zeigte. Diese ausgeprägte Geistigkeit führte jedoch nicht zu einer brüchigen Intellektualität, sondern verband sich in glücklicher Form mit wirklichkeitsbezogener Tatkraft. In seltener Weise vereinigte er den Theoretiker und Praktiker in sich. So konnte er sich in die luftigen Höhen philosophischer Theorien erheben und gleichermaßen auf festem ostpreußischen Boden bewegen. Kenntnisreiche Ausführungen über das englische Staatsverständnis veranschaulichen die theoretische Seite seines Wesens. Der Ankauf von mehr als 12.000 Merinoschafen in England und deren Aufteilung auf kränkelnde landwirtschaftliche Betriebe in Ostpreußen verrät gleichzeitig seine praktische Seite. Nach seiner Verabschiedung aus dem Staatsdienst war es für ihn keinerlei Gegensatz, einerseits mit der gelehrten professoralen Welt der AlbertusUniversität, mit den nach Freiheit dürstenden Studenten und mit den liberalen Theoretikern des Königsberger Bürgertums engen Kontakt zu pflegen und andererseits sich als Vorsitzender des "Ostpreußischen Landwirtschaftlichen Centralvereins" für ganz konkrete Neuerungen einzusetzen.

So sehr sich v. Schön als Organisator des militärischen Widerstandes gegen Napoleon auszeichnete, so entscheidend er auch an dem Aufbau der preußischen Landwehr mitgewirkt hatte, so reserviert erhielt er sich prinzipiell gegenüber dem Militär. Mit höheren Offizieren gab es laufend Reibungen, da er nicht gewillt war, dem Militär irgendwelche Vorrechte einzuräumen. Gelegentlich verstand er es, dem überzogenen militärischen Ehrgefühl das entschiedene Selbstwertgefühl des preußischen Staatsdieners entgegenzustellen.

Alle materiellen Vorteile waren ihm verhaßt, und dort, wo er andere danach streben sah, widerte ihn dies an. Selbst führte er stets einen spartanischen Lebensstil; selbst als hochgestellter Beamter hauste er noch in einer bescheidenen Dachkammer. Mit großer Entschiedenheit setzte er sich jedoch immer wieder für die Verbesserung der Lebenssituation anderer ein. Das vom Vater ererbte Gut wurde von französischen Marodeuren geplündert, aber er lehnte eine staatliche Kompensation ab. Die Aufstellung der preußischen Landwehr unterstützte er aus seiner privaten Schatulle in einem Maße, das ihn fast in den finanziellen Ruin getrieben hätte. Er stellte höchste Ansprüche: an seine Beamten, mehr noch an den Staat und am meisten an sich selbst. Höchste Verpflichtung bedeutete für ihn aber auch Bereitschaft zur schärfsten Kritik.

Der Schüler Kants

Die von Minister v. Schroetter veranlaßten Studienreisen durch die deutschen Territorien und in England übten auf v. Schön eine nachhaltige Wirkung aus. Vor allem England vermittelte ihm entscheidende Anstöße für sein späteres staatsmännisches Denken und Wirken. "Erst England machte mich zum Politiker", bekannte er später. Dort nahm er die Ideen Adam Smiths auf, die ihm bereits durch Professor Christian Jacob Kraus, Begründer der Staatswissenschaft an der Universität Königsberg, nahegebracht worden waren. Vor allem aber erblickte er in England eine von staatlicher Bevormundung freie "Gesellschaft" - er gebraucht diesen Begriff tatsächlich -, die ihm in ihrer Verbindung aus aristokratischer Tradition und bürgerlichem Fortschritt die beste Gewähr für eine verständnisvolle Mitarbeit an den Aufgaben des Staates, wie er ihn verstand, zu bieten schien. Staat war für ihn eine 'Idee', die nichts mit seelenlosem Mechanismus zu tun hatte. Diese Vorstellung verbindet er mit der Ethik Kants, die ihm als Grundlage jeder Staatskunst galt. In der Anverwandlung des angelsächsischen Liberalismus, in der Übertragung dieses politischen Prinzips auf die spezifischen Verhältnisse des deutschen Bereichs und vor allem in der Vervollkommnung dieser Lehre durch die Verbindung mit den Grundsätzen Kants liegt die gewaltige denkerische, aber auch im Sinne der politischen Realität praktische Leistung v. Schöns. In diesem Sinne bezeichnet ihn Leopold v. Ranke als den "größten praktischen Schüler Kants".

Während Stein seine Staatsauffassung historisch fundiert, gründet v. Schön sie auf eine philosophische Basis. Als Kind der durch Kant vermittelten Aufklärung setzt er sein unerschütterliches Vertrauen in die sittliche Kraft der Persönlichkeit. Daraus folgt, daß alle Staatsangehörigen den Anspruch auf Freiheit haben. Mit Freiheit ist jedoch weniger die Verleihung eines Grundrechtes verbunden, als vielmehr die Erweckung stärkster sittlicher Antriebe. An der Umsetzung der Ideen Kants in reale politische Forderungen hat Fichte, mit dem v. Schön bereits 1791 in Königsberg zusammentrifft, beträchtlichen Anteil.

Indem v. Schön den Staat als "Lichtbringer in der Finsternis" begreift, erweist er sich ganz als Aufklärer, der in dem Staat die Vervollkommnung der sittlichen Anlagen des Menschen sieht. Damit hat der Staat den absoluten Vorrang gegenüber der Nationalität. Ein Staat kann mehrere Nationalitäten umfassen, aber er ist grundsätzlich die Überwindung der Nationalität. Nationalität rechnet zu den Resten des Naturzustandes, über den sich der Staat als organisierte Form des Geistes zu erheben hat. Die Verwirklichung der Nation durch den Staat, so wie sich diese Forderung im Gefolge der Französischen Revolution erhob, war v. Schön ein fremder Gedanke. Ebenso wendet er sich gegen den von Herder ausgehenden Begriff der Nation als zu sehr am Naturzustand angelehnt. Ein sich vom Staat lösendes Nationalgefühl betrachtet er als "politische Cholera", denn es war für ihn lediglich der feindliche, kulturwidrige Einbruch der Natur, den man durch Bildung zu überwinden hat.

Der Staat als 'sittliche Macht' war für ihn keine freischwebende Theorie, sondern die reale Voraussetzung geordneten Zusammenlebens und geschichtlich ordnende Kraft, die ein Volk erst entstehen ließ. Letztlich ging es ihm dabei um die Aufhebung der passiven Untertanenschaft und um die Überwindung des patrimonialen wie des bürokratischen Staates, um den lebendigen Zusammenklang von oben und unten, von König und Volk. Immer aber sollte der Staat als Bedingung der Kultur und als Voraussetzung höheren Lebens, als 'Idee' „das zu ihm gehörige Reale bestimmen".

Der revolutionäre Reformer

Das sich sittlich frei entfaltende Individuum mit dem Staat als Garanten der Vervollkommnung war also das Leitideal. Fraglos barg eine derartige Überzeugung ein revolutionäres Potential in sich. Selbst wenn sich v. Schön auch in keiner Weise als Revolutionär verstand, so setzten seine Vorstellungen jedoch Bestrebungen in Gang, die einen unverkennbar revolutionären Charakter annahmen. Die aus diesem Geist betriebene Politik verlief so lange reibungslos, wie sie sich parallel zur offiziellen Linie bewegte. Dies war teilweise der Fall in der Umbruchsituation der Freiheitskriege. Die politischen Anstrengungen gegen Napoleon zwangen zur Zusammenfassung aller Kräfte und überdeckten damit konträre verfassungsrechtliche Positionen. Ergaben sich jedoch Konstellationen, in denen die gegenläufigen Kräfte unübersehbar hervortraten, dann mußten die unterschwelligen Gegensätze aufbrechen und einem prinzipiellen Aufeinanderprall zusteuern.

Betrachtet man v. Schöns politisches Wirken aus dem Blickwinkel seiner weltanschaulichen Prämissen, so wird die Art seines Handelns deutlich. Sein Entwurf des Ediktes über die Bauernbefreiung von 1807 zielte ebenso wie das von ihm mitbestimmte Landeskulturedikt und die verschiedenen Gewerbeedikte auf die Freisetzung individueller Kräfte ab. Zwar hielt v. Schön stets daran fest, daß das Staatsideal im König verkörpert sei, aber mit seinen Maßnahmen strebte er grundsätzlich die Beseitigung von Hierarchien zugunsten des Nebeneinanders unterschiedlicher Kräfte an. In diesem Sinne trachtete er danach, den Zentralismus durch das gleichzeitige Wirken mehrerer Entscheidungsinstanzen aufzulösen. Nicht ein starrer Staatsapparat sollte von Berlin aus herrschen, sondern der Staat sollte durch das Wirken möglichst vieler eigenverantwortlicher Stellen mit Leben erfüllt werden. Bereits in dem großen ostpreußischen Landtag vom Februar 1813 erblickte v. Schön die ersten Ansätze einer repräsentativen Volksvertretung. Rückblickend schrieb er: "Dieser Landtag war eine Quelle des Geistes und der Kraft, Kant lebt noch, und nur weil er lebte, ist das Leben da."

Als die westpreußischen Kreisdeputierten 1817 in Danzig zusammentraten, nannte v. Schön dies offiziell den "ersten westpreußischen Landtag" und vertrat die Auffassung, hier liege bereits eine Provinzialvertretung vor, was beim Berliner Ministerium heftigsten Zorn und entsprechende Gegenreaktionen auslöste. Ähnliche Vorstellungen v. Schöns traten auch beim Wiederaufbau Westpreußens hervor. Abgesehen davon, daß 1815 eine administrative Neugliederung zum Abschluß kam, die in dieser Form bis 1918 Bestand hatte, läßt er sogenannte "Kunststraßen" anlegen und mehr als 400 Volksschulen einrichten. Dies entsprach seiner Vorstellung von der Pflicht des Staates, durch Erweckung und Ausbildung der sittlichen und geistigen Kräfte den einzelnen zum wirtschaftlichen Wettbewerb und zur Teilnahme an den staatlichen Aufgaben zu befähigen.

Um die insbesondere zwischen 1823 und 1827 in ganz Preußen herrschende Agrarkrise zu überwinden, verfolgte er eine Kreditpolitik, die ebenfalls von seinen liberalen Vorstellungen bestimmt war. Wenn das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis reguliert werden sollte, so mußte man von der Natural- zur Geldwirtschaft übergehen. Da der Großgrundbesitz jedoch unter Kreditnot und die Bauern unter Geldmangel litten, konnte dies nur durch die Freigabe des Bodens als disponibles Geschäftsobjekt geschehen. Theodor v. Schön erhoffte sich dabei aus dem freigegebenen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf die Entstehung leistungsfähiger landwirtschaftlicher Betriebe, die entsprechend den klimatischen und bodenmäßigen Voraussetzungen von mittlerem bis größerem Umfang sein mußten. In welchem Maße sich diese Vorstellungen durchsetzen konnten, geht aus der nach 1816 anlaufenden sogenannten Regulierungsgesetzgebung hervor, die erst Mitte der 30er Jahre zum Abschluß kam. Durch die Entfesselung der Privatinitiative nahm die landwirtschaftliche Nutzfläche (LN) in Ostpreußen schlagartig zu: 1815 waren 20,5% Ostpreußens LN, bereits 1849 war der Anteil auf 44,3% gestiegen. Allerdings leistete die weitgehende Liberalisierung des Bodens einer allmählichen Auflösung aller bisherigen menschlichen, arbeitstechnischen und wirtschaftlichen Bindungen Vorschub. Umfangreiche Zwangsverkäufe brachten einen großen Teil des adeligen Grundbesitzes in bürgerliche Hände.

1840 nimmt die Entwicklung revolutionäre Züge an und treibt auf eine Entscheidung zu. Friedrich Wilhelm III. hatte seinem gesamten Staate die Einführung einer landständischen Verfassung versprochen. Dieses Versprechen war jedoch nicht eingelöst worden. Nach seinem Tode setzte man große Hoffnungen auf seinen geistvollen Sohn Friedrich Wilhelm IV. und glaubte weithin an den Anbruch einer neuen Epoche freiheitlicher Umgestaltung des Staatswesens. Der Provinziallandtag in Königsberg bat den König daher am 10. September 1840 fast einstimmig um die Einführung einer Verfassung, ein Ansinnen, das v. Schön offiziell und nachhaltig unterstützte. Als der König den Wunsch zurückwies, antwortete v. Schön mit einer Schrift „Woher und Wohin? Oder der preußische Landtag im Jahre 1840". Es war dies ein Akt von ungeheurer Kühnheit: Einer der höchsten Staatsdiener tritt aus seiner weisungsgebundenen Rolle heraus und greift als Agitator mit einem politischen Pamphlet gegen den König in die Auseinandersetzung ein.

Die hierin enthaltenen Gedanken verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Das Ergebnis war ein politischer Eklat größten Ausmaßes. Dabei hatte v. Schön aufgrund der langjährigen Freundschaft mit Friedrich Wilhelm noch eine sehr gemäßigte Sprache gewählt. Ohnehin sah er die Wurzel allen Übels nicht im König, sondern in der Berliner Zentralregierung, die er, seit er Oberpräsident war, in steigendem Maße bekämpft hatte.

Die Öffentlichkeit war nicht mehr zur Ruhe zu bringen, und man identifizierte v. Schön weitgehend mit dem nach Veränderung drängenden revolutionären Geist. Besonders die akademische Jugend Königsbergs bejubelte derartige Vorstellungen. Eine studentische Lyrik, vertreten durch jugendliche Dichter wie Wilhelm Jordan, Albert Dulk und Rudolf Gottschall, zudem beeinflußt durch die Ideen des „Jungen Deutschland", rief in überschwenglicher Sprache zum Kampf gegen alle staatlichen Fesseln auf, und berief sich dabei auch auf v. Schön. Ungewollt war dieser damit zum Kontrahenten des Königs geworden. Es zeugt von der menschlichen Größe Friedrich Wilhelm IV., daß er in seiner Wertschätzung keine Abstriche machte und erst dem zweiten Entlassungsgesuch v. Schöns am 3. Juni 1842 entsprach. Es war ein demonstratives Bekenntnis, daß sich die Königsberger Burschenschaften einen Monat später vor der Arnauer Kirche versammelten und, begleitet von einer begeisterten Menge, einen Fackelzug durch das Dorf zu seinem Wohnsitz Preußisch-Arnau veranstalteten. Der Geehrte bedankte sich mit einer Rede über den Staat als Verkörperung der Vernunftprinzipien, immer wieder unterbrochen von zustimmenden Hochrufen. „Er sprach nicht laut", weiß ein Burschenschaftler zu berichten, „aber, was er sagte, das drang in unser aller Herz".

Der Geist als Lichtbringer

In einer Weise, wie sie für einen heutigen Politiker undenkbar wäre, hatte sich v. Schön geistigen und kulturellen Anliegen verschrieben. Dem romantischen Geschichtsinteresse seiner Zeit folgend, leitete er die Gründung der Altertumsgesellschaft "Prussia" ein und veranlaßte die erste archäologische Erforschung der Prußen. Nicht nur mit Studenten, seit sich diese im Hause von Kants Gesprächspartner Dr. Motherby versammelten, stand er in engem Kontakt, sondern mehr noch als Kurator der Universität mit Professoren. Zwar verhielten sich viele von diesen kleinmütig und gegenüber den Zeitereignissen geduckt, aber unter dem Einfluß v. Schöns bildete sich u.a. ein akademischer Lesezirkel heraus, durch den der neue Geist wehte. Zu den regelmäßigen Teilnehmern zählte auch Joseph von Eichendorff. Den Historiker Johannes Voigt regte v. Schön zur Erforschung der Ostkolonisation an, und den Orientalisten Peter von Bohlen bewog er zum Studium des Litauischen. Zusammen mit den Kunsthistorikern Karl Schnaase und August Hagen rief er 1832 den Königsberger Kunstverein ins Leben, der unverzüglich Caspar David Friedrich ausstellte und sogar schon Bilder von ihm erwarb. Die Einrichtung der Königsberger Kunstakademie geht im wesentlichen auf die Initiative v. Schöns zurück.

Scheint die leidenschaftliche Hingabe an das Prinzip der Vernunft letztlich romantischer Natur zu sein, so tritt die romantische Schicht im Charakter v. Schöns insbesondere in seinen Bemühungen um die Wiederherstellung der Marienburg hervor. Bis zu seinem Tode blieb sie ihm die eigentliche Weihestätte Preußens, und an ihr hing er mit geradezu religiöser Verehrung. In ihr sah er nicht nur das "Leben in der Idee", sondern auch die Einheit des alten Ordensstaates verkörpert.

1816 nahm v. Schön mit seinem Amtsantritt die Wiederherstellung der teilweise in Ruinen liegenden Anlage in Angriff, die 1842 genau mit seinem Abgang von der offiziellen politischen Bühne ihren Abschluß fand. Die mit seinem Abgang erfolgende Ernennung zum "Burggrafen von Marienburg" war eine Kompensation und gleichzeitig der Dank des Königs für die geleistete Arbeit. Damit übernahm v. Schön die Regelung aller mit der Marienburg zusammenhängenden Fragen. Nach seinem Rückzug fand er in der Amauer Katharinen-Kirche einen eindrucksvollen Sakralbau vor, der Stilelemente der Marienburger St. Annenkapelle wieder aufnimmt. Damit hatte sich in symbolischer Weise der Ring geschlossen.

Die Marienburg bildete ein bezeichnendes Bindeglied zwischen dem Ostpreußen v. Schön und dem Schlesier Joseph v. Eichendorff. Beide begegnen sich hier in einem kongenialen Raum. Am 1. März 1821 wurde v. Eichendorff von der Danziger Regierung als Regierungsrat eingestellt. Der Oberpräsident v. Schön und der Dichter v. Eichendorff müssen unmittelbar Gefallen aneinander gefunden haben, denn bereits kurz danach war Eichendorff der ständige Reisegefährte seines Dienstherrn. "Herzensfreund" nannte v. Schön ihn stets und hätte ihn gerne als einen Biographen gesehen. 1843 schrieb Eichendorff mit 'Die Wiederherstellung des Schlosses der deutschen Ordensritter zu Marienburg' eine Hommage an v. Schön, in der er darauf hinweist, daß dieser die Marienburg "gleichsam neu gegründet" habe.

Die Restaurierung dieser gewaltigen Anlage erklärt sich als östliches Pendant zur Restaurierung und Vollendung des Kölner Domes. Der Gedanke dieser Restauration enthält, ganz im Gegensatz zur aufklärerischen Haltung v. Schöns, nationale, aber auch ausgesprochen romantische Elemente, da diese Restauration literarisch ihre Parallele in der Volksliedbewegung hatte: Achim v. Arnim und Clemens v. Brentano betrieben nichts anderes als die Restauration der alten Volkslieder. Die Marienburg wurde zu einem weit nach Osten weisenden preußischen Denkmal, so wie der Kölner Dom ein nach Westen weisendes deutsches Nationaldenkmal wurde.

Bei aller Distanz im Weltanschaulichen, die der Katholik Eichendorff gegenüber dem Kantianer v. Schön wahrte, stimmte er mit ihm doch lebenslang in der zur Zeit der preußischen Reformen und der Freiheitskriege gewonnenen Einstellung überein, daß die Politik des Staates von 'Ideen' getragen sein müsse, welche eine Beteiligung des Volkes an der Regierung ermöglichen. Dabei dachten beide weniger an eine konstitutionell-parlamentarische als vielmehr an eine ständische Repräsentation.

Eichendorff wurde zu einem häufigen Besucher auf Preußisch-Arnau, dem Herrensitz v. Schöns, den dieser 1826 erworben und bezeichnenderweise mit einem Park im englischen Stil umgeben hatte. Es ist nahezu ein Wunder, daß das Gastzimmer Eichendorffs mit seiner ursprünglichen Täfelung auch heute noch erhalten ist. Der Staatsmann und der Dichter ergingen sich hier in lebhaften Gesprächen, die sich bis weit in die Nacht hinein erstreckten. Unter der Bezeichnung "Nachtgespräche" hat v. Schön hierüber Notizen angefertigt, die bislang noch nicht ausgewertet sind.

Die letzte Phase

Auch in seiner Amauer Zurückgezogenheit nahm v. Schön lebhaften Anteil an dem politischen Geschehen. Entschlossen hielt er an der Freundschaft mit dem König fest, die noch aus dessen Kronprinzenzeit und ihrem gemeinsamen Interesse an der Marienburg stammte. Insbesondere aus den letzten Jahren dieser Freundschaft liegt ein aufschlußreicher Briefwechsel vor. Nach der Revolution von 1848 schien es dazu kommen zu wollen, daß der bereits 75jährige endlich an die Spitze des Staates treten würde. Am 23. Mai 1848 wandte sich der König brieflich unmittelbar an v. Schön, der damals als Alterspräsident der preußischen Nationalversammlung in Berlin weilte, mit der Frage, ob er auf ihn rechnen könne. Am folgenden Tage wiederholte er seine Frage bei einer persönlichen Begegnung in Sanssouci. Aber v. Schön, der die Vorgänge der Märzrevolution mit höchster Spannung verfolgt hatte, hatte bereits am 12. April 1848 an Minister Brünneck geschrieben: "Nicht bloß Nachtwächter, sondern Nachtwächtergehilfe werde ich, wenn kein Besserer da ist, der im Notfalle für König und Vaterland sorgen kann". Zwar erklärte sich v. Schön dem König gegenüber dazu bereit, den Posten des Premierministers zu übernehmen. Mit Rücksicht auf sein hohes Alter schlug er jedoch vor, ihn zum Präsidenten des Kabinetts und des Staatsrats "ohne eigentliche Administration" zu bestellen, wobei er sich auf das Beispiel der englischen Staatspraxis berief. Der König schien mit diesem Vorschlag einverstanden, aber die Verhandlungen führten schließlich nicht zum Ziel. Die Gründe hierfür sind noch nicht erforscht. Sie könnten in den unterschiedlichen Auffassungen über die Stellung des preußischen Königs zu dem geplanten deutschen Kaisertum liegen.

Der Tod riß v. Schön am 23. Juli 1856 aus einem aktiven Leben. In der Familiengruft unmittelbar neben der Katharinenkirche in Arnau fand er seine letzte Ruhe. Das "Kuratorium Arnau e. V."  (Ihlendieksweg 20, D-22927 Schmalenbeck) hat sich der Pflege seiner Grabstätte angenommen und betreibt mit sichtbarem Erfolg die Restauration der Arnauer Kirche.

In der Person Theodor v. Schöns stoßen nicht nur Aufklärung und Romantik aufeinander, sondern in ihm begegnen sich auch Ost und West. Bewirkten der Einfluß des englischen Liberalismus und die Hinwendung zu englischen verfassungsrechtlichen Vorstellungen einerseits eine ausgeprägte Westorientierung, so zwingen ihn die politischen Ereignisse andererseits, sich auf den Osten und hier insbesondere auf Rußland einzustellen. Während seiner politischen Laufbahn reift in ihm die Erkenntnis, daß die Bedeutung Preußens auch in der Mittlerfunktion zwischen den westeuropäischen Mächten und dem russischen Reich liegt. Ihm gelang nicht nur die Versöhnung von Geist und Politik, sondern er vermochte darüber hinaus die Spannung zwischen Tradition und Fortschritt zu überbrücken. Damit steht er für die Entwicklungsfähigkeit des preußischen Staates und setzt ein in die Zukunft weisendes Beispiel.


Literaturhinweise


Unveröffentlichte Quellen:


Staatliches Archivlager Göttingen: Nachlaß Theodor v. Schön (Depositum Bruckner)

Bundesarchiv Koblenz

Archiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Staatliches Archiv/ Archiv des Landes Brandenburg, Potsdam Archiv Merseburg

Diverse Privatarchive

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